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Flucht aus der Ukraine: Rassismus an den Grenzen
„Bereits am Bahnhof in Kyjiv ist die Hölle ausgebrochen“, erzählt Alexander. Die Hölle, damit meint er Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen und People of Color, die in den vergangenen Tagen versuchten, aus der Ukraine zu fliehen. Auf Twitter berichtete Alexander Somto Orah, 25, Student aus Nigeria, als einer der ersten von den gewaltsamen rassistischen Vorfällen an den Grenzen. Vor etwa vier Monaten ist er nach Kyjiv gezogen, um Management an der Staatlichen Universität für Telekommunikation zu studieren. „Ich habe vor kurzem einen Sprachkurs in Ukrainisch absolviert und dachte, ich kann voll in die Uni reinstarten”, sagt Alexander im Interview. Dass russische Truppen von heute auf morgen einmarschieren könnten, hätte sich der junge Nigerianer nicht vorstellen können. Einen Tag nach dem Einmarsch russischer Streitkräfte beschließt Alexander mit Studienkollegen, die Ukraine Richtung Polen zu verlassen. In dem Moment, als er die ersten Bombeneinschläge hört.
Alexander Somto Orah konnte nach Warschau flüchten.
Als junger Schwarzer Mann kenne er zwar Alltagsrassismus, wie bei der Job- und Wohnungssuche, erzählt Alexander. Doch das, was ihn und seine jungen Schwarzen Freunde an den Grenzen auf der ukrainischen Seite erwartete, könne er bis heute kaum begreifen. Kinder und Frauen sollten zuerst durchgelassen werden, allerdings hätten die ukrainischen Beamt:innen und Soldaten bereits am Bahnhof in Kyjiv nur Flüchtende mit ukrainischer Herkunft passieren lassen. „Sie wollten afrikanische, indische oder arabische Frauen mit Kindern nicht die Züge betreten lassen. „Sind die etwa keine Menschen?“, rekapituliert Alexander die Konfrontation mit ukrainischen Soldaten. Erst nach größeren Protesten seien nicht-weiße Frauen mit ihren Kindern durchgelassen worden, die Männer seien geschlagen worden. Alexander erzählt, er selbst musste eine Nacht am Bahnhof verbringen, ehe er mit dem Zug nach Lviv fahren konnte. Tausende waren auf der Flucht, weswegen er es erst nach einem halben Tag zu Fuß bis an die ukrainisch-polnische Grenze schaffte.
„An der Grenze wurden wir aufgeteilt in Ukrainer und Nicht-Ukrainer, aber in meiner Schlange tat sich einfach nichts“, schildert der 25-Jährige, sichtlich erschöpft. Dass Menschen nach Hautfarbe aussortiert werden, erlebt Alexander zum ersten Mal.
„Wir hatten Angst, dass sie uns erschießen oder Menschen vor Erschöpfung sterben“, berichtet er von der Ungleichbehandlung seitens ukrainischer Grenzbeamt:innen. Nach ungefähr zwei Tagen schaffen der nigerianische Student und seine Freunde es über die Grenzen. Auf der polnischen Seite werden sie direkt mit Jacken, Lebensmitteln und Wasser versorgt, berichtet Alexander während des Telefongesprächs.
„Das sind gravierende Eingriffe in die Souveränität fremder Staaten”
Doch wie lassen sich Gewalt und Rassismus an der ukrainisch-polnischen Grenze und auf dem Fluchtweg im großen Kontext einordnen?
„Ich halte diese Vorwürfe für absolut glaubwürdig, mit dem Hintergrund, dass Interviews von verschiedensten voneinander unabhängigen internationalen Journalisten mit Betroffenen geführt worden sind, in denen die Diskriminierungsvorgänge an den Grenzen ähnliche Muster aufweisen“, sagt Menschenrechtsanwalt Blaise Francis Ndolumingo im Interview mit jetzt. Ndolumingo ist besonders auf Opfer rassistischer Gewalt spezialisiert und vertritt diese ehrenamtlich. Zusätzlich liegen ihm weitere Erfahrungsberichte von afrikanischen Student:innen aus der Ukraine vor, die mittlerweile in Deutschland angekommen sind.
Die rechtliche Bevormundung von weißen Geflüchteten gegenüber Geflüchteten aus Drittstaaten kritisiert Rechtsanwalt Ndolumingo scharf.
Diese Vorfälle decken sich mit den Erzählungen des nigerianischen Studenten Alexander Somto Orah, viele hätten dennoch auch rassistische Gewalt von polnischen Grenzschutzbeamt:innen erfahren. Durch Differenzierung zwischen Hautfarbe und Herkunft werde entschieden, wer aus- oder einreisen darf. „In einem speziellen Fall wurde ein afrikanischer Geflüchteter von einem ukrainischen Beamten sogar aufgefordert, die Ukraine gegen die russische Invasion zu verteidigen“, schildert Blaise Francis Ndolumingo die Erfahrungen eines jungen Mannes, der sich bei ihm meldete. „Aus rechtlicher Sicht ist das ein gravierender Eingriff in die Souveränität der afrikanischen Staaten, aus denen die Geflüchteten stammen“, ordnet der Rechtsanwalt ein. „Man möge sich mal vorstellen, ein deutscher weißer Staatsbürger macht in einem Gebiet Urlaub oder absolviert ein Studienjahr, ein Konflikt bricht aus und er wird dann genötigt, für eine fremde Nation in den Krieg zu ziehen, weil dies im Interesse des ausländischen Staates ist.“ Neben den Erfahrungsberichten afrikanischer Studierenden liegen Blaise Francis Ndolumingo die Berichte zahlreicher Augenzeug:innen vor, die Gewalt an BIPoC-Geflüchteten miterlebt haben.
