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Iraner in Eriwan
Mahtab hat ihren Eltern erzählt, sie wolle eine neue Kultur entdecken. Irgendwie stimmt das auch. Aber die Eltern dachten an Sehenswürdigkeiten, Wandertouren, Museen. Mahtab dachte an Drinks, laute Musik und die kurzen Kleider in ihrem Koffer.
Die Reise zum ersten Bier war 700 Kilometer lang und dauerte 15 Stunden. Sie begann zu Hause in einem Vorort von Teheran, Islamische Republik Iran. Im Bus war es stickig, in Schlangenlinien ging es durch die Berge Richtung Armenien. Mahtab wird schlecht, wenn sie daran denkt. Schlafen war schwierig, die Übelkeit, die Vorfreude. Auf der Fahrt habe niemand gebetet, betont sie, nicht fünfmal, nicht viermal – gar nicht. Ein Bus voller Ungläubiger, würden die Mullahs sagen. Sie lacht heiser. Hinter der Grenzbrücke hat sie sich und ihrer Freundin das Kopftuch heruntergerissen. Neben der Passkontrolle dann der Kiosk mit Kaugummis, Zigaretten. Und vor allem: Bier.
Weitere neun Stunden Fahrt, zwei Bars, einen Club und viele Drinks später liegt Mahtab auf einer Bank am Opernplatz im Zentrum von Eriwan, der Hauptstadt von Armenien. Die schwarzen Locken trägt sie offen, goldene Highheels, bauchfreies Top, Marlene-Dietrich-Hose, die Beine liegen auf den Knien ihrer Freundin Dilara, der Kopf auf der Brust von Babak. Auch nur ein Freund, sagt sie. Neben ihnen wankt ein Mann über den Rasen, Iraner, er telefoniert mit seiner Frau daheim: „Alles in Ordnung Schatz, mach dir bloß keine Sorgen.“ Dann fällt er um.
„Kaum wird es lustig, heißt es plötzlich: Aber wir sind doch Muslime!“
Dienstagnacht Ende März, kurz nach ein Uhr morgens, gerade sind Mahtab und ihre Freunde aus der Kellerdisco Downtown Club gestolpert, die sich für zwei Wochen den Gästen aus dem benachbarten Gottesstaat verschrieben hat. Eigentlich wollten sie nur kurz Luft schnappen, Schlafmangel und Alkohol fahren aber langsam in die Muskeln ein. Babak will ins Bett, allein.
Mahtab: „Und das soll’s schon gewesen sein? Machen wir irgendwo Afterparty? In meinem Zimmer?“
Babak: „Ist gut jetzt, du hast erstmal genug, Mahtab.“
Mahtab: „Pff, kaum wird es lustig, heißt es plötzlich: Aber wir sind doch Muslime!“
Morgen wollen sie weiterfeiern. Und übermorgen. Sechs Nächte wach bis zur Rückreise am Montag. Warum? „Weil wir müssen“, sagt Babak. „Wann denn sonst?“ fragt Mahtab. „Das hier ist Armanestan! Schlafen können wir dann daheim.“ Mahtab heißt Mondlicht.
Mahtab und ihre Freunde sind vier von Hunderttausenden iranischen Touristen, die jedes Jahr nach Armenien kommen. In diesem Jahr erwartet die armenischen Tourismusbehörde einen neuen Rekord. Die meisten Iraner verreisen während Nouruz, dem persischen Neujahr von Ende März bis Anfang April, mit zwei Wochen die längsten Ferien des Jahres. Das Zentrum von Jerewan verwandelt sich dann in eine iranische Amüsier-Exklave: Restaurants und Hotels stellen auf halal um, die Tourguides kleben persisch-arabische Schriftzeichen an ihre Busse, an jedem zweiten Abend findet ein Konzert von Exil-Iranern statt, deren Musik in ihrem Geburtsland verboten ist. Die Clubs öffnen nun auch wochentags ihre Türen, teilweise unter dem Motto „Persian only“. Hier wird Armenien zu Armanestan, wie es im Persischen heißt.
