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Reportage: Unterwegs mit dem jungen Lokführer Janik beim Bahnstreik in München
Glaubt man den Schlagzeilen einiger Boulevardblätter der vergangenen Jahre, dann war Claus Weselsky schon der „Bahnsinnige“ (BZ), „unsolidarisch“ (Bild) und „dreht völlig durch“ (Hamburger Morgenpost). Janik Täckelburg sieht das ein bisschen anders. Für ihn ist er einfach „der Claus“. So habe er den Chef der Bahn-Gewerkschaft GdL nennen dürfen, als die beiden sich auf einer Veranstaltung im vergangenen Sommer begegnet sind. Janik ist 20 Jahre alt, seit einem Jahr fertig mit der Ausbildung zum Lokführer und als er von Weselsky das Du angeboten bekam, fand er das ziemlich sympathisch. Sympathisch findet er ihn auch jetzt, da viele Bahnreisende ihn zum Fürchten finden: „Der macht seinen Job sehr gut. Er weiß, wie man Leute mobilisiert.“
Der durchmobilisierte Janik steht am Donnerstagnachmittag auf Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs, es ist Streiktag Nummer zwei. Und genau wie Weselskys berüchtigter Schnauzer strahlt auch der Backenbart von Janik eine grimmige Entschlossenheit aus. Dazu die leuchtorange Weste mit dem großen GdL-Logo auf dem Rücken – zwei Mittelfinger habe Janik dafür schon von wütenden Bahnkunden kassiert. Er nehme das nicht persönlich, sagt er, und zwei Mittelfinger seien doch gar nicht so viel. „Man ist als Mitarbeiter der Bahn ja einiges gewohnt.“
„Ich kann den Ärger verstehen“
Wenn Janik davon erzählt, klingt das erstmal nicht zornig, sondern verständnisvoll. Was bleibt ihm auch anderes übrig. Zornig sind ja schon die anderen. Er sagt: „Ich kann den Ärger verstehen, ich persönlich finde, dass der Streik ein bisschen zu kurzfristig angekündigt wurde.“ Dann steckt er sich die nächste Zigarette an, Lucky Strike, eine nach der anderen, pausenlos. Gibt nunmal wenig zu tun an einem Tag wie diesem, an dem es vor allem darauf ankommt, möglichst konzentriert und umfassend Arbeit zu vermeiden. An dem die Züge keine Verspätung haben, sondern möglichst gar nicht erst losfahren sollen. Und an dem es, natürlich, um viel mehr geht. Obwohl der Streik in der Nacht auf Freitag offiziell beendet wurde – vorbei ist der Arbeitskampf wahrscheinlich noch nicht. Anfang kommender Woche will die GdL bekannt geben, ob sie erneut streikt.
Zehntausende Passagiere waren bereits betroffen, hunderte Züge sind ausgefallen in den ersten beiden Tagen des Streiks. Auf 100 Millionen Euro Schaden für die deutsche Wirtschaft werden die Folgen vom Institut der Deutschen Wirtschaft geschätzt. Am Tag. Geht aber eben nicht anders, findet Janik. Im ersten Quartal 2021 sind die Reallöhne gegenüber dem Vorjahr um zwei Prozent gesunken. Die GdL will mit ihrer Forderung ansteuern gegen die Inflation. Unter anderem fordert sie Gehaltserhöhungen um 3,2 Prozent über einen Zeitraum von 28 Monaten. Die Bahn möchte jedoch, dass dieser Zeitraum 40 Monate beträgt. Und so ging es hin und her, bis schließlich gar nichts mehr ging. „Man kann sich nicht alles gefallen lassen“, sagt Janik. Er und seine Kolleginnen und Kollegen hätten während der ersten, zweiten und dritten Corona-Welle gearbeitet. Tag und Nacht. Teilweise in fast vollständig leeren Zügen. Teilweise in überfüllten Zügen mit erhöhter Infektionsgefahr gerade für die Zugbegleiter, die hier ja auch demonstrieren. Genauso in den Tagen nach der Flutkatastrophe. „Und trotzdem gibt es vom Arbeitgeber kein Dankeschön, keine Prämie. Das sorgt für schlechte Stimmung.“ Deshalb sägt Janik nun in seiner orangenen Streikweste an der Beliebtheit seines Arbeitgebers und damit sägt er auch an seinem eigenen Lokführerstuhl, um hoffentlich bald noch komfortabler darauf sitzen zu können.
Den Ärger der Fahrgäste könne Janik verstehen. Er selbst fährt ja auch lieber einen Zug, als tatenlos auf einem Gleis daneben rumzustehen. Und trotzdem findet er, dass seine Kollegen und er allen Grund haben, zu streiken. Lokführer wollte Janik werden, seitdem 2017 die neue ICE-Strecke von Berlin nach München fertiggestellt war. Drei, vier Mal habe er sich damals als Teenager eine große TV-Dokumentation über die neue Strecke auf Youtube angeschaut. Die Strecke war eine Verheißung: Sie würde ihn, der seitdem er zwei ist, in Ingolstadt wohnt, schneller in die Heimat seiner Eltern bringen, nach Sachsen-Anhalt. Da war ihm klar, was er einmal arbeiten wollen würde. Heute sagt er: Aber doch nicht um jeden Preis.
