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Meine Oma, der Flüchtling: Sechs Protokolle über die Flucht vor rund 75 Jahren
Wie gehen wir mit Geflüchteten um? Warum sind sie hier? Wer darf bleiben? Wer muss gehen? Wie müssen wir uns auch als Gesellschaft ändern, damit Integration klappen kann? Fragen, die sich viele Menschen seit dem Sommer 2015, als Hundertausende nach Deutschland flohen, bis heute stellen. Was manche dabei aber vergessen: Vor rund 75 Jahren hat man so auch über unsere Großeltern gesprochen. Sechs Protokolle.
„Flüchtlingskinder hatten in unserer Gegend einen schlechten Ruf, weil sie noch ärmer als der Rest waren“
Maria Bohm, 81, floh von Serbien nach Pocking in Niederbayern:
„Einen Moment im Jahr 1945 werde ich nie vergessen, dabei war ich da erst fünf Jahre alt. Ich kann mich noch ganz genau an die Worte des Mannes erinnern. Meine Eltern, meine ältere Schwester, ihr Baby und ich waren bei einem Bauern in Niederbayern untergebracht. Besser gesagt, die Amerikaner zwangen ihn, uns aufzunehmen. Er war ein sehr gemeiner Mann, die Situation dort war schlecht. Wir teilten uns zu fünft ein Zimmer und wir Kinder durften drei Monate lang nicht raus zum spielen. Aber: Wir waren auf seine Gnade angewiesen.
Maria Bohm (Vorderreihe, 3. v. r.) nach ihrer Flucht und heute.
Wir saßen also eines Abends bei dem Bauern zum Essen, die Milchsuppe stand in einem großen Kessel auf dem Tisch und alle aßen mit der Kelle daraus. Als mein Vater nach einem Teller fragte, sagte der Bauer: ‚Wie ich sehe, bist sogar ein richtiger Feinschmecker. Nix kriegst!‘ Wir fühlten uns gedemütigt. Er wollte uns nicht bei sich haben. Und wir wollten nicht dort sein. Aber wo sollten wir hin?
Im Oktober 1944 sind wir aus dem heutigen Serbien geflohen. Dort lebte meine Familie seit Generationen. Ich, meine Schwester und ihr Baby konnten auf dem Planwagen eines Nachbarn mitfahren, meine Mutter ist die ganze Strecke bis nach Schlesien gelaufen.
Mein Vater war zu der Zeit bei der Wehrmacht in Deutschland stationiert. Zweimal ist er dort abgehauen, hunderte Kilometer umhergeirrt, um uns zu suchen und uns für ein paar Tage zu begleiten. Ein Mal sogar nur für eine Nacht. Meine Mutter hatte wahnsinnige Angst, dass die Wehrmacht meinen Vater erschießt, wenn sie merken, dass er nicht mehr da ist. Von Schlesien aus ging es in einem Viehwaggon weiter nach Deutschland. Drei Tage waren wir in dem Zug eingeschlossen, ein alter Mann starb darin. Meine Mutter erzählte noch Jahre später davon.
Die ersten eineinhalb Jahre in Deutschland wurden wir von Lager zu Lager geschickt, kamen dazwischen immer wieder mal bei Bauern wie dem gemeinen in Niederbayern unter. Gott sei Dank waren nicht alle so wie er. Wir waren auch ein paar Wochen in einer Außenstelle des ehemaligen KZs Flossenbürg untergebracht, das zu dem Zeitpunkt erst seit Kurzem leer stand. Ein paar Monate vorher waren dort noch Juden ermordet worden, jetzt waren wir dort. Es gab fast keine Betten oder Pritschen, die Essensversorgung war miserabel. Das war auch die Zeit, als meine Mutter gemeinsam mit einer anderen Frau zum Betteln um Essen auf die umliegenden Höfe ging. Die Einheimischen haben sehr unterschiedlich reagiert. Bei manchen gab es zwei Eier und einen Löffel Schmalz, andere haben die Vorhänge zugezogen und nicht aufgemacht.
