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Wo bitte geht’s hier zum Atom-Endlager?

Fabian Zapatka

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Die Diskussion dreht sich bereits fünf oder zehn Minuten um „die BGR“ und irgendein „Problem“, als Jorina sich vorsichtig meldet und ihre einzige Frage stellt: „Was ist die BGR? Und um welches Problem geht es hier?“ Klaus Brunsmeier, Vorstandsmitglied des BUND, der gerade noch mehr oder weniger verärgert diskutiert hat, lacht. Dann erklärt er, dass es um die „Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe“ geht, was ihre Rolle in der Suche nach einem Atommüll-Endlager ist und wo es Schwierigkeiten gibt.  

Jorina Suckow ist 24 Jahre alt, Jura-Studentin, und derzeit mit dafür verantwortlich, dass ein Ort gefunden wird, an dem man radioaktiven Müll sicher lagern kann: Sie ist die „Vertreterin der jungen Generation im Nationalen Begleitgremium“ (NBG). Das NBG soll bei der Endlagersuche politisch unabhängig Empfehlungen aussprechen und zwischen Öffentlichkeit, Regierung und Experten vermitteln. Und Jorina ist vielleicht die einzige in diesem Gremium, die noch miterleben wird, wo der Müll letztlich landet.

Bisher sind alle Versuche, in Deutschland ein Endlager für hochradioaktive Abfälle zu finden, gescheitert. Auch, weil die Regierung und die damalige Endlagerkommission den Fehler gemacht haben, die Öffentlichkeit auszuschließen. Als das ehemalige Salzbergwerk Gorleben Ende der Siebziger Jahre von der Bundesregierung ausgewählt wurde, fühlten sich die Menschen in der Region von dieser Entscheidung überrumpelt und es kam zu massiven Protesten. Aber irgendwo muss der Müll ja hin, der seit Jahren in Zwischenlagern vor sich hin strahlt und laut Greenpeace bis zum Jahr 2022 auf rund 15.000 Tonnen anwachsen wird. Darum gibt es jetzt einen Neustart: Auf Basis einer "weißen Landkarte" sollen alle Regionen des Landes auf ihre Eignung hin analysiert werden. Das steht seit März 2017 als das „Standortauswahl-Gesetz“ verabschiedet wurde, endgültig fest. Seit heute sind nun auch mögliche Standorte für ein Endlager bekannt, über die in den nächsten Jahren diskutiert werden muss.

Die Bürgervertreter sollen Menschen vertreten, die keine Ahnung von Atommüll haben, aber trotzdem davon betroffen sind – also beinahe alle von uns

Damit diese Suche transparent abläuft, wurde Ende 2016 das NBG gegründet. „Die Geschichte der Endlagersuche hat für Unfrieden und Misstrauen gegenüber den Entscheidungsträgern gesorgt“, sagt Miranda Schreurs, Leiterin des Lehrstuhls für Environmental and Climate Policy an der TU München und eine der beiden Vorsitzenden des NBG. „Das wollen wir diesmal vermeiden. Außerdem müssen wir die kommende Generation vorbereiten, denn sie wird mit dem Thema weiter umgehen müssen. Darum ist es auch so wichtig, dass Jorina dabei ist.“

Das NBG besteht anfangs aus sechs von Bundestag und Bundesrat berufenen, sogenannten „anerkannten Personen des öffentlichen Lebens“ – unter anderem Miranda Schreurs, Klaus Brunsmeier und der ehemalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer – und drei „Bürgervertretern“ ohne größere Atomkraft-Erfahrung: Bettina Gaebel, Leiterin eines Marketingunternehmens, Hendrik Lambrecht, Professor für Industrial Ecology – und Jorina. Diese drei sollen die Menschen vertreten, die wenig bis keine Ahnung von Atommüll haben, aber trotzdem davon betroffen sind – also beinahe alle von uns, die wir in einer Fachdiskussion genauso ratlos fragen würden: „Um welches Problem geht es hier?“ Bis zum Jahr 2020 wird das NBG auf 17 Mitglieder vergrößert. 

