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„Und zu diesem deutschen Volk gehöre ich dazu?”

Foto: privat, Tobias Humm; Bearbeitung: jetzt

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Am Mittwoch hat ein schwerbewaffneter Deutscher versucht, die Synagoge in Halle zu stürmen. Dabei scheiterte er an der Sicherheitstür – ein Blutbad an den etwa 80 Gemeindemitgliedern in der Synagoge blieb vermutlich nur deshalb aus. Zwei Menschen tötete er dennoch. Wir haben mit jungen Jüdinnen und Juden darüber gesprochen, wie sie von der Tat erfahren haben. Und, ob man sich in Deutschland überhaupt noch sicher fühlen kann, wenn man jüdischen Glaubens ist.

 

„In den USA ist die jüdische Identität der zweite Vorname, in Deutschland ist das anders“

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Foto: Tobias Humm

Äneas Humm, 24, ist Opernsänger am Deutschen Nationaltheater Weimar

„Erst vor einer Weile habe ich damit begonnen, meinen jüdischen Glauben wieder zu finden. Meine Großeltern waren ungarische Juden, ich wuchs in der Schweiz auf, und lebe seit zwei Monaten in Thüringen. Gestern wollte ich von Weimar nach Erfurt in die Synagoge fahren, um Yom Kippur zu feiern und mich mit der mir neuen Gemeinde bekannt zu machen. Ich hatte schon meinen Anzug angezogen – denn an Yom Kippur macht man sich schick. Da kam ein Anruf von einem Freund. ‚Google mal Halle‘, sagte er. Das tat ich. Und dann bekam ich Angst. Halle ist nicht weit weg von Erfurt. Mir verging die Lust. Das war kein Feiertag mehr. 

In Deutschland trage ich meine Kippa nur sehr selten. In Weimar würde ich mich unwohl fühlen. Hier traue ich mich auch nicht, händchenhaltend mit meinem Freund durch die Straßen zu laufen. In New York, wo ich vorher gelebt habe, ist das anders. Dort leben viel mehr Juden und das Judentum ist Teil des normalen Lebens. In den USA ist die jüdische Identität der zweite Vorname. Da sagt man gleich: ‚Hey my name is Äneas and I’m jewish.‘ An dem Theater, an dem ich arbeite, habe ich es bisher mit kaum jemandem geteilt. Einmal, als ich einem Kollegen davon erzählte, dass ich jüdisch bin, meinte er: ‚Boah, du bist erst der zweite Jude, dem ich begegne.‘ Er war schon Mitte 30. Wie kann das sein?

Wenn Vorfälle wie in Halle passieren, fühle ich mich nicht mehr sicher. Gleichzeitig spüre ich den Zuspruch aus der Bevölkerung. Dass sich Angela Merkel gestern solidarisch mit den Juden gezeigt hat, ist ein wichtiges Zeichen. Wenn ich in Berlin an den vielen goldenen Stolpersteinen vorbei laufe, denke ich, die Deutschen haben aus ihrer Geschichte gelernt. Und ich hoffe, dass es auch wirklich so ist. Ich lasse mich jedenfalls nicht einschüchtern.“

„Ich weiß, dass es genügend Vorurteile gibt“

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Foto: privat

Klaudia, 33, arbeitet als Personalreferentin in Leipzig

„Ich bin Jüdin durch Geburt, denn meine Mutter ist Jüdin. Aber ich praktiziere den Glauben nicht. Über einige meiner Familienmitglieder, die gläubig sind, weiß ich, dass die Synagogen in Deutschland von der Polizei geschützt werden. Und in den letzten Jahren habe ich mich immer wieder gefragt: Krass, warum stehen die da eigentlich? Braucht es das wirklich noch? Seit gestern verstehe ich, warum. 

Meine Mutter stammt aus Russland und ist in den 80er Jahren nach Leipzig gezogen, wo sie meinen deutschen Vater geheiratet hat. Erst mit zehn Jahren habe ich von ihr erfahren, dass ich jüdisch bin. Sie sagte mir: ‚Erzähl es lieber niemanden.‘ Ich glaube, sie machte sich große Sorgen, dass mir das Jüdisch-sein einmal Nachteile bringen würde. Als es im Geschichtsunterricht um den Holocaust ging und um die Taten der Deutschen, dachte ich mir: Und zu diesem deutschen Volk soll ich dazu gehören? Da habe ich verstanden, dass ich mich mehr jüdisch fühle als deutsch. 

Ich habe wenige Berührungspunkte mit dem Judentum. Trotzdem weiß ich, dass es genügend Vorurteile gibt. Einmal, im Gymnasium, saß ich mit einer Freundin zusammen und irgendwann kam unser Gespräch darauf, dass meine Mutter aus Russland stammt. Da änderte sich ihr freundlicher Blick schlagartig und sie sagte fast vorwurfsvoll: ‚Oder seid ihr etwa Juden?‘ Diese Situation werde ich nie vergessen. 

