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„Griechenland und Italien wollen, dass man ihnen hilft, im Hier und Jetzt und nicht in zehn Jahren“

Alina Lyapina ist Aktivistin der „Seebrücke“ und setzt sich für die Rechte geflüchterer Menschen ein.
Foto: Bahar Kaygusuz

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Alina Lyapina, 29, ist Mitorganisatorin von „From the Sea to the City“, einer europäischen Städtekonferenz für die freiwillige kommunale Aufnahme Geflüchteter. Dafür kommen unter anderem Vertreter*innen von Städten und Kommunen aus Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Schweden und Griechenland zusammen und verabschieden ein gemeinsames Statement. Die Konferenz findet am 25. und 26. Juni als hybrides Event in Palermo statt. Am Samstag, den 26., gibt es die Möglichkeit für Interessierte, an Online-Panels teilzunehmen. Alina ist außerdem Aktivistin der „Seebrücke“, einer zivilgesellschaftlichen Organisation, die sich für sichere Fluchtwege und die Entkriminalisierung der Seenotrettung einsetzt. Im Interview erzählt sie, warum sie ein solidarisches Städtebündnis für den richtigen Weg hält, Geflüchteten zu helfen. 

jetzt: Mit eurer Konferenz wollt ihr eine Alternative zum europäischen Migrationspakt vorschlagen, der vergangenes Jahr von der EU-Kommission vorgestellt wurde. Was kritisiert ihr an diesem Pakt?

Alina Lyapina: Wir beobachten seit Jahren eine dramatische Lage an den EU-Außengrenzen, in den Lagern für Geflüchtete und auf dem Mittelmeer herrschen Chaos und Willkür. Trotz dieser andauernden humanitären Katastrophe wurde von der EU-Kommission vorgeschlagen, an den Außengrenzen neue geschlossene Lager zu bauen. Insgesamt basiert der ganze Pakt auf dem alten System und zementiert mehrmals gescheiterte Lösungen.

Du meinst: Er basiert auf der Dublin-Verordnung, die die Kommission eigentlich abschaffen wollte?

Genau. Das „Hotspot“-System soll durch die geplanten Lager an den Außengrenzen, in denen die Menschen festgehalten werden sollen, sogar noch ausgebaut werden. Außerdem wird eine neu rechtliche Realität geschaffen: Obwohl auch in den Hotspots das europäische Asylrecht gilt, sollen die Menschen dort durch ein beschleunigtes Verfahren geschleust werden. Mit dem Ziel, so viele wie möglich abzuschieben, ohne, dass sie ein Recht auf anwaltliche Hilfe oder Berufung  gegen einen Ablehnungsbescheid haben. Insgesamt setzt die EU also weiter auf Abschottung und Menschenrechtseinschränkungen.

Wie sähe eine europäische Lösung aus, die ihr befürworten würdet?

Das Ziel unserer Konferenz ist es, eine solche Lösung anzubieten: Wir setzen auf die Idee eines Städtenetzwerkes in Europa, damit nicht mehr wenige Städte in den Grenzgebieten die Hauptlast des gescheiterten Systems tragen müssen, sondern die Belastung solidarisch auf viele Orte verteilt wird. Um das konsequent durchsetzen zu können, werden wir in Palermo das „Internationale Bündnis der sicheren Häfen“ gründen.

Eine gerechte Verteilung Geflüchteter auf alle EU-Staaten, die eigentlich das Ziel des neuen Pakts hätte sein sollen, scheitert bisher an der Weigerung einzelner Staaten, vor allem Ungarn und Polen, Menschen aufzunehmen. Diese Blockade wollt ihr mit eurem Vorschlag umgehen?

Kein EU-Staat sollte in der Lage sein, sich bei der Migrationspolitik aus der Verantwortung zu ziehen, geschweige denn auf die sogenannten „Abschiebepatenschaften“ zu setzen, die im Migrationspakt vorgesehen sind (anstatt selbst Menschen aufzunehmen, soll ein EU-Land Rückführungen abgelehnter Asylbewerber für ein anderes Land übernehmen können; Anm. d. Red.). Es muss also auf jeden Fall einen verbindlichen, europäischen Verteilungsmechanismus geben! Das freiwillige Aufnahmeprogramme von Städten und Kommunen, das wir vorschlagen, soll diesen Mechanismus ergänzen und verstärken.

