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„Solange Kinder noch spielen, gibt es Hoffnung“

Foto: Panagiotis Balaskas / AP

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Triggerwarnung: Dieses Interview thematisiert psychische Erkrankungen, Straftaten und Suizid.

Als Katrin Glatz-Brubakk, 55, 2015 das erste Mal nach Lesbos kam, war sie sich sicher, dass die EU schnell eine Lösung für die Menschen in den Lagern finden würde. Nun, im Jahr 2021, arbeitet die gebürtige Norwegerin noch immer für Ärzte ohne Grenzen als Kinderpsychologin auf Lesbos und kümmert sich um die etwa 2600 Kinder im Camp Kara Tepe, das errichtet wurde, nachdem das alte Camp Moria durch einen Brand zerstört wurde.    

Im Interview spricht sie über die Träume und Ängste der jüngsten Geflüchteten, über Traumata, Apathie und Suizidversuche, und über Kinder, die selbst unter schwierigsten Bedingungen den Wunsch haben, irgendwann anderen Menschen helfen zu können.

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Seit 2015 ist Katrin Glatz-Brubakk regelmäßig für Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos.

Foto: Ärzte ohne Grenzen / Dora Vangi

jetzt: Katrin Glatz-Brubakk, seit September steht das neue Lager Kara Tepe. Wie sind die Bedingungen dort?

Katrin Glatz-Brubakk: Langsam, sehr langsam, wird versucht, die Bedingungen im neuen Lager zu verbessern. Nach drei Monaten wurden Duschen installiert. Die Menschen können zwar nur einmal pro Woche duschen, aber immerhin besser als nichts. Ein paar von den Zelten wurden versetzt, damit sie nicht mehr im schlimmsten Matsch stehen. Aber das ändert nicht viel: Es ist einfach menschenunwürdig. Am Mittwoch bin ich durchs Lager gegangen. Trotz Minusgraden laufen die Kinder ohne Schuhe durch den Matsch. Alles ist feucht. Die Zelte haben keine Heizung und dadurch können weder Decken noch Klamotten trocknen. Weil die Menschen Angst haben zu erfrieren, stellen sie sich Heizöfen in das Zelt. Aber in den Zelten ist es eng. Am Mittwoch ist ein Zelt abgebrannt, weil ein Ofen umgekippt ist. Zum Glück war es nur ein Zelt, aber der Winter ist lang. Jedem muss klar sein, was noch alles passieren kann. 

Das bringt für die Menschen im Lager vermutlich auch Erinnerungen an das Feuer im Camp Moria zurück. Wie haben die Kinder dieses Feuer erlebt?

Das Feuer war sehr traumatisch. Mitten in der Nacht aufzuwachen, loslaufen zu müssen, um nicht zu verbrennen, war wieder eine Erinnerung an den Krieg und eine neue Bedrohung im Lager. Viele Kinder haben nun angefangen, schlafzuwandeln – etwas, das ich in meinen vorherigen acht Aufenthalten nie beobachtet habe. Schlaf sollte eigentlich der Zustand sein, in dem wir Energie bekommen und uns ausruhen können. Aber wenn man andauernd davon träumt, dass es brennt oder man sich retten muss, finden die Kinder selbst im Schlaf keine Ruhe. Auf lange Sicht ist das für die Gehirnentwicklung der Kinder alles andere als gesund.

„Es gibt Kinder, die einfach aufgeben, weil sie nicht wissen, ob das Leben wert ist, gelebt zu werden“

In Griechenland gibt es aufgrund der Corona-Pandemie relativ strenge Ausgangsbeschränkungen. Wie beeinflusst das die Situation für Sie und die Menschen im Lager? 

Wir versuchen so gut wie möglich trotz der Corona-Restriktionen zu arbeiten. Manchmal können unsere Patienten aber nicht zu Terminen kommen, weil die Lager komplett geschlossen werden oder es Beschränkungen gibt. Das Einschneidendste ist, dass die Insel unter einem strengen Lockdown ist und all die Angebote, die helfen könnten, diese langen inhaltslosen Tage ein wenig zu füllen, nicht mehr möglich sind. Die Kinder können zu keinen Schul- oder Spielaktivitäten gehen, Selbsthilfegruppen für Eltern finden nicht mehr statt und die Leute dürfen nur noch drei Stunden pro Woche aus dem Lager rausgehen. 

Wie sieht der Alltag – vor allen Dingen für die Kinder  – im Camp aus?

