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Kommentar zur Münchner Großdemo #ausgehetzt
Asyl, Migration, Antirassismus und Frieden: 13 Uhr. Wohnen, Arbeit und Sozialpolitik: 14 Uhr. Gleichstellung von Frauen und LGBTI*: 14.30 Uhr. Was sich liest wie das Programm einer etwas drögen Sozialverbandstagung, gehört zu einem Facebook-Event, für das sich bisher mehr als 14.000 Menschen interessieren und das auf den ersten Blick wirkt wie ein krasses Open-Air-Festival: mit Rappern, Indie-Bands und Konfettikorso.
#ausgehetzt heißt die Demo, zu der ein Zusammenschluss von über 130 Organisationen aufgerufen hat – und die an diesem Sonntag in München stattfindet. Aufgeteilt in mehrere große Einzeldemonstrationen, weil da so viele Anlässe zur Wut sind, die jeder für sich schon eine Massenkundgebung ergeben: das bayerische Polizeiaufgabengesetz. Wohnungen, die sich niemand mehr leisten kann. Horst Seehofers 69 Abschiebungen nach Afghanistan als „Geburtstagsgeschenk“. Die menschenverachtende Verrohung der Sprache in der Führungsriege der CSU.
Die Angst wird so groß, dass eine „normale“ Demo nicht mehr reicht
Ist es also so weit gekommen, dass man ein regelrechtes Widerstandsfestival veranstalten muss, weil so verflucht viel schiefläuft? Ganz offensichtlich: ja. Dabei geht es nicht allein um Seehofer, um Bayern oder bestimmte Reformen. Das hier ist größer. Das Polizeiaufgabengesetz oder die – nur anscheinend einfach bloß geschmacklose – Rhetorik diverser konservativer Politiker sind ja nur einzelne Symptome einer Entwicklung, die uns große Angst machen sollte. Und genau das passiert offenbar jetzt: Die Angst wird so groß, dass eine „normale“ Demo nicht mehr reicht. Sondern dass es im verhältnismäßig reichen und zufriedenen München eine Bewegung braucht, die gegen eine sich abschottende und für die offene Gesellschaft demonstriert. Woher kommt diese Bewegung?
Bei dem Versuch, die vergangenen Monate und Jahre zu beschreiben, fällt immer wieder der Ausdruck „Rechtsruck“. Aber das Fiese ist: Da ruckt eigentlich gar nichts. Das Erschreckende spielt sich langsam ab, Schritt für Schritt. Etwa in dieser Szene: Als Seehofer von den 69 Abschiebungen sprach, da lächelte er, völlig entspannt. So wie jemand, der sich absolut sicher ist, der keinen Zweifel hat an dem, was er tut, geschweige denn an sich selbst. Der Spruch war für ihn nicht mal mehr eine Provokation, sondern ganz normal, ein Witzchen eben. Auch Markus Söder hatte prima Laune, als er den Begriff „Asyltourismus“ in die Welt setzte – wo dieser herumgeisterte, bis ihn auch Julia Klöckner von der CDU benutzte.
Die Hemmungen in den Köpfen wird kleiner und irgendwann auch die in den Herzen
Genau das ist die Gefahr: Etwas wird normal, was uns anfangs nicht normal erschien. Die Hemmung in den Köpfen wird kleiner und irgendwann auch die in den Herzen. Klar sagen noch immer viele sofort: Menschen, die hierher fliehen, um ihr nacktes Leben zu retten, als „Touristen“ zu verspotten, das geht gar nicht. Aber mal ehrlich: Hätten wir uns im „Wir schaffen das“-Sommer 2015 vorstellen können, dass Menschen in Lager gesteckt werden sollen und bürgerliche Zeitungen Debatten darüber lostreten, ob es berechtigt ist, Ertrinkende im Mittelmeer zu retten? Kaum. Und trotzdem ist es so gekommen. Was kommt noch?
Denkt man darüber nach, fühlt man sich verdammt hilflos – und zunehmend wütend. Politiker wie Seehofer machen eine Politik der Angst denen gegenüber, die „draußen“ sind – und glauben, dass sich „drinnen“ alle deshalb umso sicherer fühlen. Ein kompletter Fehlschluss, wie man nicht nur an den sinkenden CSU-Umfragewerten sieht. Und trotzdem muss man ihnen fast dankbar sein, denn die hetz-rhetorischen Festspiele der vergangenen Wochen, für die ja nun mal maßgeblich die CSU verantwortlich ist, könnten der zündende Moment gewesen sein, den es gebraucht hat. Der gesellschaftspolitische Overkill, angesichts dessen viele jetzt sagen: Stopp. Das läuft hier in eine ganz, ganz falsche Richtung.
Um mehr Menschlichkeit und gleiche Rechte für alle zu wollen, muss man nicht Grün wählen oder ehrenamtlich Deutschkurse geben
Das Interesse an den Demos zeigt jedenfalls: Es bewegt sich nicht nur ein Teil der Gesellschaft nach rechts, sondern der andere Teil reagiert in immer größerem Umfang darauf. Einen „Aufstand der Anständigen“ haben Politiker immer mal wieder gefordert. An Massendemos wie #ausgehetzt oder „AfD wegbassen“ zeigt sich, dass das nicht nur nette Worte sind. Diese Bewegung kommt weder von oben noch ausschließlich von links. Denn – surprise, liebe CSU! – um für mehr Menschlichkeit zu sein und gleiche Rechte für alle zu wollen, muss man schließlich nicht Grün oder Rot wählen oder ehrenamtlich Deutschkurse geben.
Natürlich können ein paar Tausend Demonstranten weder Seehofers Masterplan stoppen noch mal eben so Hundertausende bezahlbare Wohnungen bauen, die in Deutschland fehlen. Aber darum geht es gar nicht primär.
Politik löst auch in der gesellschaftlichen Mitte und speziell bei den ach so unpolitischen Jüngeren endlich wieder Gefühle aus, Wut gegen das eine, Begeisterung für das andere. Das könnte verhindern, dass sich allgemeine Gleichgültigkeit festsetzt, die am Ende viel gefährlicher sein kann als jede Asylrechtsverschärfung. Und das macht Mut.