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„Drei Stunden lang wusste ich nicht, ob meine Eltern noch am Leben sind“

Ezgy, Seyran und Ekrem (v.l.) leben in Deutschland. Ihre Verwandten sind direkt von dem Erdbeben in der Türkei und in Nordsyrien betroffen.
Foto: privat; Bearbeitung: SZ Jetzt

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Das Erdbeben hat in der Türkei und in Syrien kaum vorstellbare Verwüstungen angerichtet. Es hat aber auch bei den Angehörigen, die in Deutschland leben, Spuren hinterlassen. Sie kennen die zerstörten Landstriche nicht aus den Nachrichten, sondern spielten dort in ihrer Kindheit oder zogen als junge Erwachsene durch die Kneipen und Bars der Städte. Drei Betroffene erzählen, wie sie die ersten Tage nach dem Erdbeben erlebt haben. Ekrem verlor durch das Beben seine Mutter, die zur Zeit der Katastrophe im Ferienhaus der Familie war. Ezgis komplette Heimatstadt ist zerstört worden. Seyrans Eltern wohnen in Afrin in Syrien. Bis heute ist bei ihnen keine Hilfe angekommen. 

„Ich kann nicht glauben, dass alles weg ist. Antakya hatte eine Seele“

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Foto: privat

Ezgi, 32 Jahre alt, kommt aus Antakya im Süden der Türkei. Im vergangenen Jahr heiratete sie einen Deutschen und zog im Dezember nach München.   

„Am Morgen des Erdbebens kamen auf meinem Handy hunderte Nachrichten an. Ich habe mich gewundert: Meine neue Nummer haben noch nicht so viele Menschen.  Dann habe ich gehört, was passiert ist.   

Meine Familie in Antakya hat zum Glück überlebt. Das Ding ist: Du fragst nicht wirklich, was an dem Tag passiert ist. Manche sprechen darüber, aber es ist auch ein Tabu. Ich habe eine Cousine dort, die wie eine Schwester für mich ist. Sie hat mir im Detail erzählt, was sie erlebt hat: Als sie vom Erdbeben geweckt wurde, hat sie ihre Kinder in Bettdecken gewickelt und einfach abgewartet. Sie dachte, dass sie das nicht überleben würde. Das dachte niemand.  Erst, als das Beben vorbei war, ist sie im Pyjama nach draußen in die Kälte gelaufen. Es hat geregnet und sie hat die Kinder gehalten. Die meisten anderen Menschen könnte ich nicht danach fragen, wie sie das Beben genau erlebt haben. Ihnen ist es fast peinlich, sich zu beschweren. Sie sind einfach froh, am Leben zu sein.   

Am ersten Tag war mein Handy wie festgewachsen in meiner Hand. Ich habe gar nicht mehr funktioniert. Erst habe ich nicht verstanden, was passiert ist. Dann habe ich gemerkt, dass es noch viel schlimmer ist, als ich dachte. Ich war frustriert, meinem Mann alles auf Englisch erklären zu müssen. Ich glaube, das war das erste Mal, dass wir Verständnisprobleme hatten, weil wir verschiedenen Kulturen angehören. Mittlerweile weiß er, was ich durchmache, und unterstützt mich, wo er kann. Seine ganze Familie tut das. Meine Schwiegermutter schickt mir aktuelle Artikel zum Erdbeben und hält mich über politische Entscheidungen in Deutschland auf dem Laufenden.   

Bis Hilfe vom Staat nach Antakya kam, war ein ganzer Tag vergangen. Also haben wir selbst versucht, über Social Media zu helfen. Ich habe eine Gruppe mit meinen engsten Freunden aus Antakya. Da regeln wir alles. Die Helfer konnten nicht überall gleichzeitig sein. Also haben wir versucht, Druck aufzubauen, indem wir Adressen und Vermisste gepostet haben. Wenn auf Social Media bekannt wird, wo noch jemand überlebt haben könnte, gehen Helfer hin und suchen. Einmal haben türkische Behörden Twitter abgestellt, während wir versucht haben, darüber Menschen zu finden. Das macht mich fassungslos.   

Als ich die Türkei verlassen habe, wusste ich, dass es für immer sein würde. Es war schwer für mich, mich hier einzugewöhnen. Jetzt gibt es keine Komfortzone mehr, in die ich zurückkönnte, wenn es mir schlecht geht. Manchmal wünsche ich, ich wäre in der Türkei zusammen mit Menschen, die das gleiche fühlen wie ich. Meine nicht betroffenen Freunde fragen mich oft, was sie für mich tun können. Ich weiß es nicht. Wenn ich wüsste, was hilft, würde ich es vermutlich selbst tun.  