Zum Feiern in ein anderes Land zu fahren, ist heutzutage keine Besonderheit. Junge Deutsche begießen ihr Abitur in Lloret de Mar, Amerikaner den Spring Break im mexikanischen Cancun, Briten betrinken sich gerne auf Ibiza. Sie suchen Hitze und billiges Bier in Bettenburgen. In der islamischen Welt stecken hinter dem Partytourismus andere Gründe. Wer aus Glitzermetropolen wie Manama in Bahrain oder Kuwait-Stadt ins benachbarte und erzkonservative Saudi-Arabien fährt, kann am Straßenrand eine beachtliche Menge verunglückter Mittelklassewagen zählen – auf der Rückkehr von Wochenendtrips hinterlassen von Partygängern, in deren Heimat es keine Alkoholkontrollen gibt, weil es eben auch keinen Alkohol gibt.
Fragt man Iraner, warum sie sich für Nouruz Armenien herausgesucht haben, geht es nicht um All-inclusive-Bändchen oder Sonnenscheingarantie. Armenien ist für sie das Tor zu einer anderen Welt. Wer selbst aus dieser Welt kommt, kann sich unter dem schwammigen Begriff Freiheit oft kaum noch etwas vorstellen. Wer die jungen Iraner begleitet, kann sie förmlich mit Händen fassen.
„Die Perserinnen laufen hier rum wie die letzten Nutten“
Zentraler Umschlagplatz ist der Platz der Republik, während Nouruz ist der ehemalige Leninplatz verstopft mit Reisebussen, Kleinbussen, Taxis. Die Touren führen zum Sewansee, zu frühchristlichen Kirchen oder ins georgische Tiflis. Andere haben sich eher auf die Nacht spezialisiert, sie steuern die Casinos am Flughafen oder „Massagesalons“ an.
Unweit vom Platz der Republik sitzt in einem kleinen Kellerraum ein rundlicher Mann mit gutmütigen Augen. Man findet ihn nur, wenn man zwei persischen Hinweisschildern in einen Hinterhof folgt. „Wir bieten das ganze Paket: Anreise, Hotel, Ausflugsprogramm, Spaß in der Nacht“, sagt der Mann, der sich als Vigen vorstellt. Vor fünf Jahren hat Vigen Farsi gelernt, Partner im Iran gesucht und sein Büro eröffnet. Er habe da einen guten Riecher gehabt, sagt er. Die Sache mit den Iranern habe vor etwa zehn Jahren angefangen, mit jedem Jahr seien es mehr geworden. Die instabile Lage im Konkurrenzland Türkei, aber auch die Öffnung des Landes nach dem Nukleardeal haben dabei geholfen. Seit 2016 brauchen Iraner kein Visum mehr für eine Reise nach Armenien, manche kämen auch einfach mal für ein Feierabendbier rüber gefahren.
Der Freiheitsdurst der Iraner sorgt im konservativ-christlichen Armenien aber auch für Ärger: „Du müsstest mal mit meiner Mutter reden“, sagt Vigen „die sagt immer: Die Perserinnen laufen hier rum wie die letzten Nutten. Und die vielen Männer ziehen zu Nouruz Prostituierte aus dem ganzen Kaukasus an.“ Vigen erklärt ihr dann, sie solle froh sein, dass die Iraner Geld ins Land bringen.
Würde Vigens Mutter einmal ins Nachbarland fahren und dort auf eine Party eingeladen werden, könnte sie feststellen, dass sich Iranerinnen dem Klischee des Ganzkörperschleiers zum Trotz auch im eigenen Land sehr gewagt kleiden – aber eben nur hinter verschlossenen Türen. Auch Teheran hat ein Nachtleben. Illegalen Alkohol gibt es genug, viele Parks durchzieht der Geruch von Haschisch. Partys im Iran haben ihren ganz eigenen Reiz: kleine Ausbrüche hinter zugezogenen Vorhängen, eine Art Schicksalsgemeinschaft, die jederzeit durch die Sittenpolizei aufgelöst werden kann. Wobei, die könne man auch nicht mehr ernstnehmen, sagt Aram, der mit seinen drei Freunden vor einem libanesischen Lokal in der Flaniermeile Shisha raucht und Wein trinkt: „Wenn sie dich auffällig betrunken erwischen, nehmen sie dich halt mit. Ein, zwei Nächte behalten sie dich, manchmal ein paar Peitschenhiebe und das war’s. Die wissen doch längst, wie lächerlich wir das alles finden.“
Alle vier sind Mitte 20, Studenten aus Teheran, sie haben armenische Wurzeln. Ihre Vorfahren sind vor dem Genozid geflohen. Dauerhaft zurück nach Armenien wollen sie nicht, rein wirtschaftlich gehe es dem Land nicht viel besser, sagen sie. Überhaupt: So unterschiedlich seien die beiden Länder gar nicht – auch ein Grund, warum sich die Iraner hier so wohl fühlen. Armenien hat eine ähnliche Geschichte, Landschaft, Küche. Aber eben keinen Gottesstaat, was für sie einiges entspannter macht.