In Serbien hatten wir ein schönes Haus, viel Platz, wir mussten uns um Dinge wie Essen oder Kleidung nie Gedanken machen. Und jetzt ging meine Mutter plötzlich betteln. Von der Kleidung her gab es auf jeden Fall Unterschiede zu den Einheimischen. Auch wenn alle unter dem Krieg litten, so war ich mit Sicherheit schlechter angezogen als die anderen Kinder. Mein Kleid für den ersten Schultag bestand aus einer umgenähten Wehrmachtsdecke. Manche hänselten mich deswegen. Aber das war mir damals egal, ich mochte es sehr.
Flüchtlingskinder hatten in unserer Gegend einen schlechten Ruf, weil sie einfach noch ärmer als der Rest waren. Aber das wurde einem nicht direkt gesagt, das waren mehr die Blicke und die Ermahnung an die einheimischen, bayerischen Kinder, nach Hause zu kommen und nicht mit uns zu spielen. Für die Erwachsenen war das sicher auch nicht leichter. Als meine Eltern nach Monaten Arbeit auf einem Gutshof fanden, wurde die ganze Situation langsam besser. Die Einheimischen sahen, dass wir mindestens genauso hart arbeiteten wie sie. Dadurch wurde das Misstrauen geringer. Aber viele Vorurteile gegenüber uns blieben noch Jahre bestehen."
Patrick Wehner
„Verzweifelt ging ich ans Seeufer und überlegte lange, hineinzugehen“
Erika Jarchov ( †) ist von Frankfurt Oder nach Schleswig-Holstein geflohen:
„Im Juni 1945 kamen wir in Gleschendorf in Schleswig-Holstein an. Es war das Ende der mehrmonatigen Flucht von uns vier Frauen: meiner Mutter, meiner Schwester, meiner Cousine und mir. Oder eigentlich fünf, denn ich war 27 und im achten Monat schwanger. Mit einem Mädchen, wie sich herausstellen sollte. Männer gab es in unserer Familie nicht mehr. Mein Vater, mein Bruder und der Mann meiner Schwester waren gefallen. Mein Mann war an der Ostfront. Am 30. Januar wurde der Befehl erteilt, dass Frauen und Alte Frankfurt an der Oder verlassen müssen. Also machten wir uns auf den Weg. Zunächst war auch meine 90-jährige Großmutter dabei. Mit dem Zug wollten wir nach Berlin. Vor Fürstenwalde fielen die Bomben. Also rannten wir raus. Wir konnten nur mitnehmen, was wir am Körper trugen.
Erika Jarchov wurde mehrfache Ur-Oma.
Zunächst kamen wir in U-Bahn-Schächten unter. Dann ging es zu Fuß zu unserer Tante in Pritzwalk. Dort erlag meine Großmutter den Strapazen der Flucht. Doch wir konnten nur kurz ausruhen. Die Russen kamen immer näher. Und was die mit Frauen machten, wollten wir uns gar nicht vorstellen. Meine Tante bat uns, ihre 14-jährige Tochter mitzunehmen. Weiter ging es mit Fahrrädern und zu Fuß. Irgendwie über die Elbe kommen, dann vielleicht nach Schleswig-Holstein, wo eine Freundin meiner Schwester wohnte. Wir schlugen uns durch, stachen Spargel oder rupften Kartoffeln. Dafür gab es Suppe und Wasser. Die Russen blieben uns im Nacken. Manchmal kamen sie nur Stunden später in dem Ort an, den wir gerade verlassen hatten. Einige Zeit verbrachten wir in einem Lager der Engländer auf freiem Feld. Ein paar Wochen lebten wir im Haus eines Straßenarbeiters. Behandelt wurden wir eigentlich überall gut. Viele Menschen halfen uns. Das hatte bestimmt auch mit meinem Zustand zu tun, der unübersehbar wurde.
Als wir endlich in Gleschendorf ankamen, fand ich sofort Arbeit, denn ich war Englischlehrerin. Und Englisch wollten jetzt alle lernen. Ich gab Privatstunden, dafür bekam ich Milch, Kaffee, Brot und manchmal ein bisschen Geld. So brachte ich unseren Frauenhaushalt anfangs durch. Ablehnung erlebten wir nur ganz vereinzelt. Am schlimmsten traf es mich, als ich den Mann der Gemeindeverwaltung fragte, ob es nicht ein Zimmer gebe, wo ich mit dem Baby unterkommen könne. Er antwortete barsch: „Ich kann mir auch kein Zimmer aus den Rippen schneiden. Im Pönitzer See ist Platz genug.“ Verzweifelt ging ich ans Seeufer und überlegte lange, hineinzugehen und nicht mehr wiederzukommen. Aber was wäre, wenn mein Mann zurückkommen und erfahren würde, dass ich und sein Kind, das er nie gesehen hat, es bis hierher geschafft haben – und ich dann aufgegeben habe? Also machte ich weiter, bekam meine Tochter, arbeitete. Während die anderen Frauen sich um sie kümmerten, wurde ich Lehrerin. Mein Mann kam nie zurück. Er war in Ostpreußen von einem Granatsplitter getroffen worden, wie ich Jahre später erfuhr. Meine Tochter aber wurde mein Lebensglück.
