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Der einsame kurdische Kampf

Schilan lebt in Berlin und ist eine bekannte Stimme der kurdischen Diaspora.
Foto: Annika Yanura

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Vor zwölf Jahren kam Juana aus Sanandaj in Kurdistan, Iran, nach Deutschland. Wenn sie heute über die Proteste in ihrem Heimatland spricht, dann mit gemischten Gefühlen. Dass viele Iraner:innen gegen das Regime auf die Straße gehen, gibt der 36-Jährigen einerseits Hoffnung: Wenn es einen Regimewechsel gäbe, könnte sie sich vorstellen, irgendwann in ihre Heimat zurückzukehren, sagt sie. Ihre Familie könnte in Freiheit leben. Andererseits sagt sie auch: „Seit Beginn der Proteste fühle ich mich gefesselt und ohnmächtig.“ Als sie im Café sitzt und über die vergangenen sechs Monate spricht, wirkt sie nachdenklich. Sie befindet sich in einem Zwiespalt. Denn die Proteste haben ihr noch etwas anderes deutlich vor Augen geführt: Wie Kurd:innen systematisch unterdrückt und diskriminiert werden. Aus Sicherheitsgründen hat Juana in diesem Text einen anderen Namen. Sie trägt ein Nasenpiercing, ihre dunklen Locken sind schulterlang.  

Laut Schätzungen der Kurdischen Gemeinde Deutschland leben etwa 1,5 Millionen Menschen kurdischer Abstammung in Deutschland. Viele von ihnen gehen seit September auf die Straße, um gegen das iranische Regime zu demonstrieren. Auch Jina Mahsa Amini, deren gewaltsamer Tod der Auslöser der Bewegung war, war Kurdin – eine der etwa 40 Millionen Kurd:innen, die im Staatsgebiet von Türkei, Syrien, Irak und Iran leben. Und wie auch andere Minderheiten werden Kurd:innen in Iran unterdrückt und diskriminiert. Wie blicken Kurd:innen in Deutschland auf die Proteste in Iran? Welche Hoffnungen haben sie, welche Sorgen?  

Sevda Evcil lehrt und forscht am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Uni Hildesheim. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt unter anderem auf der Rolle der kurdischen Frau in der kurdischen Gesellschaft. Sie betont im Interview, dass Kurd:innen in Iran nicht erst seit dem Mullah-Regime unterdrückt werden. Auch vor der Revolution 1979, unter der Monarchie, habe es Repressionen gegeben, die den Nährboden für die heutige antikurdische Politik in Iran gelegt hätten: „Man verfolgte die Idee eines homogenen Staates. Dieser sah vor, dass Kurd:innen in drei bis vier Generationen kein Kurdisch mehr sprechen sollten.“  

Viele Menschen aus der kurdischen Diaspora fühlten sich bei Iran-Demos nicht gesehen

Dass Kurd:innen in Iran systematisch unterdrückt und marginalisiert werden, wirkt sich auch auf die Proteste und Debatten hier in Deutschland aus. Schilan Kurdpoor, 34, ist eine der lautesten kurdischen Stimmen der Protestbewegung in Deutschland. Sie fing zu Beginn der Proteste an, auf Instagram auch politische Beiträge zu posten. Heute folgen ihr dort knapp 5000 Menschen. Sie spricht auf Kundgebungen und macht online auf die Menschenrechtsverletzungen der Islamischen Republik aufmerksam. Auf den Demonstrationen zur Unterstützung der Iranrevolution, so erzählt sie es im Videointerview, fühle sie sich als Kurdin nicht immer wohl. Auf einer Demonstration habe sie die kurdische Fahne ihrer Mutter in der Hand gehabt, als ein Mann sie mehrfach mit dem Fahrrad gerammt und dabei höhnisch gegrinst habe. Freunden von ihr habe man auf einer Demo gesagt: „Das ist eine Fahne von Separatisten, es gibt keine kurdische Fahne.“

Viele Menschen aus der kurdischen Diaspora fühlten sich aufgrund solcher Vorfälle bei den Iran-Demos nicht gesehen und gingen deshalb nicht mehr hin, berichtet Schilan. Auf ihrem Instagram-Kanal spricht sie gar von einer „Zensur der kurdischen Identität“ in der medialen Darstellung. Beispielsweise würde Jina Amini in vielen Medien und auf Protestveranstaltungen nur bei ihrem persischen Zwangsnamen Mahsa genannt. Der kurdische Name Jina, den sie in Iran nicht offiziell tragen durfte, würde dabei wider besseres Wissen ignoriert. So wie bei der kürzlich veröffentlichten „Mahsa-Charter“ der „Alliance for Democracy and Freedom in Iran (ADFI)“, zu der bekannte Gesichter der internationalen Protestbewegung zählen wie die iranisch-amerikanische Journalistin Masih Alinejad.  

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Schilan informiert auf Kundgebungen und Social Media über die Lage der Kurd:innen in Iran und in der Diaspora.

Foto: privat
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Schilan und ihre Mutter auf einem Protest nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini.

Foto: privat

Schilan ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und arbeitet als Lehrerin. Sie kommt aus einer politisch aktiven kurdischen Familie, ihre Eltern stammen aus Mahabad und Bokan, zentrale Städte der aktuellen Protestbewegung. Seit der Flucht ihrer Eltern konnte die Familie nicht mehr nach Iran reisen. Ihr Onkel Masoud Kurdpoor wurde September 2022 aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit zum zweiten Mal in Iran inhaftiert. Auch Masoud war ehemals Lehrer. Allerdings entzog ihm das Regime in Iran die Zulassung, nachdem er schon einmal sechs Jahre in Haft war. Er hatte sich – wie auch Schilan – für Minderheiten in Iran eingesetzt. Vor knapp einem Monat wurde er nun erneut aus der Haft entlassen.  