Die Tage verstreichen, ohne dass es eine Aussicht auf Besserung gibt. Die einzige Aktivität ist, im Lager im Matsch oder Schnee herumzugehen. Kein Tag hat Inhalt oder Struktur. Die Kinder wissen nicht, wann sie Essen bekommen, denn das hängt davon ab, wie lang die Schlange bei der Ausgabe ist. Es gibt weder Schule, noch Spielmöglichkeiten. Das sind aber Dinge, die unbedingt nötig sind, damit es Kindern gut gehen kann – besonders, wenn die Kinder traumatisiert sind. Man merkt ihnen an, dass sie das sehr belastet. 

Wie zeigt sich das?

Wir haben Kinder, die total apathisch werden. Die aufhören zu spielen, aufhören rauszugehen, oder sogar aufhören zu sprechen. Ich behandle ein Kind, das seit acht Monaten kein einziges Wort mehr gesagt hat. Es gibt Kinder, die Panikattacken haben, die nicht mehr wissen, wie sie mit ihren Emotionen umgehen sollen und um sich treten, schreien, Atemnot bekommen. Manche schlagen mit ihrem Kopf gegen die Wand, bis sie bluten, reißen sich die Haare aus. Und es gibt Kinder, die einfach aufgeben, weil sie nicht wissen, ob das Leben wert ist, gelebt zu werden.  

Woran erkennen Sie das?

Weil sie versuchen, sich das Leben zu nehmen. 

Kinder versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Ja, leider nicht gerade wenige. Wir hatten in diesem Jahr schon drei Suizidversuche von Kindern. 2020 waren es 50. Es ist wirklich sehr, sehr traurig. Ich habe die Hand von jungen Kindern – acht Jahre, zehn Jahre alt – gehalten und versucht, sie davon zu überzeugen, dass das Leben lebenswert ist. So etwas vergisst man nie wieder.

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Katrin Glatz-Brubakk erzählt, dass viele Kinder die schlimmen Dinge, die sie erlebt haben, zeichen.

Foto: privat
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Aber sie sagt, dass die Kinder auch ihre Träume und Hoffnungen zeichnen: Die Schule, ihre Familie, die sie auf der Flucht zurückgelassen, auf der Überfahrt oder im Krieg verloren haben.

Foto: privat
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Katrin Glatz-Brubakk: „Ein Junge hat immer wieder sein grünes Fahrrad gezeichnet, das er im Krieg verloren hat. Sein einziger Wunsch war es, dieses Fahrrad wieder fahren zu können.“

Foto: privat
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Foto: privat
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Foto: privat

Wie nehmen sie die Kinder innerhalb des Camps wahr? Bilden sich Freundschaften? Spielen die Kinder miteinander?

Was mir immer wieder imponiert, ist die Resilienz, die viele Kinder noch aufbringen. Sie spielen noch, trotz der Umstände. Es gibt keinen Sandkasten, keine flache Fläche, um Fußball zu spielen. Solange Kinder noch spielen, gibt es Hoffnung. Aber was mir große Sorge macht, ist, dass es keine sicheren Areale für Kinder gibt. Wir wissen, dass Kinder im Camp vergewaltigt wurden. Kein Kind sollte in diesen Lagern aufwachsen. 

„Letzten Endes träumen alle Kinder im Lager von einem normalen Leben“

Wie versuchen Sie, den Kindern, die in einer so furchtbaren Situation aufwachsen, einen positiven Ausblick zu geben? Viele von ihnen sind ja seit Monaten auf Lesbos, ohne Aussicht darauf, dass sich etwas verändert. 

80 Prozent der Menschen im neuen Lager sind vor November 2019 angekommen. Die Kinder sind verzweifelt, manche sind den Eltern böse, weil sie sagen: „Wir sind aus dem Krieg geflüchtet, weil wir auf ein besseres Leben gehofft haben und jetzt leben wir in diesem Elend.“ Wir versuchen, sie daran zu erinnern, dass sie noch ein langes Leben vor sich haben, dass es eine Lösung geben wird und niemand für immer in diesem Lager leben muss. Auch für diese Kinder gibt es eine Zukunft. Wir wollen, dass sie sich wieder ihre Träume und Hoffnungen ins Gedächtnis rufen. Wir hoffen, dass die Kinder die Kraft finden, weiter zu überleben.

Wovon träumen diese Kinder?