Heute bin ich vierfache Groß- und dreifache Urgroßmutter. Ins Elternhaus in Frankfurt an der Oder konnten wir nicht zurück, denn als Ehefrauen von Offizieren hätten wir dort nicht arbeiten können. Als wir es nach der Wende doch noch zurückbekamen, vermieteten wir es. Meine Heimat ist jetzt hier in Schleswig-Holstein.
Constantin Wissmann
„Der Mann, der uns bei der Flucht half, war ein amerikanischer Offizier. Meiner Mutter habe ich nie erzählt, dass er mich kurz vor der Flucht vergewaltigt hat“
Ingeborg Heidler ( †) floh aus dem Egerland, heute in Tschechien, nach Stuttgart:
„Ich war in meiner Familie die erste, die geflohen ist. Wir lebten damals im Egerland, in der ehemaligen Tschechei. Ich war 17 Jahre alt. Es ging uns gut, wir besaßen eine Porzellanfabrik bei Karlsbad. 1945 sollte ich zur Zwangsarbeit nach Russland eingezogen werden. Ich war verrückt vor Angst, weil ich dachte, dass ich von dort vielleicht nie wieder zurückkommen würde.
Der Mann, der uns bei der Flucht half, war ein amerikanischer Offizier. Meiner Mutter habe ich nie erzählt, dass er mich kurz vor der Flucht vergewaltigt hat. Er konnte uns retten, also schwieg ich. Wir flohen sieben Tage und sieben Nächte lang, versteckten uns in Vieh- und Tankzügen, immer in der Angst, entdeckt zu werden. Als wir uns endlich trauten, aus den Tanks zu schauen, sahen wir lauter Köpfe vor uns – wir waren erleichtert, nicht die Einzigen zu sein. Die ganze Zeit klammerte ich mich an meinen winzigen Koffer, darin nur eine Zahnbürste und Unterwäsche; meine Mutter hatte einen Pelzmantel dabei.
„Wir waren sehr arm, lebten dicht gedrängt. Manchmal gab es deswegen Streit mit den Nachbarn“, erzählte Ingeborg Heidler über ihre Flucht und die Zeit danach.
Sobald wir in Stuttgart ankamen, waren wir auf einmal von Autos der Amerikaner umringt. Wir alle mussten eine Nacht ins Gefängnis, weil wir fünf Minuten nach der Sperrstunde ankamen. Hier hofften wir bei meinem Onkel unterzukommen, wussten aber nicht, ob er noch lebt. Als wir an seine Türe klopften, rief er von der anderen Seite: ‚Kommt nur rein, ich habe gerade von euch geträumt!‘ Meine Mutter kehrte dann kurze Zeit später wieder zurück zu meinem Vater und meinem Bruder, bis sie 1946 schließlich aus Egerland vertrieben wurden.
In Stuttgart wurde ich aufgenommen wie eine Tochter. Wir hatten wirklich großes Glück. Ich kochte und putzte für die vierköpfige Familie, sodass die Nachbarn dachten, ich sei die Haushaltshilfe. Als meine Eltern ein Jahr später mit meinem kleinen Bruder nachkamen, lebten wir in zwei winzigen Dachkammern, hatten keine Toilette und wuschen uns in der Küche. Die Zimmer gehörten eigentlich anderen Familien. Deswegen zeigten die Leute mit dem Finger auf uns. Wir waren immer ‚die Flüchtlinge‘, die anderen den Platz wegnahmen. Das war hart.
Keiner konnte sich vorstellen, wie wir alle in ein Land passen sollten. Vergewaltigungen waren nicht selten – ich schmierte mir deswegen manchmal Asche ins Gesicht und stopfte meine Kleider mit Kissen aus, um älter auszusehen.