„Auf kommunaler Ebene gibt es einen moralischen Pragmatismus, der Menschen einen Weg bietet, aus dem Elend herauszukommen“

Der deutsche Bundesinnenminister Horst Seehofer hat vergangenes Jahr die freiwillige kommunale Aufnahme von Geflüchteten aus dem abgebrannten Lager Moria abgelehnt, weil Staaten wie Ungarn sich dann aus der Verantwortung ziehen könnten und man sich eine europäische Lösung verbaue.

Das Gegenteil ist der Fall: Durch freiwillige kommunale Aufnahme schafft man eine europäische Lösung. Griechenland und Italien fordern seit Jahren europäische Solidarität, sie wollen, dass man ihnen hilft, im Hier und Jetzt und nicht in zehn Jahren, wenn sich die Staaten endlich auf eine Lösung einigen. Auf kommunaler Ebene gibt es einen moralischen Pragmatismus, der Menschen einen Weg bietet, aus dem Elend herauszukommen.

Der Fall zeigt aber, dass die kommunale Aufnahme nicht so einfach möglich ist. Denn am Ende entscheidet das Bundesinnenministerium.

Ja, rechtlich bleibt es leider bei einer Resolution oder einem Antrag im jeweiligen Stadtrat, mit dem Bereitschaft verkündet wird. Kommunen können keine eigenen Aufnahmeprogramme starten, sondern sind darauf angewiesen, dass das Innenministerium ja oder nein sagt.

Ist das in anderen EU-Ländern anders?

Nein. Kommunen in Europa haben keine Kompetenzen in der Migrationspolitik. Das wollen wir mit unserer Konferenz ja gerade ändern.

Wie könnten kommunalen Aufnahmeprogramme denn konkret aussehen?

Es wäre zum Beispiel möglich, dass sich aufnahmebereite Kommunen direkt bei der EU-Kommission um eine Teilnahme an einem Relocation-Programm bewerben. Dafür wurden sie vor Ort einen Stakeholder-Rat mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGOs gründen, um das Programm zu verwalten, das als Matching-Verfahren ablaufen könnte: Asylsuchende würden noch in der Heimat online ihren Registrierungsprozess durchlaufen und könnten dann über einen sicheren Weg in die Stadt ihrer Wahl reisen. 

Und wie soll das finanziert werden?

Aktuell müssen Staaten selbst Mittel für Aufnahmeprogramme bewilligen oder auf der EU-Ebene beantragen. Aber dazu fehlt eben oft der Wille der Regierungen. Deswegen fordern wir eine direkte Sofort-Finanzierung durch die EU, ohne die Nationalregierungen als Vermittler. Diese Mittel sollen dann insgesamt auf kommunale Entwicklung abzielen, zum Beispiel des Wohnraums und des Gesundheitssystems, und so eine „Renaissance der europäischen Kommunen“ herbeiführen.

„Die kommunale Aufnahmebereitschaft ist wirklich enorm!“

Wie viele Städte und Kommunen in Europa haben sich bereit erklärt, an solchen Programmen teilzunehmen und vor allem auch Menschen aufzunehmen, die aktuell in den Lagern an den Außengrenzen festsitzen?

Die kommunale Aufnahmebereitschaft ist wirklich enorm! In Belgien gibt es zum Beispiel über 120 Kommunen, die sich aufnahmebereit erklärt haben, in den Niederlanden würde etwa 200 Städte gerne unbegleitete Minderjährige aus den griechischen Lagern aufnehmen. In Frankreich haben wir ein Städtenetzwerk als Partner, das seit Jahren für gleiche Rechte für Geflüchtete und Migrant*innen kämpft. Auch Städte wie Barcelona, Neapel, Palermo oder Valencia fordern schon lange, dass die Nationalregierungen endlich ihre Blockade aufgeben. 

Wie viele Städte wären in Deutschland dabei?

Aktuell haben mehr als 260 Kommunen einen „Sicherer Hafen“-Beschluss verfasst oder auf andere Art und Weise gegenüber der deutschen Regierung ihre Aufnahmebereitschaft erklärt.