Antakya hatte eine schöne Altstadt. Mein liebster Ort waren die Kneipen und Bars dort. Wir haben in Gärten in den Hinterhöfen gesessen und Raki getrunken. In so einem Garten wollte ich eigentlich heiraten. Manchmal schaue ich mir alte Dokumentationen über Antakya an. Ich kann nicht glauben, dass alles weg ist. Antakya hatte eine Seele. Es war so friedlich, das war besonders. Kurz nach dem Erdbeben bin ich mit dem Bus an einem Antakya-Imbiss vorbeigefahren. Normalerweise liebe ich es, von Antakya zu hören. Doch jetzt fühle ich nur Angst, wenn ich den Namen lese oder höre.“  

„Ich habe zwei Tage lang nicht geschlafen, weil meine Eltern es auch nicht taten“

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Foto: privat

Seyran, 34 Jahre alt, kommt aus Afrin im Nordwesten Syriens. Heute lebt sie in Berlin. 

  

„Drei Stunden lang wusste ich nicht, ob meine Eltern noch am Leben sind. Als das Erdbeben begann, lag ich nachts wach in meinem Bett – ich konnte nicht schlafen, wieso, weiß ich nicht mehr. Auf Facebook habe ich gesehen, dass es ein Erdbeben gab, und dass auch Afrin betroffen ist. Meine Eltern leben beide noch dort. Ich habe versucht sie zu erreichen, aber es gab kein Netz.   

Irgendwann haben mich Verwandte angerufen, die auch in Deutschland leben. Meine Eltern haben das Beben überlebt. Auch ihrem Haus ist nichts passiert, aber sie haben draußen abgewartet, aus Angst vor den Nachbeben. Als meine Mutter sich nach Stunden endlich bei mir gemeldet hat, klang sie ängstlich und unglaublich traurig.   

Ich habe zwei Tage lang nicht geschlafen, weil meine Eltern es auch nicht taten. Immer wieder gingen sie zurück in ihr Haus, um sich vor der Kälte zu schützen oder die Toilette zu benutzen. Dann sind sie wieder raus, zu den anderen Menschen, die ihre Häuser verlassen hatten. Auch Wochen nach dem Erdbeben kommen sie abends draußen zusammen und sitzen bis morgens im Freien, weil sie Angst haben, im Haus zu schlafen.   

Meine Eltern sehen jeden Tag so furchtbare Dinge. Ich habe Angst, dass sie das zu sehr belastet. Meine Mutter kommt aus Jindires, einer Kleinstadt, die im Distrikt Afrin am stärksten vom Erdbeben betroffen ist. Sie hat dort Verwandte verloren.   

Weil die Grenzübergänge zwischen der Türkei und Syrien trotz der katastrophalen Lage lange geschlossen waren, kam die Hilfe zu spät für die verschütteten Menschen in Syrien. Sie kommt auch heute nicht in jeder Stadt an. In Jindires werden viele Helfer gebraucht. Sie fahren nicht weiter in andere Städte. Dorthin wo meine Eltern wohnen, kommt niemand. Menschen leben in Häusern, die beschädigt und einsturzgefährdet sind. Trotzdem verlassen sie sie nicht, aus Angst, dass die Häuser von Fremden besetzt werden könnten. Tausende schlafen draußen in der Kälte.  

Ich weiß, dass die Türkei Hilfe von anderen Ländern bekommt. In Syrien kommt kaum etwas an. Ich lese überall, dass Syrien das ,vergessene Land‘ sei. Afrin wird seit 2018 von türkischen Streitkräften besetzt, in den vergangenen Jahren sind sehr viele Menschen von dort geflohen. Das macht alles sehr viel komplizierter. Der Wiederaufbau wird aus politischen Gründen verhindert. Es spielt bestimmt auch eine Rolle, dass wir kurdisch sind. In Syrien herrscht seit 2011 Krieg. Ich habe selbst sechs Jahre lang im Krieg gelebt. Viele Menschen haben mir gesagt, dass die Tage des Erdbebens schlimmer waren als all die Jahre Krieg.   

Ich sitze hier in Berlin und kann nichts tun. Wenn ich mit meinen Eltern telefoniere, gibt es nichts, was ich sagen könnte. Ich lebe als Geflüchtete in Deutschland und kann nicht nach Syrien reisen und sie besuchen. Am Tag des Erdbebens ist mir klar geworden: Wenn ihnen etwas passiert wäre, hätte ich sie vor sechs Jahren zum letzten Mal gesehen. Meine Eltern wollen Syrien nicht verlassen. Immer wieder überlege ich, wie wir es schaffen könnten, im gleichen Land zu leben. Wir gehören doch eigentlich zusammen. Einer von uns ist am falschen Ort. Vielleicht bin ich es.“

„Wir haben zehn Tote aus den Trümmern geborgen. Meine Mutter war die letzte“

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Foto: privat

Ekrem, 35 Jahre alt, ist in Ankara aufgewachsen. Seit zehn Jahren lebt er in Deutschland. Bei dem Beben verlor er seine Mutter, die neben ihm auf dem Foto zu sehen ist.