Wissenschaftlerin Evcil erklärt die fehlende Sichtbarkeit von Kurd:innen in Deutschland auch damit, dass Kurd:innen für eine Lobby in Deutschland und Europa nicht nur der Staat, sondern auch die Gleichberechtigung mit anderen Ethnien fehle. Sie führt das auf einen mittelbaren antikurdischen Rassismus zurück. Mit diesem Begriff meint sie auch, dass die kurdische Identität, auch in deutschen Medien und politischen Debatten, oft verschwiegen werde: So wurden die Opfer des rassistisch motivierten Anschlags in Hanau vor drei Jahren trotz ihrer kurdischen Identität in vielen Medien als Türken bezeichnet. 

Schilan bezeichnet ihr Engagement als „einsamen kurdischen Kampf“ in der sonst persisch geprägten Protestbewegung. Zwar ist sie mittlerweile gut vernetzt, zum Beispiel mit der kurdisch-jesidischen Menschenrechts-Aktivistin und Journalistin Düzen Tekkal und der iranisch-deutschen Aktivistin Daniela Sepehri. Diese Verbindung helfe ihr, sagt sie. Dennoch fühle sie sich manchmal einsam. Kurdische Themen würden kaum angesprochen, es gebe auf Demonstrationen selten kurdische Speaker:innen oder kurdische Lieder. 

Laut Expertin Evcil waren noch nie so viele Kurd:innen auf Demonstrationen in Deutschland 

Laut Sevda Evcil nimmt die kurdische Identität in der Protestbewegung auch wegen der Propaganda der Islamischen Republik wenig Raum ein. Das Regime habe ein großes Interesse an der Diskriminierung kurdischer Menschen, erklärt Evcil: „Der Hass wird seitens des Staates reproduziert, indem man Kurd:innen, ihre Sprache und ihre Kultur verteufelt.“ Das Regime schüre die Angst davor, dass Kurd:innen ihren eigenen Staat gründen könnten. Auch deswegen werde die kurdische Identität oft verdrängt. Das zeige sich auch an der Protestbewegung gegen das iranische Regime hier in Deutschland. Ein Großteil der persischen Diaspora sei außerdem noch nicht bereit, sich mit dem eigenen Rassismus gegenüber Kurd:innen auseinanderzusetzen, sagt Evcil. Viele Perser:innen seien in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Kurd:innen als minderwertig angesehen werden und die kurdische Sprache und Kultur verdrängt wird.  

Dennoch nimmt die Expertin seit Beginn der Protestbewegung eine große Hoffnung in der kurdischen Diaspora wahr. Es seien noch nie so viele Kurd:innen auf Demonstrationen hier in Deutschland zu sehen gewesen. Obwohl viele von ihnen Angst haben, ihre Familien in Iran dadurch in Gefahr zu bringen, ließen sie sich jetzt nicht mehr den Mund verbieten: „Sie zeigen ihr Gesicht.“ Juana sagt dazu: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Auch wenn ein vereintes Kurdistan weiterhin eine Utopie bleibt. Sevda Evcil bestätigt das: Kurd:innen sprächen zunehmend nicht mehr von einem kurdischen Staat. Man erhoffe sich selbstverwaltete föderale Regionen. Selbstverwaltete kurdische Gebiete gibt es bereits, zum Beispiel in „Bashur“ im Nordirak in der Autonomen Region Kurdistan.

Auch deswegen blicken viele Kurd:innen besonders hoffnungsvoll nach Iran: Juana erzählt, dass sie einerseits Angst habe um ihre Verwandten. „Ich bitte sie, nicht rauszugehen, nicht zu protestieren, damit ihnen nichts zustößt.“ Auch sie selbst hat ihre Erfahrungen mit der Sittenpolizei in ihrer Heimat gemacht, erzählt sie: Mit 22 Jahren sei sie festgenommen worden, als sie sich heimlich mit ihrem Freund getroffen habe. Man habe sie abgeführt und zu einer Frauenärztin gezerrt, die den Status ihrer Jungfräulichkeit habe feststellen sollen. Juana sei „beschädigt“, habe die Frau gesagt. Zwei Tage habe sie in Haft gesessen, dann kamen Juana und ihr Freund vor Gericht. Das Urteil: 100 Peitschenhiebe. „Meine Familie hat mich freigekauft. Doch die Schande blieb“, sagt sie heute. Die Familie ihres Freundes hatte dafür kein Geld. Kurze Zeit später verließ Juana Iran. „Ich wollte nur noch weg.“  

Heute hofft sie, wie viele andere Kurd:innen auch, auf Veränderung, eine Revolution, einen Regimesturz. Für Schilan wäre das die Möglichkeit, den Geburtsort ihrer Eltern und einen Teil ihrer Verwandtschaft zum ersten Mal überhaupt zu sehen. Unter den derzeitigen Bedingungen sei eine Reise zu unsicher. Ihr großer Traum sei es, in Kurdistan eine kurdisch-deutsche Schule zu eröffnen. Für die ältere kurdische Generation seien die Proteste auch ein Déjà-vu, sagt Schilan. Ihr Vater habe Sorge, wieder eine Revolution zu unterstützen, die sich wie die Islamische Revolution 1979 am Ende doch gegen die Kurd:innen richte. Fragt man die beiden Frauen, was sie sich für die Zukunft der Kurd:innen wünschen, fallen immer wieder ähnliche Begriffe: freie Entfaltung, Schutz, Anerkennung, Mitbestimmungsrechte. Vor allem wünschen Juana und Schilan sich aber eines: Frieden.  

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