Bevor das Gremium an einem Sonntag Anfang Juli 2017 in Berlin zu seiner bisher siebten Sitzung zusammenkommt, sitzt Jorina vor einem Café in der Nähe des Reichstagsufers in der Sonne, trinkt einen grünen Tee und spricht so bedacht und distanziert über ihre Aufgabe, als hätte sie Angst, etwas Falsches zu sagen. Sie verwendet häufig „man“ statt „ich“ oder fragt sich selbst laut: „Mh, wie sage ich das am besten?“ Jorina, gebürtige Hamburgerin, erfüllt auf den ersten Blick drei nordische Klischees auf einmal: blonde Haare, blaue Augen und insgesamt eher kühl.

An einem Nachmittag im September 2016 war Jorina gerade auf dem Heimweg von der Uni, als ihr Handy klingelte. Unbekannte Nummer. Am anderen Ende war ein Mitarbeiter des Centrums für Empirische Studien der Uni Bamberg. Ob sie sich vorstellen könne, in einem Gremium zur Endlagersuche mitzuwirken? Jorina fand die Anfrage interessant. Verantwortungsvoller Umgang mit Atommüll, dachte sie, das ist doch ein wichtigtes Thema – obwohl sie so gut wie nichts darüber wusste. „Nur Gorleben war mir ein Begriff, weil es ja auch nicht weit von Hamburg weg ist“, sagt sie. „Aber wann hat man schon mal die Chance, bei so etwas mitzuwirken?“ Sie meldete sich für das „Bürgerforum der jungen Generation“ in Kassel an. Bei fünf Foren in ganz Deutschland wurden insgesamt 123 Teilnehmer von Experten über die Endlagersuche informiert und wählten anschließend 30 Teilnehmer in das sogenannte „Beratungsnetzwerk“. Das Netzwerk wählte dann Anfang November die drei Bürgervertreter. „Vier Wochen später war schon das erste Treffen. Dazwischen war gerade mal genug Zeit, um das alles zu realisieren“, sagt Jorina. Ein bisschen stolz könnte sie jetzt schon sein. Immerhin standen am Anfang 70 000 Anrufe an zufällig generierte Telefonnummern – und am Ende nur noch drei Personen. „Stolz…? Nee, das trifft es nicht so richtig“, sagt Jorina und lächelt verlegen. „Ich dachte eher: Jetzt hast du diese Verantwortung.“

Die meisten in ihrem Alter wollten diese Verantwortung nicht übernehmen: Von den 16- bis 27-Jährigen waren bei der Telefonumfrage deutlich weniger am NBG interessiert als in allen anderen Altersgruppen. Und das, obwohl fast die Hälfte der Anrufe an Mobilfunknummern gingen, um gerade auch junge Menschen zu erreichen. Von den 89, die wie Jorina ihr Interesse bekundeten, haben sich am Ende nur 19 zum Bürgerforum angemeldet, also nicht mal ein Fünftel – im Schnitt aller Altersgruppen lag die Anmeldequote bei 28 Prozent. Besonders auffällig ist, wie zurückhaltend die jungen Frauen waren: Das Forum der jungen Generation bestand aus 15 Männern und vier Frauen.

Beim Thema „Atommüll“ geht es um unfassbare Zeitspannen: Die Halbwertszeit von Tellur beträgt sieben Quadrillionen Jahre

Vielleicht ist es die zeitliche Dimension, die junge Menschen abschreckt. Bis 2031 soll das Endlager gefunden werden, gebaut und in Betrieb genommen ist es dann noch längst nicht. „Das ist ziemlich abstrakt. In meinem Alter sind ja schon drei Jahre eine lange Zeit“, sagt Jorina. So lang ist ihre Amtsperiode, zwei Mal kann sie wiederberufen werden. Selbst wenn sie das voll ausschöpft, steht danach womöglich immer noch nicht fest, wo der Müll hinkommt. Und bei diesem Thema kommen ja noch weitere, wirklich gar nicht mehr fassbare Zeitspannen hinzu: Die Halbwertszeiten einiger Atommüll-Bestandteile betragen zwar überschaubare zehn oder 30 Jahre, andere hingegen viereinhalb Milliarden (Uran) oder sieben Quadrillionen Jahre (Tellur). Das ist eine Sieben mit 24 Nullen.