Letzten Endes träumen alle Kinder im Lager von einem normalen Leben. Vor allen Dingen davon, wieder zu Schule gehen zu können. Etwas zu lernen, eine Ausbildung machen zu können, Freunde zu treffen, eine Struktur zu haben. Viele hoffen, irgendwann selbst Menschen helfen zu können. Manche sagen: „Ich weiß jetzt, wie schlimm es ist Flüchtling zu sein, deswegen möchte ich Arzt oder Anwalt werden.“ 

Wie erleben sie die Eltern dieser Kinder? Wie gehen sie damit um, wenn sie merken, dass ihr Kind stark traumatisiert ist?

Sie sind verzweifelt, möchten den Kindern helfen und alles tun, damit es ihnen besser geht. Aber sie sehen natürlich auch, dass ihre Kinder nicht heilen können, solange sie in diesem Lager sind. Die allermeisten Kinder haben die Symptome erst, seitdem sie in dem Lager sind. Fast alle Eltern imponieren mir aber sehr, weil sie die Kraft aufbringen, für ihre Kinder da zu sein und versuchen, ihnen Geborgenheit zu schenken, obwohl sie in diesen menschenunwürdigen Bedingungen leben.  

Für traumatisierte Kinder ist das Wichtigste, dass sie Geborgenheit spüren und sie aus der Situation, die sie traumatisiert hat, herauskommen. Das ist in diesem Fall nicht möglich, oder?

Leider überhaupt nicht. Deswegen können die Kinder hier im Lager nicht heilen. Je länger sie bleiben, desto schlechter geht es ihnen. Der Teil des Gehirns, der für die gesunde Entwicklung verantwortlich ist, der in diesem Alter lernt, zu planen, Gefühle zu kontrollieren, zu lernen, sich zu konzentrieren, bekommt nicht genügend Energie, um sich zu entwickeln. Denn die Kinder müssen durchgehend aufpassen, was um sie herum passiert. Sie haben andauernd das Gefühl, in Gefahr zu sein. Jeder einzelne Tag, den die Kinder in diesem Lager verbringen müssen, ist schlecht. Je länger das Trauma nicht heilen kann, desto größer die Auswirkungen. 

„Die Lebensrealität der Kinder ist das Unrecht“

Welche Auswirkungen sind das?

Konzentrationsstörungen. Die Fähigkeit, alltägliche Dinge zu planen, die Fähigkeit, sich in neuen Umgebungen zu integrieren und sich gegenüber den Mitmenschen empathisch zu verhalten, wird leiden. 

Was lernen Kinder, wenn sie in solchen Bedingungen aufwachsen, über die Gesellschaft und über das Wesen der Menschen?

Die Gefahr ist groß, dass sie denken: „Es gibt keine Menschenwürde und für mich gibt es keine Rechte.“ Ihnen fehlen Vorbilder, die ihnen zeigen, wie man gut und empathisch miteinander umgeht. Die Lebensrealität der Kinder ist das Unrecht. Ich glaube, dass es auch deshalb wichtig ist, wenn man Geflüchtete trifft, die lange in solchen Bedingungen gelebt haben, dass man freundlich ist, lächelt und diese Person menschlich behandelt. 

Wie hat sich Ihr persönlicher Blick auf Europa in den vergangenen Jahren verändert?

Ich bin zum neunten Mal auf Lesbos. Im August 2015, als ich das erste Mal hier war, hatte ich noch die Hoffnung, dass Europa diese Situation in den Griff kriegen und sich um die Menschen kümmern würde. Ich kann nicht aufhören zu hoffen, dass das eines Tages noch geschieht. Aber in diesen fünfeinhalb Jahren hat sich rein gar nichts verbessert. Und wir wissen, dass das, was hier passiert, jedem einzelnen Verantwortlichen bekannt ist. 

Was ist ihr Wunsch für dieses Camp?

Seit fünf Jahren erzählen wir, was hier passiert. Seit fünf Jahren warnen wir. Es scheint nicht möglich zu sein, dass die Geflüchteten auf dieser Insel ein menschenwürdiges Leben führen. Deswegen ist die einzige Lösung: Dieses Camp muss aufgelöst werden. Die Menschen müssen in Sicherheit gebracht werden. 

Anmerkung der Redaktion: Wenn Du Dich selbst von Depressionen oder Suizidgedanken betroffen fühlst oder auf andere Weise mental leidest, kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge oder U25. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 gibt es Hilfe von Berater*innen, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

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