Denn obwohl Aram und seine Freunde sich nicht kopfüber in eine Revolution stürzen wollen und ihren Alltag in Iran als durchaus lebenswert wahrnehmen, erzählen sie auch von den Fragen, die dort ständig in ihrem Kopf herumschwirren: Rede ich gerade zu laut über Politik? Sitzt das Kopftuch richtig? Habe ich gerade zu viel Spaß? In Armenien steht dieses Gedankenkarussell wenigstens mal ein paar Tage still – auch wenn sich hier nicht jede Iranerin sofort das Kopftuch herunterreißt und ins Koma säuft.
Wer ein paar Tage mit Aram, Mahtab, Babak und den anderen Iranern in Eriwan verbringt, lernt eine Generation junger Menschen kennen, die vor allem eines eint: die Perspektivlosigkeit, trotz guter Ausbildung in ihrer Heimat. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt dort bei 30 Prozent, das Durchschnittsalter der Iraner beträgt 30 Jahre. Teny, eine von Arams Freundinnen, erzählt, dass Aram ihr „Backup-Partner“ sei, wie in der US-Serie „Friends“: Wenn sich bis 40 nichts anderes ergibt, würden die beiden heiraten. Heiratet man in Iran nicht früher, selbst in liberalen Familien? „Eigentlich schon“, sagt Aram, „aber wie soll man eine Familie gründen, wenn man noch nicht mal für sich selbst eine Zukunft sieht?“ Darauf einen Wodka.
Seine Zukunft sucht Aram daher lieber woanders, er würde gerne auswandern, vielleicht nach Norwegen. Und auch, wenn er die Mullahs und ihre Sittenpolizei lieber ins Lächerliche zieht, als Angst vor ihnen zuzugeben: fotografieren lassen will er sich wie alle anderen hier lieber trotzdem nicht. Denn Aram weiß, wie veränderungsresistent die in Iran vorgeschriebene Gesellschaftsordnung ist. Das Regime überstand die Sanktionen vor dem Atomdeal genauso wie Trumps Kündigung des Abkommens, es schlug die Massenproteste von 2009 genauso nieder wie die von Anfang 2018. Und auch, wenn der derzeitige Präsident Hassan Rohani dem System ein freundliches Antlitz gibt und sich vor allem in seinen Reden für kleine Freiheiten seiner Bürger stark macht, steht die grundsätzliche konservative Ausrichtung des Landes nicht zur Debatte.
Keine Arbeit und keine Freiheit zuhause – das ist mindestens ein „kein“ zuviel
Welche Perspektive jungen Leuten letztlich bleibt, die nicht unbedingt politisch sind, aber auch nicht nach diesen Regeln leben wollten, zeigte 2016 der Dokumentarfilm „Raving Iran“: Am Ende beantragen die Protagonisten, zwei Techno-DJs aus Teheran, die zuhause geheime Partys veranstaltet hatten, in Europa Asyl. Keine Arbeit und keine Freiheit zuhause – das ist mindestens ein „kein“ zuviel.
