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Protest: Studierende in Wien besetzen Universität
Am 10. Dezember, kurz nach Mittag, versammelten sich die ersten Trauben von Studierenden vor der Technischen Universität in Wien. Auf den Fenstern des Hauptgebäudes hatte sich über Nacht Frost gebildet, es war ungewöhnlich windig. Doch die Kälte hielt die jungen Menschen nicht davon ab, ein Zeichen zu setzen. Für freie Bildung, für Chancengleichheit, für alle Studierenden in diesem Land. Im Chor riefen die rund 100 Demonstrant*innen immer wieder „Uns reicht’s!“, bevor sie wenig später durch die Türen in das Gebäude eindrungen. Security-Mitarbeiter versuchten, die Gruppe aufzuhalten und die Eingänge zu blockieren. Dabei wurde offenbar zimperlich miteinander umgegangen, einzelne Besetzer*Innen berichteten von Verletzungen. Trotzdem schaffte es die Gruppierung in den prestigeträchtigen Festsaal der Universität und besetzte ihn für die nächsten sechseinhalb Stunden. Und eines machten die jungen Menschen von Anfang an klar: sie würden erst gehen, wenn ihnen zugehört wird. Auch wenn das bedeutet, am Ende von der Polizei abtransportiert zu werden.
Die Gruppe fordert mehr Fokus auf Bildungsthemen statt Profit
Die Aktion erinnert an die Situation vor rund zehn Jahren, als mit „Uni brennt“ die bislang größte Protestbewegung an Österreichs Hochschulen begann. Damals demonstrierten zahlreiche Studierende wochenlang gegen die Beschränkungen des Hochschulzuganges. Seitdem ist viel passiert, für viele Studierende jedoch nicht genug. Aus einer Initiative von TU-Student*innen, die aufgrund des Platzmangels an der TU mehr Räume forderten, entstand vor wenigen Wochen das Kollektiv „Uns reicht’s“. Sie sehen sich selbst als partei- und uni-übergreifendes Bündnis, das sich für eine gerechtere Hochschulpolitik einsetzt und bereits mehr als 100 Unterstützer*innen hat. Zu den Forderungen des Kollektivs zählen unter anderem eine Aufstockung des Hochschulbudgets auf zwei Prozent des Bruttoinland-Produktes sowie das Ende von Zugangsbeschränkungen und Studiengebühren. Bildungsthemen sollten wieder in den Fokus der Politik rücken, nicht das Streben nach Profit. Aktuell schwankt der Semesterbeitrag allein in Wien zwischen 20 und 380 Euro pro Semester.
Vor allem auf sozialen Medien erregt die Gruppierung hohe Aufmerksamkeit. Auf Twitter hat Uns reicht’s mehr als 1000 Follower, obwohl der Account erst seit Anfang Dezember online ist. Unter dem Hashtag #wiederbrennen wurde hier auch auf die Kundgebung vom 10. Dezember aufmerksam gemacht. Von Anfang an war die Besetzung des Festsaals geplant, um die Öffentlichkeit auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen.
„Die Universitäten werden wie Konzerne geführt, die Studierenden kommen ganz zum Schluss“
Doch warum kocht der Protest ausgerechnet jetzt hoch? Tatsächlich könnte sich in der Österrichischen Bildungspolitik in den kommenden Monaten einiges tun: Seit mehreren Wochen führen ÖVP und Die Grünen Koalitionsverhandlungen, dabei geht es auch um die Zukunft der Hochschulen. Philipp Petrac, ein Sprecher von „Uns reicht’s“, sieht die Entwicklungen dort mit Sorge: „Die Infrastruktur, freie Bildung und die Qualität der Lehre haben nur noch eine untergeordnete Rolle an der Hochschule. Die Universitäten werden wie Konzerne geführt, die Studierenden kommen ganz zum Schluss.“ Wirtschaftliche Interessen zu befriedigen sei für die Hochschulen wichtiger, als ein funktionierendes Bildungssystem, meint Petrac. „Uns reicht’s“ hat einen Katalog erarbeitet, der neun Forderungen an die zukünftige Regierung enthält. Die ursprüngliche Idee war es, die TU Wien so lange zu besetzen, bis ein*e Regierungsvertreter*in die Forderungen angehört habe.