Trotz dieser Zukunftsdimension fühlt sich das Thema für viele gleichzeitig nach Vergangenheit an. Wer noch zur Schule ging, als der Atomausstieg 2011 beschlossen wurde, für den ist Atomkraft und -müll etwas, gegen das sich vielleicht die eigenen Eltern in ihrer Jugend engagiert haben.

Jorinas Engagement hingegen bestand in den letzten Monaten zum Beispiel darin, eine Menge Abkürzungen zu lernen – HEU, BfE, BGE, BGR, FRM II. Darin, nach jeder Sitzung einen großen Stapel Unterlagen zu wälzen. Jeden Tag nach der Uni E-Mails zu lesen und zu beantworten. Zwei Gutachten zum Standort-Gesetz durchzuarbeiten und zu verstehen, das eine 50, das andere mehr als 150 Seiten lang. Sich per Skype mit den anderen Bürgervertretern zu besprechen. An Presseterminen und Diskussionsveranstaltungen teilzunehmen. Der Weg zur Mitbestimmung führt sie durch ein unübersichtliches Dickicht aus bürokratischem Kleinklein und physikalischem und geologischem Großgroß.

Die Sitzungen selbst sind entsprechend sperrig. Sie sind öffentlich, aber viel Öffentlichkeit ist an diesem Sonntag nicht da: nur zwei Zuhörer sind in den Besprechungsraum des Deutschen Naturschutzrings gekommen. Dort sitzen die NBG-Mitglieder am langen Konferenztisch auf grau gepolsterten Stühlen, umgeben von leeren Whiteboards, einer leeren, roten Pinnwand und Kaffeekannen. Klaus Töpfer eröffnet die Sitzung in jovialem Ton. Jorina sitzt mit gefalteten Händen links neben ihm und ist sehr still. Sie bleibt es, als beschlossen wird, verschiedene Gutachten – über Abfälle des Forschungsreaktors in Garching oder die aktuelle Situation der Zwischenlager – einzuholen. Sie bleibt es auch, als die Diskussion sich der Frage zuwendet, die das NBG derzeit noch sehr häufig beschäftigt: Was ist ihr Selbstverständnis? Wie wollen sie arbeiten? Wie soll das „Beratungsnetzwerk“, das die Bürgervertreter gewählt hat, einbezogen werden? Bürgervertreter Hendrik Lambrecht, der im Gegensatz zu Jorina sehr entspannt und mit im Nacken verschränkten Händen auf seinem Stuhl sitzt, fasst das so zusammen: „Gestern war ich bei unserem Gemeindefest und alle fragen mich: Wo kommt denn der Müll jetzt hin? Und ich muss sagen: Tschuldigung, darüber haben wir bisher noch nicht geredet. Wir müssen noch klären, wie die Bürgerbeteiligung funktionieren soll und ob sie sinnvoll ist.“

„Eine Jurastudentin? Ein Professor? Das ist doch kein Querschnitt aus der Bevölkerung!“

„Die Bürgerbeteiligung in diesem Gremium ist jenseits aller Realität!“, sagt dazu Professor Hans Lietzmann. Er ist Leiter des Instituts für Demokratie- und Partizipationsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal. Diese Forschungsstelle für Bürgerbeteiligung führt seit den Siebziger Jahren Beteiligungsverfahren durch, zum Beispiel zu Stadtplanungs- oder Energiewende-Projekten. „Vor allem der Einladungsprozess ist ein ganz zentrales Element, wenn die Beteiligung demokratisch und politisch fruchtbar sein soll“, so Lietzmann. Bei der Auswertung verschiedener Verfahren hätten sie festgestellt, dass die Ansprache per Telefon, wie sie für das NBG durchgeführt wurde, die schlechteste Methode sei: Fast niemand möchte dann mitmachen, viele legen gleich wieder auf. „Das kann man hier ja auch sehen: 70 000 Telefonate haben zu weniger als 200 Rückmeldungen geführt. Das ist absurd!“, sagt Lietzmann. Zudem erreiche man mit zufällig generierten Nummern keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung.

