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Proteste in Iran: Unsere Autorin kommt aus Iran und begegnet dem Aufstand mit gemischten Gefühlen
Sie hatten ihm Augen und Hände verbunden. Orientierungslos und verängstigt lief mein Onkel im Zelt umher, das die Revolutionsgarde im Gefängnishof aufgestellt hatte. Er war 14 Jahre alt. Seit Monaten war er eingesperrt. Islamische Fundamentalisten hatten Iran nach der Revolution 1979 fest in der Hand und mein Onkel wurde verhaftet, weil er im Frühjahr 1981 Flugblätter einer kommunistischen Jugendgruppe verteilt hatte.
Die Revolutionswächter ließen meinen Onkel so lange blind im Zelt umherirren, bis er gegen einen Samowar mit heißem Wasser stieß und sich den Körper verbrühte. Mein Großvater, den sie auch gefangen genommen hatten, hörte seinen Sohn nach ihm schreien. Er musste hilflos warten, bis seine Schreie verstummten.
Heute habe ich mit meinem Vater telefoniert. Aufgeregt sagte er mir, er höre Stimmen aus Iran, dass das Ende des Regimes nah sei. Seit fast einer Woche dauern die Proteste dort jetzt schon an. Mein Leben und das meiner ganzen Familie sind von dem Regime bestimmt worden, gegen das gerade demonstriert wird. Ich müsste mich also freuen, dass die Menschen gegen diese Diktatur auf die Straße gehen. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich denken soll.
Als ich vor ein paar Tagen zum ersten Mal davon las, war ich erst einmal nicht überrascht: Protestieren, das können die Iraner. Sogar mein Vater, der heute Tramübergängen aus dem Weg geht, weil er Angst vor der Kollision mit einer fehlgeleiteten Straßenbahn hat, hat sich 1979 für ein demokratisches Iran in den Kugelhagel gestellt. Und Grund zum Demonstrieren haben die Iraner auch heute noch. Weil Eier inzwischen praktisch zum Luxusgut geworden sind, kursiert der zynische Satz, dass ein iranisches Huhn zur Zeit mehr Wert erzeugt als ein iranischer Mensch. Lebensmittel werden immer teurer, in Apotheken sind die einfachsten Medikamente nicht zu haben. Jeder ist betroffen, je ärmer, desto schwerer. Zensur, Repression, Unfreiheit überall.
Ich bin 33 Jahre alt und kann seit zwanzig Jahren nicht nach Iran zurückkehren. Mein Vater ist politisch verfolgt und könnte nicht mal den kleinen Zeh über die iranische Grenze setzen, ohne sofort eingebuchtet zu werden. Als ich ein Jahr alt war, musste er Hals über Kopf aus Iran fliehen, meine Mutter und mich ließ das Regime erst ausreisen, als ich drei war. Meinem Onkel haben die Mullahs die Kindheit gestohlen. Wer als Dreizehnjähriger ein Jahr lang in ein Diktatoren-Gefängnis geht, kommt nicht als normaler Vierzehnjähriger wieder heraus. Meine Familie in Iran wurde auseinandergerissen. Und mit ihr unzählige andere iranische Familien. Wünsche ich mir also, dass dieses Regime stürzt? Oh ja. Aber ich habe auch Angst. Und bin wütend.
Ich habe Angst, dass das Terrorregime jetzt erst recht zuschlägt
Ich wünsche mir, dass Iran endlich von den islamischen Fundamentalisten befreit wird. Den Fundamentalisten, die meinen Onkel traumatisierten und meinen Vater hinrichten wollten. Die seit ihrer Machtübernahme unzählige Menschen inhaftiert, gefoltert und ermordet haben.
Ich habe Angst, dass die wenigen Freiheiten, die sich die Iraner in den vergangenen Jahren erkämpft haben, mit der Niederschlagung der Proteste wieder beschnitten werden. Dass der vorsichtige Reformkurs des iranischen Präsidenten Rohani den erstarkenden Hardlinern um Chamenei zum Opfer fällt. Dass das Terrorregime jetzt erst recht zuschlägt.
Und ich bin wütend, wenn ich die internationalen Reaktionen auf die Proteste sehe, vor allem aus den USA. Wütend, dass „mutige Iraner“ für viele Politiker anscheinend zum Codewort für ihre politische Agenda geworden sind. Die einen meinen damit das Ende des Atomdeals, die anderen wollen mehr Sanktionen, die restlichen sofort den Sturz des Regimes. Was für die Menschen, die in Iran leben, am besten ist, ist für sie zweitrangig.
Ich könnte kotzen, wenn Donald Trump von „guten“ und „großartigen“ Iranern schreibt. Dabei ist Trump nur weiterhin auf seinem „Ich muss alles was Obama gemacht hat anders machen“-Trip und will sich einen hübschen „Iran Regime Change“-Button ans Revers heften. Trumps Tochter Ivanka fühlt sich vom Heldentum der Iraner sogar „inspiriert“! Inspiriert wozu? Iranern an der US-Grenze für ihre Tapferkeit zu danken, bevor ihnen die Einreise verweigert wird?
Als Reaktion auf Trump und andere Politiker, die plötzlich „mutige Iraner“ lieben, hat der iranische Revolutionsführer Chamenei die Demonstranten gestern als „vom Ausland gesteuert“ bezeichnet. Die Forderungen der Iraner, das Regime solle aufhören, Terror im Ausland zu finanzieren und das viele Geld stattdessen für die eigene Bevölkerung ausgeben, braucht die iranische Führung jetzt nicht mehr ernst zu nehmen, weil die Demonstranten ja ausländische Agenten sind.
Würde die Islamische Republik heute zusammenbrechen, säße ich morgen im Flieger nach Teheran
Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass die mächtigen Revolutionsgarden und der Revolutionsführer wieder die Regie übernehmen. Gerade haben sie Zehntausende Regimeanhänger für sich demonstrieren lassen. Die Hardliner lassen ihre Muskeln spielen, und der Hinweis von Präsident Rohani, dass die Forderungen der Demonstranten gerechtfertigt seien und gehört werden müssten, verhallt ungehört. Wenn die Fundamentalisten diesen Kampf gewinnen, bleibt bestenfalls alles beim Alten.
Würde die Islamische Republik heute zusammenbrechen, säße ich morgen im Flieger nach Teheran. Ich würde zu meinem Großvater fahren, der 94 Jahre alt ist und nicht mehr reisen kann, und ihm ins Ohr schreien. Ich sehe ihn nur auf Skype, und er ist so schwerhörig, dass uns beiden nie etwas anderes übrig bleibt als immer die gleichen Sätze zu wiederholen. Ich würde ihm etwas anderes ins Ohr schreien als „Du fehlst mir, Opa“. Und dann würde ich jeden Winkel des Landes bereisen, in dem ich geboren wurde und dessen Sprache ich spreche und das ich doch nie richtig kennenlernen durfte.
Aber es sind nicht meine Wünsche, die jetzt zählen. Und auch nicht die von Donald Trump. Sondern die der vielen mutigen Iraner.