Daraus wurde allerdings nichts: bereits kurz nach der Besetzung versammelten sich Polizist*innen vor dem Festsaal und blockierten die Türen. Das Rektorat untersagte den Aktivist*innen jeglichen Verzehr von Lebensmitteln in dem Raum, da dies aufgrund der Hausordnung verboten sei. Dabei gab es bei der vorherigen Veranstaltung einen Catering-Service. Der Gruppe wurden Steine in den Weg gelegt, meint Julia Proksch, die an der Besetzung teilnahm: „Wir konnten anfangs nicht einmal auf die Toilette gehen, weil die Polizei uns danach nicht wieder in den Festsaal ließ.“
„In manchen Studiengängen herrscht nur noch Leistungsdruck und Konkurrenzkampf.“ In den sechseinhalb Stunden der Besetzung führten Philipp Petrac und ein Kollege aus der Gruppe drei Gespräche mit dem Rektorat. Darin bot TU-Rektorin Sabine Seidler an, einen Kontakt zu den entsprechenden Politiker*innen herzustellen. Jedoch erst, wenn die Studierenden den Festsaal verlassen hätten. Das Kollektiv lehnte den Vorschlag ab. Am späten Abend beantragte das Rektorat die Räumung. Die Polizei trug rund 70 Demonstrant*innen, die mittlerweile am Boden saßen und sangen, einzeln aus dem Saal. Das Bündnis kündigte kurz danach ein Wiedersehen auf Twitter an: „Heute ist nicht alle Tage. Wir kommen (bald) wieder, keine Frage!“
„Die Räumung der Studierenden ist symptomatisch dafür, wie Studierende in der Hochschulpolitik angesehen werden“
„Ich halte eine Besetzung für kein adäquates Mittel um einen Diskurs zu führen“, sagt Seidler auf Anfrage von jetzt. Sie habe versucht, die Besetzung, die ihr zufolge mit Gewalt einherging, konstruktiv aufzulösen, indem sie den Aktivist*innen den Saal als Ort des Diskurses angeboten habe. Die österreichische Hochschüler*innenschaft sprach der Gruppierung am folgenden Tag ihre Solidarität aus. Dora Jandl, ÖH-Vorsitzende, meint: „Die Räumung der Studierenden ist symptomatisch dafür, wie Studierende in der Hochschulpolitik angesehen werden. Wir sind Kund*innen ohne entsprechendes Mitspracherecht, kein Teil der Hochschule.“ Besetzungen wie jene seien unvermeidbar geworden, so Jandl: „Viele können es sich nicht mehr leisten, an Diskussionen in Seminaren teilzunehmen oder sich Zeit für eine Seminararbeit zu nehmen. In manchen Studiengängen herrscht nur noch Leistungsdruck und Konkurrenzkampf.“ Auch die Verbandsvorsitzende der Sozialistischen Jugend Österreichs und Nationalratsabgeordnete Julia Herr übt Kritik am derzeitigen Bildungssystem: „Wir leben in einer Zeit, in der junge Menschen ständig die Ellbogen ausfahren müssen. Wenn wir eine laute, kämpferische Hochschüler*innenschaft wollen, brauchen wir eine Gesellschaft, in der das akzeptiert wird.
Die Räumung schlug auch in sozialen Medien hohe Wellen. Denn ähnlich wie in Deutschland, wo eine Vorlesung des Ex-AfD-Politikers Bernd Lucke für eine grundlegende Diskussion über Meinungsvielfalt an Hochschulen sorgte, suchen auch österreichische Hochschulen derzeit ihren Umgang mit kontroversen Themen. So wurde Alice Schwarzer Anfang Dezember zu einem Vortrag an die Universität für Angewandte Kunst in Wien eingeladen. Die österreichische Hochschüler*innenschaft kritisierte Schwarzer daraufhin in einem Statement für ihre „antimuslimischen Positionen“ und forderte, der Feministin keine alleinige Bühne zu geben. Die Hochschulen plädierten folglich auf freie Meinungsäußerung, die Veranstaltung fand statt. Dora Jandl findet es ungerecht, dass dies Meinungsfreiheit bei der Besetzung eines Saals auf einmal endet: „Letzte Woche wollten alle noch universitäre Debatten. Wenn die Studierenden diese dann einfordern, werden sie von der Polizei eskortiert.“ Man messe mit zweierlei Maß. Rektorin Seidler betonte in der Vergangenheit, dass Universitäten Orte der freien Meinungsäußerung seien. Forderungen durchzusetzen, indem man sich gewaltsam Zutritt in Räume verschafft, hätte jedoch nichts mit einem Diskurs gemeinsam, so Seidler. Die Forderungen nach einem Bildungsschwerpunkt in der neuen Regierung sowie einem höheren Hochschulbudget unterstütze sie jedoch.
Trotz des universitären Widerstands will „Uns reicht’s“ seine Arbeit fortsetzen. Die Bundesvertretung der Hochschüler*innenschaft hat bereits den Beschluss gefasst, die Forderungen des Kollektivs in ihr Programm aufzunehmen und deren Umsetzung zu unterstützen. Am vergangenen Donnerstag überreichte das Bündnis den Forderungskatalog an Grüne-Politikerin und Koalitionsverhandlerin Sigrid Maurer. Der wohl zukünftige Kanzler Sebastian Kurz und die ÖVP haben hingegen bisher nicht auf den Vorfall reagiert. Damit das noch passiert, soll es weitere Protestaktionen geben, so Philipp Petrac: „Wir planen, wie und wo es weitergeht. Denn es wird weitergehen. Hoffentlich größer als zuvor.“