„Einige Soldaten hatten Elektroschocker, andere Baseballschläger, mit denen sie auf uns eingeschlagen haben“
Dem marokkanischen Pharmaziestudenten Mehdi Daoued aus Kharkiv sitzt der Schock noch immer tief in den Knochen, seine Augen sind geschwollen, die Stimme zittert leicht, wenn der 22-Jährige über die Vorfälle an der ukrainisch-polnischen Grenze redet. Mit dem Taxi flüchtete er mit seinen Freunden nach Lviv. „Wir mussten die letzten 20 Kilometer bis zur polnischen Grenze zu Fuß gehen, weil Autoschlangen die Straßen blockiert haben“, beschreibt Mehdi die Flucht. Wo die Grenzen verlaufen, konnte Mehdi nur vermuten, weil dort seiner Beschreibung nach ukrainische Soldaten platziert waren und die Menschen in zwei Schlangen aufteilen – weiße Menschen und BIPoC. Lediglich Ukrainier:innen seien von ihnen durchgewunken worden. So, wie es auch Alexander berichtete. „Wir wurden angeschrien, beschimpft und geschlagen, ich habe die Welt einfach nicht mehr verstanden“, erzählt der Pharmaziestudent. Er wirkt aufgewühlt, wechselt zwischen Englisch, Französisch und Darija, das marokkanische Arabisch, während er spricht. „Einige Soldaten hatten Elektroschocker, andere Baseballschläger, mit denen sie auf uns Männer eingeschlagen haben. Ein Mann neben mir konnte nach den Schlägen gegen seine Beine nicht mehr aufstehen, aber wir konnten ihm nicht helfen“, beschreibt Mehdi mit zittriger Stimme die Situation.
Mehdi Daoued ist mittlerweile in Köln angekommen.
„Plötzlich stand ein ukrainischer Soldat mit einer Kalaschnikow vor uns“
Als andere junge Männer rund um Mehdi anfingen, die Gewalttaten mit den Handys aufzunehmen, schien die Situation kurz zu eskalieren, so Mehdi. „Plötzlich stand ein ukrainischer Soldat mit einer Kalaschnikow vor uns“, sagt der junge Student, mit den Tränen kämpfend. Dann versucht er, sich zu sammeln und erzählt weiter. Fünf Tage lang habe er gemeinsam mit anderen afrikanischen, arabischen und indischen Student:innen in der Schlange gestanden.Vorne an der Grenze angekommen, wurden sie wieder nach hinten geschickt. Kein Essen, keine Decken, Schlaf nur im Stehen, um nicht zu erfrieren. „Ich habe irgendwann zum Halluzinieren angefangen, weil ich diese Herzlosigkeit nicht begreifen konnte.“ Seine Freunde und er hofften auf einen sicheren Übergang. „Manche Soldaten haben uns angeboten, uns durchzulassen, wenn wir sie bezahlen, aber mit welchem Geld? Wir hatten nichts dabei“, erzählt er.
Nach fünf traumatischen Tagen wurden Mehdi und seine Freunde endlich durchgewunken und machten sich über Warschau auf den Weg nach Berlin, wo Kontaktpersonen sie bereits erwarteten.
„Die Ukraine wird als Sonderfall behandelt”
Die rechtliche Bevormundung von weißen Geflüchteten gegenüber Geflüchteten aus Drittstaaten kritisiert Rechtsanwalt Ndolumingo scharf: „Das Völkerrecht ist in weiten Teilen leider ein zahnloser Tiger. Natürlich sind laut der UN-Flüchtlingskonvention alle Geflüchteten gleich zu behandeln“, erklärt er. „Hier in diesen unorganisierten Situationen an den Grenzen jemanden zur Rechenschaft zu ziehen, ist juristisch nahezu aussichtslos.” Mittlerweile haben auch die Vereinten Nationen anerkannt, dass Geflüchtete an den Grenzen der Ukraine Opfer von Rassismus waren. Das bestätigte Filippo Grandi, hoher Flüchtlingskommissar der UN, kürzlich bei einer Pressekonferenz zur humanitären Lage in der Ukraine. Ob und wie Betroffene sich gegen Menschenrechtsverletzungen dieser Art wehren können, lässt sich laut Rechtsanwalt Blaise Francis Ndolumingo schwer beantworten. Für Rechtsverfahren müssen Name oder Dienstnummer vermerkt und die Anzeige vor Ort gestellt werden. Ein unmöglicher Akt in Gewaltsituationen zwischen Zivilist:innen und Beamt:innen. „Rechtlich gesehen sind die Menschen dieser Gewalt in solchen Situationen regelmäßig schlichtweg ausgesetzt”, sagt Ndolumnigo.
Mit dem Blick nach vorne
Momentan ist der Nigerianer Alexander Somto Orah in Warschau. Dort wartet er derzeit noch auf seinen Freund, bevor die beiden versuchen, in Deutschland Anschluss zu finden. „In der Zwischenzeit versuche ich anderen Schwarzen Menschen und Marginalisierten zu helfen, damit sie sicher über die Grenze kommen“, erklärt der Student seine jetzige Situation. Dennoch sucht er nach Möglichkeiten, um sein Studium fortsetzen zu können – am besten in einem Land, wo er kein begrenztes Visum hat. „Ich kann nicht mit dieser Angst im Nacken leben, ständig wegziehen zu müssen.“
Auch der 22-Jährige Mehdi möchte Anschluss finden. Mittlerweile ist er in Köln angekommen, verdaut die traumatischen Erlebnisse der vergangenen Wochen und versucht, nach vorne zu blicken. „Ich hoffe, dass ich das vergessen und mein Studium fortsetzen kann“, sagt Mehdi Daoued. „Ich bin einfach nur unendlich dankbar, am Leben zu sein.“