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Kommentar einer britischen Journalistin
Großbritannien ist ein geteiltes Land – so viel zeigt das Ergebnis des EU-Referendums, bei dem die Brexit-Kampagne mit 51,9 Prozent der Stimmen triumphiert hat. Während wir noch das Ergebnis einer der unmoralischsten Kampagnen in unserer politischen Geschichte verarbeiten, sehen wir jetzt schon, dass es viele und sehr verschiedene Brüche gibt. Das Ergebnis scheint nahezulegen, dass einer dieser Brüche zwischen Alt und Jung verläuft. Das mag sehr wahr sein, aber Politiker, Experten und die Bevölkerung sollten sich davor in Acht nehmen, sich über alte Wähler lustig zu machen. Denn wer das tut, versteht nicht, warum es überhaupt zum Brexit gekommen ist.
Großbritannien hat also offiziell beschlossen, die EU zu verlassen – das ist der Satz, mit dem viele Menschen von beiden Seiten der Kampagne immer noch klarzukommen versuchen. Aber Geschichten manifestieren sich schnell und nicht immer korrekt.
Die Zahlen zeigen, dass 75 Prozent der Wähler zwischen 18 und 24 für den Verbleib stimmten, während das nur 39 Prozent der über 65-jährigen taten. Die Tatsache, dass die ohnehin sehr hohe Wahlbeteiligung von 72,2 Prozent (bei der Parlamentswahl vor einem Jahr lag die Wahlbeteiligung bei 66,1 Prozent) in Gegenden mit vielen älteren Wählern besonders hoch war, lässt vermuten, dass die ältere Generation einen wesentlichen Anteil an den zwei Prozent Vorsprung der Brexit-Kampagne gehabt hat.
Und so hat sich schon ein Narrativ geformt: Die Alten sind schuld. Sie wurden beschimpft, weil sie eine Zukunft für die jüngere Generation gewählt haben, die diese überhaupt nicht will. Natürlich sprechen die Zahlen sehr eindeutig für sich. Aber man verfällt in zu pauschale Urteile über die alten Wähler, wenn man sich die Gründe für ihr Votum nicht sehr detailliert anschaut.
Es waren schließlich vor allem Angst, Verärgerung und ein Gefühl von Machtlosigkeit, die viele Menschen dazu gebracht haben, für den Brexit zu stimmen. In den Zeiten vor dem Referendum wurde das Land von einigen als Land im Niedergang betrachtet; Die Kampagnen von Nigel Farage und Boris Johnson haben genau diese Gefühlslage genutzt und der Bevölkerung gesagt: Stimmt für den Brexit, macht Großbritannien wieder groß. Es wird nicht sehr verwundern, dass Ältere dafür anfälliger sind. Ich sage nicht, dass es das besser macht. Aber vielleicht nachvollziehbarer.
Denn wir haben in den vergangenen Jahrzehnten ja tatsächlich einen Niedergang des Lebensstandards in diesem Land erlebt. Gemeinden sind kollabiert, ramponiert von einer Regierung, die es versäumt hat, rechtzeitig und sinnvoll zu investieren. Sozialer Wohnungsbau ist zum Stillstand gekommen, während die Mieten unaufhörlich steigen. Für ältere Menschen war diese Wahl also zumindest teilweise ein Symbol dafür, wieder Kontrolle über die Situation zu erlangen. Ein irrationales Gefühl, natürlich.
Aber leider sind die ja die stärksten. Und was hatten die Brexit-Gegner dem entgegenzuhalten? Bei jeder Gelegenheit zauberten sie „Experten“ hervor – und übersahen dabei, dass Fakten oder Zahlen für viele Menschen keine Bedeutung mehr hatten. Weil sie sie nicht spürten.
Wie auch? Was sind Fakten denn schon, verglichen mit dem Kernelement dieser ganzen Kampagne: hasserfüllte Botschaften über Migration. Immigranten wurden in diesem Wahlkampf zu jeder Gelegenheit zu Sündenböcken gemacht und dämonisiert – Höhepunkt einer Anti-Immigration-Rhetorik, die von unseren Politikern und den Medien in den vergangenen Jahren aufgebaut wurde.
Diese Anti-Einwanderer-Rhetorik ist ein Phänomen, das über ganz Europa hinwegfegt. Es ist zu einer gebräuchlichen Wahrheit geworden, Fremde für all unsere Probleme verantwortlich zu machen. Das ist in vielerlei Hinsicht eine Rückkehr in die 1930er Jahre; in den Hass und die Angst, die damals die Politik charakterisierten. Und es ist eine Geisteshaltung, die man unter keinen Umständen weiter aufblühen lassen darf.
In den Tagen und Wochen, die jetzt folgen, werden wir mehr über die Unterschiede sprechen, die diese Abstimmung scheinbar geformt haben: die zwischen den Generationen, Klassen, Parteien. Wichtig dabei: Um zu verstehen, wie unser Land „post-EU“ aussehen könnte, müssen wir aufhören, die Menschen zu beschimpfen, die für den Brexit gestimmt haben. Wir müssen zu verstehen versuchen und dann anfangen, unsere Politik zum Besseren zu wenden.
Maya Goodfellow , 27, ist freie Journalistin aus London. Sie arbeitet für The Independet und die Plattform Media Diversified. Sie hat sich auf die Bereiche Politik und Feminismus spezialisiert. Übersetzt wurde der Text von Christina Waechter.