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Interview mit Manuel Sarrazin, der auf dem Rettungsschiff "Lifeline" war
Das deutsche Rettungsschiff „Lifeline“ befindet sich seit Donnerstag mit mehr als 200 Flüchtenden etwa 50 Kilometer vor Malta. Anders als wenige Wochen zuvor bei der „Aquarius“, hat sich bisher noch kein europäisches Land bereit erklärt, die Menschen aufzunehmen.
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete und Sprecher für Osteuropapolitik, Manuel Sarrazin, 36, war in der Nacht von Sonntag auf Montag der Bitte einer Hilfsorganisation nachgekommen und fuhr zur „Lifeline“. Gemeinsam mit zwei anderen Bundestagsabgeordneten war er von Valletta (Malta) aus zu dem Boot aufgebrochen, um sich ein Bild zu machen. Im Gespräch mit jetzt warnt er davor, dass Menschenleben zum Spielball der Unentschlossenheit europäischer Politik werden.
jetzt: Manuel, du warst gestern Nacht für sechs Stunden auf der „Lifeline“. Was war dein Eindruck?
Manuel Sarrazin: Sobald man das Boot betritt, sieht man nur Menschen. Es stehen, liegen und sitzen dort mehr als 200 Flüchtende, die zum Teil unter Zeltplanen Schutz finden und Wind und Wetter ausgesetzt sind. Es ist so voll auf dem Boot, dass man aufpassen muss, wo man hintritt. Auf dem Boot befinden sich mehr als ein Dutzend unbegleitete Minderjährige, drei Säuglinge und Menschen mit schweren Verletzungen, die vermutlich gefoltert wurden. Die Crew erhält von keiner Seenotleitstelle mehr Anweisungen. Das ist eine Situation, die die Menschen sehr angreift. Obwohl die Geflüchteten noch beeindruckend ruhig sind, zehrt es natürlich an ihren Nerven, dass sie vor Malta im Kreis fahren. Es ist wichtig, schnell zu handeln. Die Situation ist nicht mehr zumutbar. Alle, die diesen Menschen absprechen, ein gleichwertiger Teil der Menschheit zu sein, sollten ihnen in die Augen schauen und sich ihre Geschichte anhören.
Was erhoffst du dir jetzt von der europäischen Politik?
Ich weiß nicht, was ich noch hoffen soll. Die Menschen auf dem Boot wurden aus akuter Seenot gerettet. Und jetzt finden sie sich wieder in dieser Schmierenkomödie von Weltpolitik, bei der ein Koalitionskrach in Berlin und die Probleme der EU, sich auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu einigen, aufeinandertreffen – was dazu führt, dass Geflüchtete und deutsche Staatsbürger in diese gefährliche Situation geraten. Da fällt einem die Hoffnung schon schwer. Man kann sich ja über Politik streiten. Aber das Leben der Menschen muss man da raushalten.
Merkel hat sich eine Frist bis Ende der Woche gesetzt, um zu einer Lösung zu kommen. Eine Woche kann lang sein.
So viel Zeit hat das Schiff nicht. Bis dahin ist der Treibstoff aus. Die Vorräte gehen jetzt schon zur Neige und die Wettervorhersage ist so schlecht, dass es sein kann, dass morgen Abend oder am Mittwoch eine gefährliche Situation entsteht. Die Menschen sind jetzt den fünften Tag auf See. Sie kommen aus unterschiedlichen Kulturen, sitzen in direktem Körperkontakt aneinander und haben vielleicht einen halben Quadratmeter Platz. Da kann sehr viel passieren.
„Es geht um diese 200 Menschen an Bord, die kurz davor sind, wieder in Lebensgefahr zu geraten“
Wie sollte die Bundesregierung deiner Meinung nach reagieren?
Die Bundesregierung sollte auf die anderen beteiligten Staaten zugehen und sagen: „Lasst uns bitte etwas tun, wir sind auch bereit, diese Flüchtlinge aufzunehmen, um so auch für den Schutz der Deutschen an Bord zu sorgen.“ Man muss an diesem Fall kein Exempel statuieren, im Gegenteil. Es geht um diese mehr als 200 Menschen an Bord, die kurz davor sind, wieder in Lebensgefahr zu geraten. Was das für die Flüchtlingspolitik bedeutet, ist zunächst einmal egal.
Warum misslingt eine Einigung über eine gemeinsame europäische Vorgehensweise bislang?
Da kann man lange drüber diskutieren. Klar ist: Wenn Deutschland sich jetzt auch noch davon verabschiedet, sich zu den Staaten an den europäischen Außengrenzen solidarisch zu verhalten, steht die zukünftige Flüchtlingspolitik unter einem großen Fragezeichen. Die Menschen, die ich gestern auf dem Boot getroffen habe, haben Versklavung, Vergewaltigung und Folter in Libyen hinter sich und sagen, sie werden lieber sterben, als nach Libyen zurückzukehren. Es ist weder humanitär vertretbar noch realistisch, die libysche Seite die Seenotrettung übernehmen zu lassen. Das ist ein Freifahrtschein in den Tod.
„So kann man die europäische Union zerstören“
Was sagst du zur Reaktion Italiens, gar keine Flüchtenden mehr aufnehmen zu wollen?
Wir haben schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass es hilfreich wäre, Italien Unterstützung zuzusagen, damit dort nicht der Eindruck entsteht, das Land werde allein gelassen. Der Eindruck, im Stich gelassen worden zu sein, ist übrigens auch innerhalb Deutschlands im Jahr 2015 entstanden. So kann man die Europäische Union zerstören – wenn niemand sich mit dem Anderen solidarisch zeigt und hinterher aber jeder sagt: Wir wurden alleine gelassen. Deutschland fordert etwas, das nicht im Interesse Italiens und auch anderer Staaten sein kann (eine Abmachung, um Asylbewerber leichter in deren EU-Ankunftsländer zurückschicken zu können, Anm. d. Red). Diese Länder bräuchten eigentlich Solidarität. Deswegen kann man da keine einseitigen Schuldzuweisungen geben.
Was hältst du von Flüchtlingszentren außerhalb des EU-Gebiets, wie sie immer wieder im Gespräch sind?
Ich halte das für sicherheitspolitisch nicht umsetzbar. Wie soll man westeuropäische Kräfte zum Beispiel in Libyen – mit terroristischer Bedrohung – effektiv schützen? Und dann müssen noch die Flüchtenden geschützt werden, die dort ankommen. Ich weiß nicht, wie das funktionieren soll. Dieses Kompetenz-Hin-und-Her-Geschiebe muss aufhören. Und die Seenotrettung den Libyern zu überlassen, ist meiner Ansicht nach mit den Menschenrechten nicht vereinbar.
Was ist jetzt wichtig?
Es geht abseits von großen politischen Fragen erst mal auch um dieses eine Schiff. Es würde immerhin 234 Flüchtenden und auch den 17 deutschen Staatsangehörigen helfen, wenn sie aus dieser schwierigen Situation befreit würden. Das wäre schon mal ein Zeichen. Das Schiff ist für so große Menschenmengen nicht geeignet. Es muss entweder rasch ein „Port of Safety“ gefunden werden oder ein schneller Transfer auf ein anderes Schiff stattfinden. Das sollte innerhalb der nächsten 24 Stunden passieren.