Wenn er sich undankbar behandelt fühlt, dann müsse er sich auch dagegen wehren
Vielleicht, sagt er, habe seine Sicht auf die Dinge damit zu tun, dass er und seine Familie aus Ostdeutschland stammen. „Die Erziehungsweise ist da einfach ein bisschen bodenständiger“, sagt er. „Man schätzt einerseits, was man hat. Andererseits lässt man sich nicht alles gefallen.“ Janik sei zum Beispiel sehr dankbar dafür, dass er als Lokführer einen sicheren, unbefristeten Job hat, der ihm Spaß macht. Aber wenn er sich undankbar behandelt fühlt, wie jetzt, dann könne und müsse er sich doch auch mit gutem Gewissen dagegen wehren.
Am Gleis 11 in München sind an diesem Donnerstagnachmittag rund 20 Leute von der GdL zusammengekommen. Beinahe die Hälfte der Streikenden hier hat ihre Wurzeln in Sachsen-Anhalt, Sachsen oder Thüringen. Manche tragen Warnwesten, die meisten sind in zivil mit Turnschuhen und T-Shirts da. Es wird geplaudert und Kaffee getrunken, während die Durchsage in der Bahnhofshalle verkündet: Regionalbahn 72 nach Memmingen fällt aus, der ICE 594 nach Berlin auch, der RE 9 nach Ulm auch, und so weiter und so fort. Janik und die anderen sind am Gleis, weil ein Streik nunmal auch bedeutet, Präsenz zu zeigen. Gegenüber den Kolleginnen, die trotzdem arbeiten. Gegenüber den Passagieren. Und sei es nur, um einen Mittelfinger präsentiert zu bekommen. Den Ärger kassieren, den die GdL und er mit ihrem Tun auslösen, das gehöre dazu. „Wir wollen den Kunden so wenig wie möglich zumuten.“, sagt Janik. Wobei das „so wenig wie möglich“ eben heißt, dass zwei Tage lang der Großteil der Züge in Deutschland nicht gefahren sind.
Man muss nur ein paar Minuten die Gleise des Münchner Hauptbahnhofs ablaufen, und schon kommt man ins Gespräch mit denen, die in Eile sind, aber gar nicht wissen, wohin sie mit dieser Eile sollen, weil der Zug, zu dem sie sprinten, nicht fährt. Vor der Anzeigetafel steht eine Gruppe von Mitte-20-jährigen Niederländern in ausgebeulten Jacketts, Typ Barney-Stinson-Fans. Seit ein paar Tagen reisen sie quer durch Deutschland. Heute sollte es nach Heidelberg gehen. Wird nichts. Das Airbnb haben sie schon gecancelt. „It’s sick“, fasst einer von ihnen die Haltung zum Streik zusammen. Er selbst arbeitet bei einer IT-Firma und hält diesen Streik für eine „nuclear option“. Wer eine gute Arbeit habe und davon leben kann, der müsse sich doch nicht beschweren und schon gar nicht streiken. Anderen ginge es viel schlechter. Es sind aber auch nachsichtige Menschen an den Gleisen unterwegs. Die sich über ihren ausgefallenen Zug ärgern und trotzdem Verständnis für den Streik haben. Aber selbst streiken? Das würden nur die wenigsten.
Wer heute studiert hat, der ist irgendwie dazu verpflichtet, seinen Job zu lieben
Womit man schon beim Thema wäre, das nicht nur die vier Niederländer und Janik betrifft, sondern eine ganze Generation. Nur noch ein Bruchteil der Jüngeren ist Mitglied in einer Gewerkschaft. Warum sollte man auch? Es will nicht so recht passen zu freiberuflichen Modedesignern, zu in rastlosen Agenturen angestellten SEO-Managerinnen und auch nicht zu sich selbst ausbeutenden 40-Prozent-Stellen-Doktorandinnen.
Wer heute drei, fünf oder zwölf Jahre studiert hat, der ist irgendwie dazu verpflichtet, seinen Job bitteschön zu lieben. Und falls es mal knirscht mit der Entfristung oder mit der Gehaltsverhandlung, dann sucht man den Fehler halt bei sich selbst – anstatt 0,7 Prozent seines Bruttogehalts, wie Janik, an eine Gewerkschaft zu zahlen. Janik sagt: „Man sollte mal hinterfragen, was der Arbeitgeber so macht.“ Überraschenderweise haben laut einer Forsa-Umfrage 62 Prozent der unter 30-jährigen Deutschen Verständnis für den Streik. Bei den über 60-Jährigen sind es deutlich weniger.
Irgendwann, als Janik sich gerade mal wieder eine Zigarette ansteckt, kommt eine junge Frau auf ihn zugestürmt. Sie wirkt aufgelöst und wedelt mit ihrem auf einem zerknüllten A4-Blatt gedruckten Online-Ticket vor ihm herum. Es könnte nun eine Salve an Beschimpfungen folgen. Oder Mittelfinger Nummer drei an diesem Tag. Aber nein. Sie will nur wissen, wo ihr verdammter Zug abfährt. „Da lang“, sagt Janik, „von Gleis 10 aus geht es nach Salzburg.“ Sie zieht den Zettel zurück, und ohne Danke zu sagen, hastet sie davon. Vielleicht wäre das auch ein kleines bisschen zu viel.