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"Ich ruinier' doch nicht für Erdoğan mein Leben!"

Collage: Veronika Günther

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Die meisten Gespräche beginnen mit Angst. "Können wir darüber bitte nicht auf Facebook schreiben? Man weiß ja nie…" schreibt eine junge Deutschtürkin. Oder: "Wir können schon reden, aber bitte nicht mit meinem vollen Namen", sagt ein junger Mann aus Izmir am Telefon. "Traitor", auf Deutsch "Verräter" ist das Wort, das dann am häufigsten fällt. Denn wer sich öffentlich kritisch über den türkischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan äußert, ist aus Sicht seiner Anhänger eben genau das: Ein Verräter. Und  Erdoğans Anhänger sind, zumindest wenn man die Wahlergebnisse von 2015 anschaut, in Deutschland und der  Türkei in der Mehrheit.

Dabei war die Ausgangsfrage bewusst offen formuliert: Was macht Erdoğans Politik, also der Beinahe-Putsch und die damit verbundene Verhängung des Ausnahmezustandes sowie der Rückruf aller staatlich beschäftigen Akademiker aus dem Ausland, mit eben jenen Türken, die sich derzeit im Ausland aufhalten? Denn auch wenn beispielsweise Erasmus-Studenten von diesem Rückruf bisher nicht betroffen sind - viele haben ihre Familie in der Türkei, planen ihre Zukunft dort. Was verändert sich für diese Menschen jetzt, wo Erdoğan den staatlichen Verwaltungsapparat "säubert", wie er es selber nennt?

Das Wort, das Cem (Name geändert) dafür verwendet, ist weitaus weniger freundlich. "Gehirnwäsche" sagt er dazu. Gemeinsam mit zwei Kommilitonen, einer Frau und einem Mann, sitzt er für das Gespräch vor einer Skype-Kamera in einem Computerraum. Was man über die verwackelten Bilder erkennen kann, sieht ein bisschen nerdig aus, immerhin sind die drei derzeit für ein Informatikpraktikum für mehrere Monate in Hessen.

 

Cem ist am Anfang Juli hier angekommen, also kurz nach dem Attentat am Istanbuler Flughafen und kurz vor dem Putschversuch. "Dass sich die Lage bei uns im Land verschlechtert spürt man schon seit einigen Jahren. In letzter Zeit war der Wandel nur besonders aggressiv", sagt Cem. Der Putschversuch am Abend des 15. Juli habe sie trotzdem überrascht: "Wir haben die Nachrichten gemeinsam in einer Bar gesehen. Und waren uns alle direkt sicher: Ein Putsch ist schlecht. Ein halber Putsch ist noch schlechter", erzählt Cem. Aus seiner Sicht hat ihn dieses Gefühl nicht betrogen: " Erdoğan nutzt den Putsch um alle kritisch denkenden loszuwerden und seine eigenen Leute von der AKP in den Ministerien zu installieren" sagt Cem. Kritik zu äußern oder zu protestieren würde dadurch immer schwieriger - der Staat sei ja automatisch auf der Seite des Gegners. "Der einzige sichtbare Protest ist mittlerweile der für  Erdoğan", sagt Cem. Tatsächlich bekommen die drei Studenten immer noch täglich SMS-Nachrichten, in denen der Präsident sie auffordert, für ihn auf die Straße zu gehen um Einheit zu demonstrieren." "Das wäre sicher interessant, hier in Deutschland dieser Aufforderung nachzugehen" sagt einer drei und kurz lachen sie auf dem pixeligen Skype-Bild. Es bleibt das einzige Mal. 

 

Bei einem renommierten Ideenwettbewerb in der Türkei hat nun ein Projekt gewonnen, bei dem man einer Pflanze den Koran vorliest, damit sie schneller wächst

 

Als Studenten im Praktikum sind die drei von der Regelung, dass Akademiker mit türkischen Arbeitgebern zurück kommen müssen, nicht betroffen. Trotzdem wird das Land, in das sie im Oktober zurückreisen, ein anderes sein: "Dann herrscht immer noch Ausnahmezustand. Und die Perspektive, zukünftig in der Türkei wissenschaftlich zu arbeiten, kann man auch vergessen" sagt Cem. Er erzählt dazu noch eine Geschichte, die er für repräsentativ für den immer stärkeren Einfluss der Religion auf das türkische Leben hält: "Bei einem früher sehr renommierten, türkeiweiten Ideenwettbewerb wurden in den vergangenen Jahren auf einmal alle Projekte abgelehnt, die irgendwelche Kooperationen mit dem Ausland erfordert hätten. Gewonnen hat am Ende ein Projekt, bei der man einer Pflanze den Koran vorlesen soll, damit sie schneller wächst. Auch die Idee, eine bisher als "Priesterpflaume" bekannte Frucht in "Imam-Pflaume" umzubenennen, wurde gefördert. Eines der abgelehnten Projekte wird jetzt stattdessen in den USA gemeinsam mit der NASA umgesetzt." In Anbetracht dieser Entwicklungen sagen alle drei Studenten, dass sie ihre wissenschaftliche und berufliche Zukunft auf keinen Fall in der Türkei sehen würden.