Wir waren sehr arm, lebten dicht gedrängt. Manchmal gab es deswegen Streit mit den Nachbarn, die oft selbst Flüchtlinge waren. Zu Essen gab es oft nur trockenes Brot. Aber in den Flüchtlingskasernen war es noch viel schlimmer. Ich hatte großes Heimweh, vermisste die Wälder und die Natur. Aber ich hatte Hoffnung, dass es durch die Arbeit besser würde. Ich hätte gerne studiert, hatte aber kein Abitur, also fing ich eine Ausbildung zur Dolmetscherin an. Ich lernte wie verrückt. Nach meinem Abschluss ernährte ich ein Jahr lang die ganze Familie. Mein Vater war mit 50 zu alt, um eine Anstellung zu finden.
Meinen Eltern fiel es schwerer als uns Kindern, die Flucht zu verarbeiten. Sie hatten ihre ganze Existenz aufgegeben, zu Hause eine erfolgreiche Fabrik geführt – und hatten hier plötzlich nichts. Einmal fand mein Vater 1000 Mark in einem alten Anzug. Aber unser Geld war nichts mehr wert. Es brauchte sicher drei, vier Jahre, bis wir uns integriert hatten. Mein Onkel, auch ein Fabrikant, half uns mit allem. Er gab meinen Eltern Arbeit in der Fabrik. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn gemacht hätten.
Seitdem war ich ein paar Mal im Egerland. Es ist immer noch meine Heimat. Auch wenn ich akzeptiert habe, dass ich dort nicht mehr leben kann. Bis heute weiß ich nicht, wo ich zu Hause bin.“
Sina Pousset
„Vor der ganzen Klasse wurde ich für mein schlechtes Deutsch gedemütigt“
Friedhelm Höckendorff ( †) ist von Pommern nach Schleswig geflohen: „Es war der 21. Juni 1946, die Sonne war gerade aufgegangen, als meine Eltern meine beiden Schwestern und mich zur Flucht weckten. Ich war neun Jahre alt. Wir lebten auf einem Bauernhof nahe Stolp (polnisch Slupsk) in Pommern. Pommern gehörte jetzt nicht mehr zu Deutschland, die Russen vertrieben systematisch Familien aus ihren Häusern.
Meine Eltern hatten 30 000 Zloty an einen Polen gezahlt, der die Flucht Deutscher aus den Ostgebieten organisierte. Aus Bettlaken und Handtüchern hatten sie Rucksäcke gefertigt und ihre Sparbücher in die Seitentaschen eingenäht. Die Rucksäcke lagen in einem vierrädrigen Handwagen. Daneben, in einige Wolldecken eingewickelt, mein acht Wochen alter Halbbruder Dieter. So zogen wir los.
„Wir wurden oft als ‚Flüchtlingspack‘ beschimpft“, erinnerte sich Friedhelm Höckendorff.
Nach zehn Kilometern Fußmarsch stiegen wir in einen Güterwaggon, der uns ins Massenlager Stettin-Frauendorf brachte. Wir fühlten uns wie Vieh. Kinder schrien, Mütter stillten, in einer Ecke stand ein Eimer, in den man sich entledigen konnte. Im Flüchtlingslager wurden wir von russischen Soldaten gefilzt. Wer noch Wertsachen hatte, dem wurden sie weggenommen. Die Sparbücher wurden aus unseren Rucksäcken geschnitten, obwohl ich nicht glaube, dass die Soldaten etwas damit anfangen konnten.
Schließlich gerieten wir nach Schleswig-Holstein und lebten wochenlang in Durchgangslagern. Zusammengepfercht mit anderen Familien hausten wir in turnhallenartigen Räumen oder fensterlosen Dachböden auf Holz oder Stroh. Die Menschen kämpften um Nahrungsmittel und Toiletten. Mütter waren überfordert mit der Erziehung ihrer Kinder. Einmal beobachtete ich eine Frau, die ihren Stiefsohn an einem Balken festband und mit einem Gürtel verprügelte.