Lietzmanns Mitarbeiter bekommen für ihre Verfahren jedes Mal einen Satz mit Kontaktdaten vom Einwohnermeldeamt. Die Kandidaten bekommen dann ein offizielles Einladungsschreiben von der Universität, inklusive frankiertem Antwortbogen. „Dadurch haben wir jedes Mal eine Rückmelde-Quote zwischen 25 und 40 Prozent“, sagt Lietzmann. Wer eine Absage schickt, wird noch einmal persönlich kontaktiert. Damit die Teilnahme nicht an finanziellen oder anderen äußeren Umständen scheitert, bietet die Forschungsstelle zum Beispiel Kinderbetreuung, Dolmetscher oder einen Fahrdienst an, und alle Teilnehmer bekommen ein Anerkennungsgeld. „Wenn einfach nur am Telefon gefragt wird, ob jemand mitmachen möchte, bleiben am Ende nur die üblichen Verdächtigen übrig: die, die sowieso sprach-, zeit- und geldmächtig sind“, sagt Lietzmann. „Das ist das gleiche Ergebnis, das wir zunehmend bei den Wahlen haben: die Prekären und weniger Privilegierten bleiben weg und der Mittelstand sortiert seine Interessen.“ Dabei wurde das NBG ja eigentlich erfunden, um die so verpönte „Entscheidung von oben herab“ zu unterbinden. Lietzmann findet das völlig unglaubwürdig. „Eine Jurastudentin? Ein Professor? Das ist doch kein Querschnitt aus der Bevölkerung! Mal davon abgesehen, dass drei Bürgervertreter sechs Professionellen gegenüber sitzen. Welchen Hebel haben die denn?“

Vor allem Jorina sitzt als Studentin acht deutlich älteren Menschen gegenüber, von denen die Mehrheit einen Doktor- oder Professorentitel hat. Sie selbst sieht das allerdings nicht so. „Ich werde ernst genommen!“, sagt sie. Und auch während der Gremiumssitzung wird mehrfach betont, dass alle Mitglieder gleichberechtigt seien.

Trotzdem gibt es Momente, in denen das von außen betrachtet nicht so aussieht. Am Montagmorgen kommt das NBG wieder zusammen. Für mittags steht ein Besuch von Bundesumweltministerin Barbara Hendricks an. Vorher wird festgelegt, wer welches Anliegen und welche Fragen ansprechen soll. Auch die Bürgervertreter sollen zu Wort kommen, etwas zum Selbstverständnis des Gremiums sagen und betonen, dass ihnen die Zusammenarbeit mit dem Beratungsnetzwerk wichtig ist. „Vielleicht fangen Sie an“, sagt Töpfer und deutet auf Bettina Gaebel. „Und Sie setzen das dann fort?“ Er deutet auf Hendrik Lambrecht. Auf Jorina, die wie gestern schon still zu seiner Linken sitzt, deutet er nicht. Ihr Redebeitrag beim Besuch der Ministerin beschränkt sich darum auf die Vorstellungsrunde.

Es wäre berechtigt gewesen, wenn sie sich übergangen gefühlt und gesagt hätte: „Ich möchte gerne mitreden.“ Stattdessen sagt sie im Nachhinein diplomatisch: „Mir ist es persönlich nicht wichtig, wer zuvor erarbeitete Ergebnisse vorträgt. Dabei muss ich mich nicht in den Vordergrund drängen.“ Auch das kann man ihr natürlich nicht vorwerfen. Ihre Überzeugung, hier keinen persönlichen Kampf für Mitbestimmung zu führen, sondern die Bürger vertreten zu wollen. Das wird deutlich, als sie einen Ausblick wagt, obwohl die Endlager-Suche in ihrer Amtszeit vielleicht gar nicht beendet wird: „Wenn potentielle Standorte feststehen, wird die Diskussion sicherlich deutlich emotionaler werden“, sagt sie und meint den Widerstand, der unter den Anwohnern dann ganz sicher laut wird. „Und da werden wir natürlich besonders gefragt sein.“

Dieser Text erschien erstmals am 20.9.2017  - und wurde am 28.9.2020 entsprechend aktualisiert.

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