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Diskussion Nazihintergrund: Wie Deutsche bis heute finanziell von der Nazi-Vergangenheit profitieren
Manche Deutsche profitieren bis heute vom Nazi-Regime
Woher kommt eigentlich der Sessel, auf dem die eigene Urgroßmutter immer saß? Und welche Familie wurde früher mal aus der Altbauwohnung der Tante verdrängt? Die wenigsten Deutschen gehen davon aus, dass ihr Taschengeld, ihre Vintage-Möbel oder ihr Erbe durch Ermordungen oder Zwangsarbeiten, die 80 Jahre zurückliegen, in den Besitz der eigenen Familie gekommen sein könnten. Oder dass hippe Cafés und Kunstausstellungen ihr Startkapital aus Nazierbschaften haben könnten.
Darüber diskutierten Sinthujan Varatharajah und Moshtari Hilal vor mehr als einem Monat auf Instagram in einem Live-Talk. Die beiden konnten nicht damit rechnen, wie groß die gesellschaftliche Debatte sein würde, die sie damit auslösten. Varatharajah arbeitet als politische*r Geograf*in und Hilal als Künstlerin. Sie stellten sich in dem Talk die Frage, inwiefern die Nachfahr*innen von Deutschen bis heute Vorteile aus dem Nationalsozialismus haben, also eben etwa durch Erbschaften.
Als Beispiel für solche Erbschaften nannten sie die Galeristin Julia Stoschek und einen queerfeministischen Berliner Buchladen, der im Dezember 2020 eröffnet hatte. Emilia von Senger finanzierte das Geschäft „She said“ vor allem durch geerbtes Geld. Ihre Vorfahren hingegen waren Generäle in der Wehrmacht. Hätte es dazu mehr Transparenz geben müssen? Warum sprechen Deutsche generell offenbar nicht gerne über ihre finanziellen Verbindungen zur NS-Zeit? „Es ist leichter, abstrakt über Schuld zu reden, als konkret zu werden“, sagt Lilith (Name geändert*) von der queerfeministischen jüdischen Gruppe Latkes*Berlin. „Ich gehe eigentlich bei jeder Familienerbschaft in Deutschland erst einmal davon aus, dass es sich im weitesten Sinne um Nazigeld handelt.“
Deutsche konnten den Besitz jüdischer Menschen billig ersteigern
Hilal und Varatharajah benutzten in ihrem Talk deshalb den Begriff „Deutsche mit Nazihintergrund“. Also wie „Personen mit Migrationshintergrund“, nur andersherum. Der Ausdruck markiert diejenigen, die sich in Deutschland sonst als unsichtbare, neutrale Norm verstehen: christlich geprägte, weiße Deutsche ohne Einwanderungsgeschichte. Und der Begriff scheint genau diejenigen zu provozieren, die er benennt. In den vergangenen Wochen wurde in den Medien und den sozialen Medien heftig über den Talk debattiert, zunächst aber kaum über seinen Inhalt. Dabei ist es ein historischer Fakt, dass viele Deutsche sich im Dritten Reich extrem bereicherten – und so gut wie nichts zurückgegeben werden musste.
Das bestätigt auch Stefan Wilbricht. Er ist Historiker und arbeitet für das Projekt Dokumentationszentrum „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. „Die deutsche Bevölkerung hat von der Verdrängung profitiert, zum Beispiel von den Arisierungen: Besitzer und Teilhaber wurden aus den Firmen gedrängt oder die Inhaber*innen mussten ihre Firmen unter Wert verkaufen“, so Wilbricht. „Das Regime hat sich die Zustimmung in der Bevölkerung auch über Konsum erkauft.“ Deutsche konnten sich bei Versteigerungen den Besitz vertriebener, deportierter oder ermordeter jüdischer Menschen vergleichsweise billig einkaufen. „Die Menschen kamen auf einmal für einen Spottpreis an Dinge, an die sie vorher so nicht kamen“, sagt Wilbricht. „Wir finden sie ganz sicher bis heute in sehr vielen Haushalten, Reste von ganzen Zimmereinrichtungen bis hin zu unscheinbaren Gegenständen, wie einem alten Gehstock, den die Familie auf einer Versteigerung für drei Reichsmark gekauft hat.“ Die Möglichkeit, dass die Vintagetruhe im eigenen Zimmer aus einer derartigen Versteigerung kommt, ist also durchaus gegeben.
Den wenigsten Menschen ist ihre direkte Verbindung zu den Gewalttaten im Dritten Reich aber bewusst. Das liegt auch daran, dass viele Deutsche mit „Nazihintergrund“ wenige oder falsche Informationen über die eigene Familie haben. Studien belegen das: Eine repräsentative Befragung der im Auftrag der Stiftung Erinnern, Verantwortung, Zukunft ergab etwa, dass 18 Prozent der Deutschen glauben, ihre Vorfahren hätten „während des Zweiten Weltkrieges potenziellen Opfern geholfen.“ Damit liegen die allermeisten faktisch absolut falsch. Und schaut man sich etwa den Hashtag zur aktuellen Debatte an, fällt das Gleiche auf. Unter den Geschichten ihrer Vorfahr*innen, die Deutsche als Reaktion auf die Debatte unter #MeinNazihintergrund teilen, gibt es überproportional viele Erzählungen über „nicht wirklich in den Krieg involvierte“ Groß- und Urgroßeltern.