Wenn ich einmal ein Kind habe, wird sich auch bei mir das Jüdisch-sein von der Mutter auf das Kind übertragen, und deshalb auch mein Kind eine jüdische Identität bekommen. Wenn es sich später als jüdisch verstehen möchte, werde ich es unterstützen. Wenn nicht, ist das auch okay. Aber auch wenn man das Judentum nicht aktiv praktiziert, sollte man jederzeit in Deutschland dazu stehen können. Vor allem nach der Tat in Halle. Jetzt erst recht.“

„Der Weg in die Flucht ist keine Option” 

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Foto: privat

Mike Delberg, 30, ist Repräsentant der Jüdischen Gemeinde zu Berlin

„Ich bezeichne mich als traditioneller Jude. Deshalb war ich auch zu Yom Kippur in einer Berliner Synagoge. Wie die meisten anderen hatte ich mein Handy ausgeschaltet, weil das Benutzen von Handys an diesem heiligen Feiertag verboten ist. Als ich es nach dem Gottesdienst angemacht habe, wusste ich, dass etwas geschehen sein muss – so viele Anrufe in Abwesenheit hatte ich sonst nie. Kurz darauf hatte ich Gewissheit, dass etwas Schlimmes passiert war.

Erst wenige Tage zuvor ist ein mit einem Messer bewaffneter Mann über die Absperrung der Neuen Synagoge in Berlin geklettert, und wurde danach zum Glück festgenommen. Da haben meine Freunde und ich gesagt: ‚Gott bewahre, dass nichts Schlimmeres an Yom Kippur passiert.‘ Berliner Freunde von mir sind am Feiertag nach Halle gefahren, um am Gottesdienst teilzunehmen. Das waren für uns alle schreckliche Stunden.

Jeder halbwegs sichtbar jüdische Mensch macht in Deutschland Erfahrungen mit Antisemitismus. In der Schule wurde ich mit dem Besenstiel geschlagen – der Lehrer hat nichts dagegen getan. Bei Gesprächen über Israel wird man als Jude verbal an die Wand gestellt und verantwortlich gemacht. Auf dem Schulhof spielte man ‚Judenfangen‘. Bis ich irgendwann die Schule gewechselt habe. Das war 2005 oder 2006. Seitdem ist der Antisemitismus noch heftiger und aggressiver als noch vor einigen Jahren. Das ist eine bedenklicher Trend, von dem ich nicht weiß, wie er sich entwickeln wird.

Ich bin kein streng-religiöser Jude und liebe es zum Beispiel, Currywurst zu essen, die nicht koscher ist. Wir Juden in Deutschland wollen keine Aufmerksamkeit. Wir wollen nur ein normales Leben führen. Und deshalb bleibe ich dabei: Der Weg in die Flucht ist keine Option. Deutschland ist meine Heimat, also werde ich auch nicht auswandern. Viele meiner Gemeindemitglieder trauen sich schon lange nicht mehr, die Kippa öffentlich zu tragen. Ich sage mir: Das Judentum ist mehr als Antisemitismus, Israel und Holocaust. Ich trage die Kippa überall, damit sie weiterhin Teil des Alltags in Deutschland bleibt. Privat. Bei der Arbeit. Auf der Straße.”

„Schon als Kind lernte ich, dass Juden von der Polizei geschützt werden müssen“

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Foto: privat

Daphna, 32, organisiert ein Filmfestival in Leipzig

„Ich saß gerade im Büro, als ich bei Twitter las, was in Halle geschehen war. Eigentlich versuche ich, solche gezielten Angriffe auf jüdisches Leben emotional nicht so sehr an mich herankommen zu lassen. Anschläge gibt es gegen Muslime, gegen Christen – der Hass richtet sich gegen uns alle. Trotzdem hat dieser Fall hat mich emotional sehr mitgenommen. Ich war geschockt und dachte: Scheiße, jetzt ist es also auch hier angekommen. 

Ich glaube nicht an Gott. Mein Judentum verstehe ich eher kulturell als institutionell oder religiös; die Feiertage sind für uns Familienfeste wie Weihnachten oder Ostern bei Christen. Alle meine Freundinnen und Freunde wissen, dass ich jüdisch bin. Schon als Kind lernte ich, dass Juden von der Polizei geschützt werden müssen. In Frankfurt am Main, wo ich aufwuchs, ging ich in einen jüdischen Kindergarten und in eine jüdische Grundschule. Die Polizisten vor den Eingängen gehörten eben zum Alltag dazu. Die diffuse Bedrohung ist immer da, wenn man jüdisch ist. 

Eine Jüdin erkennt man nicht so schnell am Äußeren etwa eine Muslimin am Kopftuch. Antisemitische Erfahrungen habe ich wahrscheinlich auch deshalb bisher nur einmal gemacht. Vor ein paar Jahren saß ich in der Straßenbahn, als ich mitbekam, wie eine Gruppe angetrunkener Jugendlicher sich gegenseitig beschimpfte. Sie sagten ‚Ey du Jude!‘ zueinander und das war wohl ihre schlimmste Beleidigung. Da bin ich aufgestanden und habe sie gebeten, aufzuhören. Aber sie hörten nicht auf. Noch schlimmer als die Sprüche der Jugendlichen fand ich die Reaktion eines Pärchens in meinem Alter, das direkt daneben saß. Nachdem die Jugendlichen ausgestiegen waren, sagten sie: ‚Stell dich doch nicht so an.‘ Für mich war das die krasseste Erfahrung dazu, wie in Deutschland Antisemitismus still toleriert wird. Ich bin mir nicht sicher, was ich tun würde, wenn ich so etwas heute wieder mitbekommen würde. Ich glaube, ich würde wieder den Mund aufmachen – und mir das auch von meinen Mitmenschen wünschen.“

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