Die meisten der Partytouristen in Armenien werden trotzdem nicht bleiben, für sie ist die Reise eine kleine Version von Flucht. Auch für Aram geht es jetzt nicht ins Exil, sondern in den nächsten Laden, ins Calumet, eine Hippie-Bar in der Puschkinstraße. Aram holt Bier für alle, es läuft „Shine On You Crazy Diamond“ von Pink Floyd. Aram verschickt über die Messengerdienste von Telegram und Facebook Neujahrsgrüße an seine iranischen Freunde. „Die Regierung versucht zwar, die ganzen sozialen Netzwerke zu sperren. Aber wir kommen da locker vorbei. Präsident Rohani hat einen eigenen Twitter-Account, obwohl Twitter im Iran gesperrt ist. Das zeigt doch, wie widersprüchlich diese Sperren sind.“
Mittwochnachmittag, der Park vor der Kaskade, einer 572-stufigen Panoramatreppe, ein Sowjetdenkmal mit Aussicht. Hassan will sich an der Botero-Skulptur treffen, einer dicken, nackten Frau. Drei iranische Reisebusse sind vorgefahren, viele machen Selfies mit der Skulptur. Kommt ihr jemand zu nah, tritt ein geduldiger Sicherheitsmann aus dem Schatten der Bäume und weist auf das Absperrband hin. Hassan, 32, akkurat rasierter Bart und randlose Brille, sitzt auf einer der Bänke mit Blick auf die Kaskade. Im Iran hat er Frau und Kinder, passables Einkommen. Glücklich ist er trotzdem nicht.
Hassan hat bis vor Kurzem im Netz gegen seine Angst angeschrieben, nach Ansicht der Polizei habe er damit zur Rebellion aufgerufen. Zehn Tage Gefängnis, dann gegen Kaution auf freiem Fuß, bis zur Gerichtsverhandlung. „Im Gefängnis haben sie mich geschlagen, mit Vergewaltigung gedroht “, erzählt er. Ginge er zurück, würden sie ihn an der Grenze einkassieren.
Das Reisefieber der Jungen, sagt Hassan, habe das Regime unterschätzt: „Wenn du in Iran den Fernseher einschaltest, siehst du nur, wie schrecklich es angeblich in anderen Ländern ist. Wenn du aber mal aus dem Land rausgekommen bist, merkst du, wie schrecklich es in Iran ist. Diese Isolationstaktik funktioniert nicht mehr.“ Es ist spät geworden. Hassan verabschiedet sich, er wolle oben auf der Kaskade noch Fotos schießen, bevor die Sonne untergeht. Das Monument ist nie ganz fertig geworden. Das System, für dessen Ewigkeit es stehen sollte, ging 1989 unter.
Zurück vor dem Downtown Club, 2 Uhr morgens. Vorbei an einer Gruppe betrunkener Männer vor der Tür, steigt die Temperatur mit jeder Treppenstufe. Unten landet man in einer Wolke aus Shisharauch, Schweiß und Wunderkerzen. Am Fuß der Treppe stehen Kinderwagen, auf der Bühne ein Sänger und Bauchtänzerinnen in Glitzer-BHs. Vier Kinder sind auf die Bar geklettert, um eine besseren Sicht auf die Tänzerinnen zu bekommen. Daneben eine Frau mit Kopftuch, sie nickt im Takt. Vor und hinter ihr die Menge, ein Meer aus in die Luft gestreckten Händen, ein Mann hält tanzend mit nur einer Hand ein Baby in die Luft. Die Handykameras gehen nach oben, die meisten im Selfie-Modus, kurze Clips aus der freien Welt für die sozialen Netzwerke.
Eine junge Frau wirbelt ihren Vater durch den Laden, sie gehen in die Knie, wieder hoch, nehmen andere bei der Hand. Auf einem Schild neben der Bühne steht „Beats of Freedom.“
Nach einem ausgiebigen Percussionsolo stimmt der Sänger „Gole Yakh“ an. Das Lied stammt aus den frühen Siebzigern, als Iraner mit phänomenalen Schnauzern ihre eigene Variante von Psychedelic Rock entwickelten. Eigentlich ein tieftrauriges Liebeslied, wird es hier mitgeschrien wie eine Protesthymne. Bei den Alten weckt es Erinnerungen an die Vergangenheit. Die Jungen, so glaubt man, erspüren die Zukunft.
Mahtab und ihren Freunde sitzen immer noch auf der Bank vor dem Club. Eine Frage noch: Ist hier wirklich alles erlaubt? „Öffentliches Küssen geht nicht. Das gehört sich nicht, obwohl hier keine Sittenwächter rumlaufen“, sagt Babak. Und warum? „Keine Ahnung, gute Frage“, sagt Mahtab. Dann küsst sie den überraschten Babak. Lang.
Wie war das jetzt?
„Schön“, sagt sie, „schön und ganz normal.“