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Politische Kompetenz hat nichts mit einem Studienabschluss zu tun

Foto: Sven Hoppe / dpa; Bearbeitung: jetzt

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Kevin Kühnert hat am vergangenen Dienstag bekanntgegeben, sein Amt als Vorsitzender der Jusos im November abzugeben, um für den Bundestag zu kandidieren. Als Reaktion darauf kam besonders häufig ein ganz bestimmtes Argument, warum er dafür nicht qualifiziert sei – vor allem unter dem Hashtag „Kühnert“ auf Twitter und seitens der AfD und CDU. Kühnert sei nicht geeignet, für den Bundestag zu kandidieren, denn: Er hat ja „keinen Abschluss“ – keine fertige Berufsausbildung, kein abgeschlossenes Studium. Es mangele ihm darum an Kompetenz. So jemand sei nicht fähig, politisch mitzubestimmen. Dieser Vorwurf ist in vielerlei Hinsicht absurd. Außerdem zeugt er von einem fragwürdigen Demokratieverständnis.

Es ist nicht das erste Mal, dass Kühnerts Bildungsgrad öffentlich auf diese Weise thematisiert wird. Nachdem Kühnert während der Landtagswahl 2018 den damaligen Verfassungschef Hans-Georg Maaßen kritisiert hatte, twitterte beispielsweise der Ex-FAZ-Herausgeber Hugo Müller-Vogg: „Wenn ein 29jähriger ohne Studienabschluss und ohne richtigen Job die SPD nach seiner Pfeife tanzen lassen kann, sagt das viel über das machtpolitische Talent von Kevin Kühnert – und noch mehr über den schlimmen Zustand der SPD.“ Und der Journalist Jan Fleischhauer schrieb: „So schaut’s aus, wenn der ewige Politikstudent an der Fernuni Hagen glaubt, die werktätigen Massen zu befehligen.“ Erst im vergangenen Februar riet außerdem der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel Kühnert zum Abschluss eines Studiums. Das fehle ihm noch für den Parteivorsitz. 

Die Menschen ohne hohen Bildungsgrad wollen und sollen schließlich auch vertreten werden

Zunächst einmal wird mit dieser Argumentation auch behauptet: Um in der Politik mitzumischen, braucht man einen hohen Bildungsgrad. Das ist aber glücklicherweise eben keine  Voraussetzung, um Mitglied im Bundestag zu werden. Denn: Diese Ansicht ist elitär und grenzt diejenigen aus, die etwa nicht die nötigen finanziellen Mittel oder den familiären Rückhalt für eine akademische Ausbildung hatten oder vielleicht auch einfach andere Interessen haben – und die trotzdem harte Arbeit leisten und wichtige Lebenserfahrung mitbringen. Kevin Kühnert hat nach seinem Abitur ein freiwilliges soziales Jahr gemacht, ein Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft begonnen und gut dreieinhalb Jahre lang in einem Callcenter gearbeitet. Und sich inzwischen 15 Jahre lang in der SPD engagiert. Menschen wie ihm vermittelt das Argument, man dürfe erst mit einer Berufsausbildung oder abgeschlossenem Studium in der Politik mitmischen: Ihr seid weniger wert und solltet deshalb weniger mitbestimmen dürfen. Nehmen wir zum Beispiel Paketzusteller*innen und Supermarktmitarbeiter*innen: Berufe, für die eine abgeschlossene Berufsausbildung nicht zwingend notwendig ist. Die Arbeit dieser Menschen ist – wie insbesondere die Corona-Pandemie zeigte – gesellschaftlich aber unverzichtbar. Auf deren Recht auf politische Mitbestimmung können wir dagegen verzichten? Genau das können und sollten wir nicht.

Denn wir leben in einer repräsentativen Demokratie, in der Bürger*innen ihre Interessensvertreter*innen wählen. Diese Interessensvertreter*innen sollen die Interessen unterschiedlicher Mitglieder der Gesellschaft vertreten und sollten deren Lebensrealitäten – in aller Vielfalt – auch kennen. Die Menschen ohne hohen Bildungsgrad wollen und sollen schließlich auch vertreten werden. Kevin Kühnert selbst reagierte auf die Kritik daran, dass er keine Ausbildung hat, solidarisch mit den Menschen in der Gesellschaft, denen es auch so geht. Deren Lebensleistung werde damit „mit Füßen getreten“.

Kompetenz ist nicht zwangsläufig abhängig vom Bildungsgrad

Außerdem: Kompetenz ist nicht zwangsläufig abhängig vom Bildungsgrad. Es ist sogar eine gefährliche Vereinfachung zu behaupten, darin bestehe ein konsequenter Zusammenhang.  Es gibt in ihrer Funktion kompetente Menschen ohne abgeschlossenes Studium oder Berufsausbildung – beim Thema Klimawandel wären da die jungen Aktivist*innen von Fridays for Future ein gutes Beispiel. Genauso, wie es inkompetente Menschen mit abgeschlossenem Studium oder Berufsausbildung gibt. Alice Weidel von der AfD hat einen Doktortitel, Paul Ziemiak, Generalsekretär der CDU, hat sein Studium der Rechtswissenschaft nie abgeschlossen. Um deren Kompetenz zu beurteilen, braucht es weit mehr als einen Blick auf deren Bildungsgrad. Es braucht eine inhaltlich kritische Auseinandersetzung mit der Politik, die sie betreiben. Mit ihren Forderungen und deren Auswirkungen, der Durchsetzungs- und Überzeugungskraft, die sie mitbringen. Mit der Frage: Für wessen Interessen stehen sie ein – und für wessen nicht?

Es ist ein Ablenkungsmanöver 

Und da liegt die größte Schwierigkeit des Arguments, jemand wie Kevin Kühnert – „ohne Abschluss“ – sei nicht kompetent genug, um in der Politik Verantwortung zu tragen: Es ist ein Ablenkungsmanöver von der wichtigen Auseinandersetzung mit politischen Inhalten – dem, wodurch man spezifische Kompetenz viel eher bestimmen kann. Man muss mit Kevin Kühnert nicht einer Meinung sein – man kann seine politischen Ideale und Interessen diskutieren und ablehnen. Aber ihn allein aufgrund seines Bildungsgrades von vornherein für unfähig zu erklären, macht jede inhaltliche Auseinandersetzung von vornherein unmöglich. Und erstickt wichtige, politische Debatten im Keim. Es gibt genügend gute Gründe, jemanden nicht in einem politischen Amt, etwa im Bundestag, sehen zu wollen. Faschistische, rechtsextremistische Gesinnung und Forderungen zum Beispiel. Ein „zu niedriger” Bildungsgrad gehört aber nicht dazu. Denn das offenbart ein fragwürdiges Verständnis von politischen Debatten und Demokratie.

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