 

Mit dieser Haltung sind sie nicht alleine. Viele der Gesprächspartner für diese Recherche wurden über Begabtenförderungswerke oder die Deutschlandstiftung Integration akquiriert, wurden also von deutschen Kommissionen als förderungswürdig und leistungsstark beurteilt. Und egal ob der Deutschtürke, der in Harvard studiert hat, der Karlsruher Technik-Student oder die Münchner Masterstudentin -  sie alle erzählen, dass die Türkei für sie früher arbeitstechnisch eine Perspektive gewesen sei. Allerspätestens seit dem Putsch habe sich das erledigt. Die, die können, bemühen sich jetzt um die deutsche Staatsbürgerschaft. Alle anderen suchen nach Wegen, im Ausland zu bleiben. "Ich ruinier‘ doch nicht für Erdoğan mein Leben!" bringt es die 22-jährige Studentin Müge aus München auf den Punkt. Sie will später an der Universität lehren. In der Türkei gäbe es da für sie keine Perspektive. "Abgesehen davon: Selbst wenn ich momentan in der Türkei vielleicht noch keine Repressionen spüren würde – Erdoğan ist unberechenbar. Keiner weiß, wen er als nächstes als Bedrohung empfindet." Eine für diese Woche angedachte Reise nach Hause hat sie in Anbetracht der Ereignisse abgesagt. "Meine Familie konnte das gut nachvollziehen", sagt sie. Später entschuldigt sich Müge noch dafür, dass das Gespräch so hoffnungslos gewesen sei - sie habe derzeit einfach nichts anderes zu sagen.

 

Aber was bleibt dem Land, wenn alle gut ausgebildeten, kritischen Leute weggehen? Wenn niemand mehr da ist um sich gegen Vorgänge, mit denen offenkundig nicht alle einverstanden sind, zu wehren?

 

Den jungen Türken nun vorzuwerfen, nicht genug für ihr Land und ihre Demokratie zu kämpfen, ist zu einfach gedacht

 

Das Abwandern von Akademikern ins Ausland wird oft als "Braindrain", wörtlich übersetzt also "abfließendem Gehirn", bezeichnet. Auch wenn es jetzt natürlich noch zu früh ist, um die Auswirkungen des Putsches auf diesen Trend zu bewerten: Die Steigerungsrate der türkischen Wissenschaftler in Deutschland lag, mit Ausnahme der Doktoranten, in den vergangenen Jahren deutlich höher als bei allen anderen Nationalitäten. Und auch die Zahl der türkischen Erasmus-Teilnehmer in Deutschland hat sich innerhalb von fünf Jahren, von 2009 bis 2014, auf 2519 verdoppelt. Der deutsch-türkische Austausch wird seit Jahren massiv gefördert, manche träumten sogar von einem EU-Mitglied Türkei.

 

Zumindest der beidseitige Austausch könnte jetzt zum Erliegen kommen - die türkischen Mitarbeiter dürfen ja nicht mehr ausreisen und deutsche Wissenschaftler haben wiederum derzeit wenig Lust auf eine Einreise in die Türkei. Austausch- und Kultureinrichtungen wie der DAAD und das Goethe-Institut schlagen deshalb öffentlich Alarm. „Gerade in diesen Zeiten braucht die Türkei die Freiheit der Wissenschaft und einen offenen Dialog mehr denn je“, schreibt DAAD-Präsidentin Prof. Margret Wintermantel. Und der Braindrain? Wird eher zunehmen, zumindest, wenn man den vielen Gesprächspartnern glauben darf.

 

Den jungen Türken nun allerdings vorzuwerfen, nicht genug für ihr Land und ihre Demokratie zu kämpfen, ist zu einfach gedacht. Als Erdoğan-Kritiker derzeit in der Türkei zu leben, ist hart. Wer sich öffentlich negativ äußert, kann verhaftet werden, kritische Medien werden nach und nach eingestellt. Viele ziehen Vergleiche zu einer Diktatur, manche sogar mit dem Reichtagsbrand, der den Nazis den Weg zur faschistischen Diktatur ermöglichte. Für deutsche Ohren klingt dieser Vergleich natürlich, wie wohl jeder Hitlervergleich, hart. "Man muss sich mal vor Augen führen, dass Erdoğan gerade ernsthaft postuliert, rückwirkend die Todesstrafe einzuführen", sagt daraufhin einer der Gesprächspartner. Auch wenn er das als Propaganda abtut - seine Familien in der Türkei hat ihn gebeten, sich auch in Deutschland nicht mehr kritisch auf Facebook zu äußern. Er hält sich daran. Auch, weil Teile seiner Familie von dem Ausreiseverbot derzeit betroffen sind, er will die Lage für sie nicht noch weiter verschlimmern.

 

Was ist also die Lösung von all dem? Bei den meisten Interviewpartnern folgt an dieser Stelle Schweigen oder ein "Man kann nur abwarten". Interessanterweise ist es die junge Kurdin aus Bonn, die an dieser Stelle als einzige eine andere Antwort gibt. Vorher hatte sie erzählt, wie sie während eines Auslandssemesters in Istanbul wegen ihrer Herkunft pausenlos diskriminiert wurde. Wie sie aus ihrem Wohnheim geschmissen werden sollte und bei Uni-Protesten nach den Anschlägen von Ankara zusehen musste, als Kommilitonen von ihr brutal abgeführt wurden. Und trotzdem sagt sie: "Wir alle müssen raus aus der Opferrolle. Natürlich ist die Situation gerade schockierend und wir hätten aus der Geschichte mehr lernen sollen. Haben wir aber nicht. Also sollten wir jetzt alle einen Schritt von unseren individuellen Positionen zurücktreten und gemeinsam aktiv überlegen, was wir tun können." Sie selbst will bald wieder zurück in die Türkei und nach Kurdistan. Im Rahmen einer NGO Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und nach außen tragen. Weitermachen.

 

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