In einem Barackenlager nahe des Schlosses Gottorfs in Schleswig lebten wir schließlich drei ganze Jahre lang. Not macht erfinderisch, sagt man: Des faden Lageressens überdrüssig, gingen wir Kinder Beeren und Ähren sammeln und sogar jagen. Mit einigen älteren Jungs zusammen fertigten wir Floße, Reusen und Angeln, um in der Schlei Fische und Wildenten zu fangen. Trotzdem mussten wir oft hungrig zu Bett. Besonders schlimm war der erste Winter, der zu allem Unglück auch noch der kälteste seit Jahrzehnten war. Doch war diese Zeit auch abenteuerlich und erlebnisreich. Ich erinnere mich gern daran.
In der Schule war ich gut. Doch unser Lehrer, ein alter, kriegsversehrter Mann, war nicht gut auf Flüchtlingskinder zu sprechen. Vor der ganzen Klasse wurde ich für mein schlechtes Deutsch gedemütigt. Ein Schlüsselerlebnis: Ich nahm mir vor, Lehrer zu werden und niemals einen Schüler bloßzustellen. Viele Jahre später wurde ich Direktor einer Grund- und Hauptschule.
Im folgenden Sommer verdorrte die Ernte auf den Feldern. Hinzu kam, dass die Bevölkerung von Schleswig-Holstein durch uns Heimatvertriebene von 1,6 auf 3,6 Millionen angestiegen war. Alle litten Hunger. Bei den Schulspeisungen entlud sich der Frust der Einheimischen. Wir wurden oft als ‚Flüchtlingspack‘ beschimpft. Ein Mitschüler schleuderte mir einmal seine Essensdose gegen den Kopf. Die Narbe habe ich heute noch.
Nach drei Jahren bezogen wir eine eigene, winzige Wohnung. Mein Vater arbeitete bei der Bahn. Wir lebten von der Hand in den Mund. Wenn der Kohlehändler seine Ware ausfuhr, versuchten wir Briketts zu stehlen, um unsere Wohnung zu heizen. Unsere Lebensumstände waren dürftig, aber ich trat der Evangelischen Jungschar bei, lebte mich ein und fühlte mich schon bald in Schleswig zu Hause.“
Mercedes Lauenstein
„Ein Beamter sagte: ‚So lange ich hier arbeite, haben Sie als Flüchtling gar nichts zu fordern“
Annemarie Haunhorst (†) ist von Schlesien nach Melle geflohen. Ihre Enkelin war vor ihrem Tod auf ihren Spuren unterwegs:
Im April 2015 war ich das erste Mal in Schweidnitz. Die Stadt heißt heute Świdnica, aber die deutschen Grabsteine vor der Friedenskirche erinnern noch daran, dass Świdnica früher zu Deutschland gehörte. In jene Friedenskirche ging meine Großmutter Annemarie bis 1945 regelmäßig mit ihrer protestantischen Großmutter.
Danach musste sie flüchten. Kurze Zeit darauf berichtete ich meiner Oma von meiner Reise: Dass an der Kathedrale mittlerweile eine hässliche Papst-Statue steht und ich die Flurstraße, in der sie früher wohnte, wegen der neuen Straßennamen leider nicht gefunden hatte. Bei meiner Oma kamen die alten Erinnerungen hoch. Sie erzählte:
Annemarie Haunhorst als junge Frau in Melle .
„Im Februar 1945, ich war noch keine 13, pochte es bei uns an der Tür. Davor stand deutsche Militärpolizei mit Gewehren, im Volksmund auch ‚Kettenhunde‘ genannt. Sie sagten, wir hätten zwei Stunden Zeit, um unsere Sachen zu packen. Nicht mehr als ein Koffer pro Person. Dann sollten wir zum Bahnhof gehen, ein Zug würde uns wegbringen.
Mein älterer Bruder war zu diesem Zeitpunkt in Norwegen in Kriegsgefangenschaft, meine Mutter war bereits alt und schwer krank.
Mein Vater durfte nicht mit uns kommen, er leitete das Telegrafenamt in Schweidnitz und der Betrieb dort sollte aufrecht erhalten werden. Er sagte noch, die Polen oder Russen würden ihm sicher nichts tun, schließlich sei er ja für sie von Nutzen. Als wir meinen Vater das letzte Mal am Bahnhof sahen, hatte er einen kleinen Jungen an der Hand, der nur sagen konnte, dass er „Paul“ heiße. Er hatte seine Eltern verloren. Mein Vater wollte sich um ihn kümmern. Dann stiegen wir ein in einen Güterzug, von dem wir nicht wussten, wohin er uns bringen würde.