„Am Morgen des ersten Bebens hat mir mein Bruder geschrieben, dass unsere Ferienwohnung in İskenderun in Hatay eingestürzt ist. Er hat ein Youtube-Video vom Erdbeben mit Bildern von Google Maps verglichen. Das Haus, in dem die Wohnung ist, fehlte in dem Video. Unsere Mutter war zu der Zeit dort.   

Ich bin noch am gleichen Tag in die Türkei geflogen. Als ich ein Kind war, sind wir in den Ferien oft nach  İskenderun gefahren. Da habe ich auf dem Weg hinter dem Meer die Lichter der Stadt gesehen. Diesmal war es dunkel. Schwarze Wolken hingen über der Stadt und es hat gebrannt.    

An den Trümmern habe ich meinen Bruder getroffen. Er lebt in der Türkei und ist schon früher angekommen. Wir haben direkt nach meiner Ankunft in der Nacht angefangen, zu graben. Im Schutt lagen Gegenstände aus unserer Wohnung. Überall waren Fotos. Es hat angefangen zu hageln und wir mussten aufhören, um nicht krank zu werden. Es war sehr kalt, ich habe durchgehend gefroren. Menschen haben auf der Straße Feuer gemacht und auf Hilfe gewartet. Am nächsten Tag sind Baumaschinen gekommen. Wir wollten möglichst schnell vorankommen und gleichzeitig vorsichtig sein, um mit dem Bagger keine Überlebenden zu verletzen. Wir haben zehn Tote aus den Trümmern geborgen. Meine Mutter war die letzte. Sie hatte vorübergehend in unserer Ferienwohnung gelebt. Sie hatte dort die Auszeit vom Alltag in Ankara genossen.   

Als kleiner Junge habe ich aus der Wohnung raus auf den Platz geschaut und die Autos gezählt. Im Hintergrund waren die Berge. Das Klima war an diesem Ort wärmer, es hat anders geduftet. Das hatte etwas magisches. Seit so vielen Jahren kenne ich die Steine in den Mauern des Hauses. So oft habe ich sie betrachtet. Jetzt musste ich sie wegtragen. Mit Händen, die jetzt so viel größer sind als die des Jungen, der damals auf den Platz geschaut hat.   

Ich vermisse die Türkei sehr. Meine Mutter war meine Verbindung in das Land. Wir haben häufig telefoniert. Seit dieser Kontakt nicht mehr da ist, fühle ich mich hier in Deutschland noch fremder. Es fühlt sich so an, als sei das Leben von Ekrem, der bis zu seinem 25. Lebensjahr in der Türkei gelebt hat, beendet. Mein heutiges Ich hat damit nicht mehr viel zu tun. Jedes Mal, wenn ich in der Türkei ankomme, fühle ich mich wieder lebendig. Ich male mir oft aus, wie es wäre, wenn ich dortgeblieben wäre. Gleichzeitig sehne ich mich nach zwei Wochen in der Türkei auch wieder nach Deutschland. Migrant zu sein, ist für mich nicht leicht.   

Zwei Wochen lang war ich in der Türkei. Wir haben in Ankara eine Trauerfeier für unsere Mutter veranstaltet. Als ich nach München zurückgekommen bin, war ich erschöpft. Ich wollte nur schlafen und verarbeiten, was passiert war. Bei der Arbeit wurde mir vorgeworfen, ich hätte zu viel Urlaub genommen. Meine Freundin hat nicht akzeptiert, dass ich meine Ruhe brauchte. Ich habe mich viel isoliert. Freunde haben nachgefragt, wie es mir ging, aber ich kann erst jetzt richtig davon erzählen. Der erste Schock hat nachgelassen und ich merke, wie sehr meine Mutter mir fehlt.   

Eigentlich bräuchte ich gerade mehr Zeit in der Türkei. Jemand muss sich um das Grab kümmern. Ich muss darüber nachdenken, wie es für mich weitergeht. Was aus meiner Zukunft in Deutschland und aus meiner Sehnsucht nach der Türkei wird. In Gedanken erzähle ich meiner Mutter, wie schlecht es mir geht. Ich denke daran, wie viel Liebe wir uns gegenseitig gegeben haben, dann tut es weniger weh. “

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