Gibt es bestimmte Voraussetzungen, die eine Kommune erfüllen muss, um Teil des „Sichere Häfen“-Bündnisses zu werden?

Sie muss sich der Kernidee – gleiche Rechte für alle, unabhängig von Nationalität und Status – verpflichten. Ansonsten sehen wir das Ganze vor allem als demokratischen Prozess, bei dem die konkrete Ausgestaltung mit der Zivilgesellschaft vor Ort ausgearbeitet wird.

Gibt es Städte, die als Vorbild dienen könnten?

Ein gutes Beispiel ist das Programm der Stadtverwaltung Utrecht in den Niederlanden, das „Wohnen für alle“ anbietet und darauf abzielt, gleiche Angebote für Geflüchtete und die lokale Bevölkerung zu schaffen. Das sorgt für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt. Auch Barcelona hat trotz aller Umstände und Schwierigkeiten ein sehr gutes kommunales Aufnahmeprogramm und beweist, wie die Zusammenarbeit zwischen einer progressiven Stadtverwaltung und der Zivilgesellschaft vor Ort funktionieren kann. 

„Wir fordern einen handlungsfähigen, europäischen zivilen Rettungsdienst“

Gibt es ein Element, das du für die Programme am wichtigsten hältst, zum Beispiel Wohnraum?

Nein, denn das Geheimnis ist, dass alle Elemente wichtig sind, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erreichen – Wohnen, Arbeiten, Gesundheitswesen, demokratische Partizipation, Inklusion, antirassistische Arbeit, …

Ihr geht mit eurer Konferenz den Weg des politischen Drucks. Der Berliner Senat hat vergangenes Jahr auch den Rechtsweg angestrebt und Klage gegen das Innenministerium eingereicht, weil es Aufnahmen aus Moria abgelehnt hatte. Was ist dabei rausgekommen?

Die Klage ist auf dem Weg und es dauert, wie immer bei rechtlichen Prozessen, alles sehr lang. Darum ist es gleichzeitig notwendig, sich weiter für die Aufnahme Schutzsuchender einzusetzen. Wir können nicht auf die Entscheidung des Gerichts warten. 

Welche Rolle spielt die zivile Seenotrettung in euren Forderungen? Genau genommen arbeitet ihr ja an deren Abschaffung, oder? 

Ja, das ist ein langfristiges Ziel. Aber wir sehen nach wie vor, dass staatliche Seenotrettung nötig wäre, aber nicht in Sicht ist. Auch darauf können wir nicht warten. Deswegen fordern wir einen handlungsfähigen, europäischen zivilen Rettungsdienst. Dafür müssten die Auslagerung des EU-Grenzschutzes an die sogenannte libysche Küstenwache und die Finanzierung von Frontex gestoppt werden. Mit diesen EU-Mitteln könnte der Rettungsdienst dann finanziert werden.

Ihr seid für eine vollständige Abschaffung des Schutzes der EU-Außengrenzen?

Angesichts der anhaltenden humanitären Notsituation in den Grenzregionen können wir nicht weiter zusehen. Der Preis für diese Abschottung ist zu hoch, denn der Preis sind Menschenleben.

Kritiker*innen würden jetzt sagen: Der Preis für offene Grenzen können ebenfalls Menschenleben sein, weil man nicht weiß, wer kommt.

Das ist rechte Rhetorik, auf die wir uns nicht einlassen wollen. Und unsere Idee zielt ja auch nicht darauf ab, dass man nicht mehr weiß, wer kommt. Alle werden beim Übertritt der Grenze oder schon vorher registriert – sie sollen und müssen nur nicht das Asylverfahren in den Grenzaufnahmeeinrichtungen durchlaufen, denn das hat zu den unwürdigen Lagern geführt, die wir jetzt haben.

Es würde aber auch weiterhin Ablehnungen und Abschiebungen geben.

Wir wollen natürlich Bleibeperspektiven ausbauen. Wenn jedoch ein Asylsuchender eine Ablehnung bekommt, dann muss diese Person nach dem Völkerrecht und der europäischen Menschenrechtskonvention das Recht haben, sich anwaltliche Hilfe zu suchen, in die Berufung zu gehen und diesem Bescheid zu widersprechen. Das europäische Asylrecht darf nicht verletzt werden. 

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