Wir waren acht Tage unterwegs, viele Menschen auf engem Raum mit wenig zu Essen. Ich hatte Angst, aber da meine Mutter so krank war, riss ich mich zusammen. In Tschechien wurden wir in einen anderen Zug verladen, der brachte uns nach Erfurt. Dort kamen wir in ein Lager.
Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt sehr schwach. Sie blutete ständig aus dem Unterleib, es gab keine Medizin. Ich versuchte, sie zu pflegen.
Zum Glück wurde uns in Erfurt ein Zimmer bei einer netten, alten Frau zugeteilt, die auch sehr gläubig war und mich in die Kirche mitnahm.
Irgendwann in dieser Zeit bekamen wir Nachricht von meinem Bruder: Er war aus Norwegen geflüchtet und lebte nun bei seiner Verlobten in der Gegend von Hildesheim. Von da an versuchten wir, einen Schein zu beantragen, der uns den Zuzug in die Westzone erlaubte, zu meinem Bruder. Der zuständige Beamte sagte jedes Mal, wenn ich kam: ‚So lange ich hier arbeite, haben Sie als Flüchtling gar nichts zu fordern.‘ Das hat mich fast verzweifeln lassen. Ich bin dann mehrmals illegal durch den Wald über die Grenze gelaufen. Da meine Mutter für diese Reisen zu krank war, war allerdings klar, dass wir einen offiziellen Zuzugsschein brauchten.
Im Frühjahr 1948 wurde uns dieser schließlich doch genehmigt. Erst kamen wir bei meinem Bruder unter, dann wurden wir ins niedersächsische Melle verlegt, bei der Familie eines reichen Fabrikbesitzers sollte angeblich Platz für uns sein. Als wir dort klingelten, machte uns niemand auf. Stattdessen hörten wir jemanden sagen: ‚Oh Gott, bloß keine Flüchtlinge.‘ Das Amt hat dann nicht darauf beharrt, dass wir dort wohnen, sondern uns einer anderen Familie zugeteilt.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur noch ein Kleid. Irgendwann hat meine Mutter mir ein neues gekauft, obwohl wir uns das eigentlich nicht leisten konnten. Eine Frau aus dem Ort sah mich darin. Ihr Sohn hat mir später erzählt, wie sie zu Hause wütend das gleiche Kleid aus ihrem Schrank riss und darauf rumtrampelte. ‚Ich trage nicht das Gleiche wie ein Flüchtlingsmädchen‘ hat sie gesagt.
In Melle erfuhr ich auch, dass mein Vater tot ist. Er hatte einen Treppensturz und war im Telegrafenamt nicht mehr nützlich. Das letzte Mal wurde er in Schweidnitz gesehen, wie er im Müll nach Essbarem suchte. Er bekam dann eine Angina und starb. Vielleicht hat sein geschwächter Körper das verschimmelte Brot nicht mehr vertragen.“
An dieser Stelle fing meine Oma an zu weinen. Mein Opa hielt ihr die Hand. Die Flucht hatte auch etwas Gutes: In Melle hat meine Oma meinen Opa kennengelernt. 1954 heirateten die Beiden. Da sie kaum Geld hatten, überließ meine verwitwete Uroma ihnen ihren Ehering. Meine Oma hat darin den Spruch „Für meine Mutter“ eingravieren lassen.
Meine Oma Annemarie ist am 17. Juni 2015 überraschend verstorben. Ihren Ehering hat sie mir vermacht. Ich trage ihn jeden Tag.
Charlotte Haunhorst
„Wie viele meiner Generation habe ich wenig über meine Vergangenheit gesprochen“
Helga Klose, 86, floh zweimal in ihrem Leben:
„Im Januar 1945 war ich zehn Jahre alt. Ich lebte mit meiner Mutter, meinen zwei älteren Schwestern und zwei jüngeren Brüdern in unserer niederschlesischen Heimat Liegnitz (polnisch Legnica). Mein Vater war im Krieg. Die Front rückte näher. Weihnachten war ausgefallen. Liegnitz befand sich im Chaos. Es herrschte Angst vor der Roten Armee und ein eiskalter Winter. Tausende Flüchtlinge strömten aus dem Osten in die Stadt. Unsere Familie hatte Glück. Eine Tante, die bei der Bahn arbeitete, informierte uns über den letzten offiziellen Zug, der Liegnitz am 31. Januar Richtung Thüringen verlassen würde.