Informationen kann man etwa beim Bundesarchiv einholen
Um die eigenen historischen Privilegien zu verstehen und Verantwortung zu übernehmen, ist es deshalb nötig, mit der eigenen Familie zu sprechen. Gleichzeitig sind deutsche Familien aber eben oft keine zuverlässigen Quellen. Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bietet aus diesem Grund Seminare an, wie eine Recherche innerhalb der eigenen Familie aussehen kann, zum Beispiel über Entnazifizierungsakten in den Landesarchiven und die Spruchkammerakten im Bundesarchiv. Grundsätzlich kann jede*r einen Antrag beim Bundesarchiv stellen und Informationen einholen. Eine erste Anlaufstelle kann zum Beispiel Invenio vom Bundesarchiv sein. Auch Standesämter und lokale Archive können bei der eigenen Recherche nützlich sein.
„Bei der aktuellen Debatte um materielle Kontinuitäten geht es aber nicht nur um ganz akkurate Nachforschungen“, sagt Lilith* von Latkes*Berlin. „Vielmehr brauchen wir ein Bewusstsein dafür, dass Menschen mit Nazihintergrund strukturell von den Kontinuitäten profitieren.“ Das heißt: Selbst wer nicht groß geerbt hat, hat oft Vorteile daraus, dass die eigene Familie vom Regime unversehrt blieb und auf Kosten anderer geschützt war.
Denn nicht nur Firmen und Einzelpersonen haben bis heute Vorteile aus den Enteignungen, sondern auch Museen, Büchereien und Uni-Bibliotheken: „Viele Kunsthäuser haben bis heute in ihren Sammlungen Bestände, wo ,Herkunft unklar' dran steht“, sagt Wilbricht. Einige Studierende hatten für die eigene Hausarbeit also wahrscheinlich bereits ein gestohlenes Buch in der Hand. Dennoch ist es bei Gegenständen sehr schwer nachzuweisen, ob sie aus jüdischem Besitz kommen. Auch das hat System: Wilbricht berichtet zum Beispiel, dass die Schätzer*innen und Versteigerer*innen klare Anweisungen hatten, wie sie die Wohnung von deportierten Juden und Jüd*innen auszuräumen hatten. „Zum Beispiel sei darauf zu achten gewesen, dass alle Konten, Sparbücher und Wertpapiere einzuziehen sind.“ Oder es hieß: „Bilderrahmen sind zu versteigern, die Familienbilder sind zu vernichten, idealerweise zu verbrennen.“ Auch aus solchen Gründen es ist schwer, genaue Zahlen und Fakten zu dem Ausmaß der Enteignungen auszumachen.
In der aktuellen Debatte ging es am Ende eher darum, wer was zu wem sagen darf
Hilal und Varatharajah haben in ihrem Instagram-Talk auf die Allgegenwart der Profiteur*innen hingewiesen. Die Galeristin Julia Stoschek möchte sich auf Anfrage von jetzt nicht zu dem Talk äußern. Ein Sprecher verweist jedoch auf einen Eintrag auf der Homepage der Galerie, der die NS-Vergangenheit ihrer Familie thematisiert.
Die Buchladen-Besitzerin Von Senger dagegen stimmte dem Ansatz der beiden Künstler*innen, transparenter mit eigenen Privilegien aus Nazihintergründen umzugehen, öffentlich zu und erklärte in ihrem Statement, dass die Erbschaft für „She Said“ zwar aus einem anderen Teil der Familie stamme, aber sie versprach Aufarbeitung. Trotzdem, oder gerade deshalb, gibt es viele rassistische Elemente in dem Diskurs über die deutsche Schuld und das Nazigeld, eben auch um Varatharajah und Hilal und damit auch ihre Argumente zu delegitimieren. Varatharajah und Hilal wurden als Angreifer*innen des Buchladens dargestellt und in den sozialen Medien indirekt als undankbare Migrant*innen diffamiert. Auf ihren Accounts teilten sie rechte Hasskommentare, die sie als Konsequenz der Berichterstattung erhielten. In der medialen Debatte ging es am Ende also kaum um die Frage nach materiellen Kontinuitäten –sondern darum, wer was zu wem sagen darf. Über die eigenen Vorteile wird dagegen weiter geschwiegen.
Die Vorstellung, dass die eigenen Vorfahr*innen Verbrechen begangen oder passiv unterstützt haben und vor allem, dass man selbst davon einen Vorteil hat, mag zunächst schmerzhaft sein. An den menschenverachtenden Taten anderer Menschen, auch der eigenen Verwandten, kann man bei allem Verantwortungsbewusstsein nichts mehr ändern. An den materiellen Verhältnissen hingegen schon. Genau dafür gibt es Organisationen wie die Stiftung Zurückgeben. Die hat sich aus einer Nazierbschaft gegründet und setzt sich seit Jahren für die Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft ein.
„Es gibt eben auch jene, die vielleicht keine glühenden Nazis waren“
Varatharajas und Hilals Talk hat gezeigt, dass die Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus vielschichtiger sind als eine vereinfachte Einteilung in „Mörder“ oder „unschuldig“ erlauben würde. „Täterschaften sind komplex“, sagt auch Wilbricht. „Es gibt eben auch jene, die vielleicht keine glühenden Nazis waren – aber eine neue Stehlampe fanden sie dann schon etwas Schönes. Wir müssen uns klar werden, dass der Nationalsozialismus kein Ufo ist, das 1933 gelandet ist. Sondern ein Angebot, eine anschlussfähige Ideologie.“ Eine, die Rassismus, Antisemitismus und Gewalt gegen Sint*izze und Rom*nja als Grundlagen hat. Wilbricht sagt: „Da kann sich dann jede*r einzelne fragen: Wo fängt das bei mir selbst an? Tue ich selbst aktiv etwas, um dem entgegen zu wirken?“
*Lilith ist Teil der queerfeministischen jüdischen Gruppe Latkes*Berlin und möchte ihren eigentlichen Namen nicht öffentlich machen, um ihre Arbeit und Person zu schützen.