„Von den Menschen in Thüringen fühlten wir uns gut aufgenommen. Ich denke, das lag auch daran, dass wir als tüchtig und ehrlich galten“, erinnert sich Helga Klose.
Der Zug stand weit außerhalb der Stadt. Als meine Mutter sich mit uns fünf Kindern dorthin auf den Weg machte, fragten Nachbarn: „Wollt ihr jetzt schon weg?“ Viele von ihnen kamen später nicht mehr aus der Stadt raus. Die Fahrt von Liegnitz nach Altenburg hätte normalerweise wenige Stunden gedauert. Doch wegen zerstörter Bahngleise und Tieffliegerangriffen musste der überfüllte Zug immer wieder stehen bleiben. Wir waren drei Tage unterwegs. Jedes Kind hatte einen Rucksack dabei. Pro Familie war ein Koffer erlaubt. Unseren hatte meine Mutter glücklicherweise mit Brot gefüllt, sodass wir nicht hungern mussten. Wasser, auch das für das Milchpulver meines neun Monate alten Bruders, holten wir aus der Kühlung der Lokomotive. Davon wurden wir alle krank.
Dennoch hatten wir großes Glück. Unser Zug blieb von Luftangriffen verschont. Noch heute muss ich daran denken, wie meine Geschwister und ich uns bei jedem Tiefflieger voller Angst unter die Sitze warfen. Endlich am Bahnhof Altenburg angekommen, wurden wir Flüchtlinge durchgezählt. Kurz vor unserer Familie wurde eine Grenze gezogen. Wie wir später erfuhren, erneut Glück für uns. Denn die Leute vor uns kamen in ein Dorf, das heftig bombardiert wurde. Wir wurden einem Großbauern aus Molbitz zugewiesen. Die nächsten fünf Jahre sollten wir bei ihm wohnen und arbeiten. In dieser Zeit hatten wir kein fließendes Wasser. Wir Schwestern schliefen gemeinsam auf Strohsäcke. Und wir mussten jeden Tag auf dem Feld helfen. Dafür erhielten wir Zuckerrüben, Mehl oder Kartoffeln.
Ich hatte damals oft Bauchweh vor Hunger. Kleider und Schuhe waren Mangelware. Doch von den Menschen in Thüringen fühlten wir uns gut aufgenommen. Ich denke, das lag auch daran, dass wir als tüchtig und ehrlich galten. Meine Mutter ermahnte uns beispielsweise, dass wir Eier oder Äpfel, die wir auf dem Grundstück fanden, immer beim Bauern abgeben sollten. Das haben wir auch getan.
Viele Jahre später erkannte der Bauer meine Schwester bei einem Klassentreffen in Altenburg wieder. Er lief auf sie zu und umarmte sie. In der Schule freundete ich mich mit der Tochter des Bürgermeisters an, die mir Brot mit Fett mitbrachte. Bei ihrer Oma durften wir manchmal für eine Viertelstunde in den Garten zu den Johannisbeersträuchern. In dieser Zeit lernte ich, Johannisbeeren mit Ameisen zu verspeisen. Dass ich eine gute Schülerin war, gab mir Selbstbewusstsein. Der Rektor war von meinen Leistungen so beeindruckt, dass er mir für das Gymnasium ein Taschengeld anbot.
Wie viele meiner Generation habe ich wenig über meine Vergangenheit gesprochen. Erst seit ein paar Jahren dringt immer mehr an die Oberfläche. Vieles ist nicht verarbeitet. Doch diese Zeit hat mich gelehrt, worauf es im Leben ankommt.
In meinem Mann habe ich jemanden gefunden, der mich versteht. Als wir uns beim Tanz in Altenburg kennen lernten und feststellten, dass er ebenfalls aus Liegnitz geflohen war, schweißte uns das ein Leben lang zusammen. Gemeinsam flohen wir später ein weiteres Mal – aus der DDR."
Nadine Gottman
Dieser Text erschien erstmals im Sommer 2015 und wurde am 11.3.2021 nochmals aktualisiert.