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Interview mit den Aktivisten Herr & Speer zu ihrem Projekt #HowAreYouEurope
Als frisch Volljähriger durch Europa bummeln, sich unabhängig von Geldsorgen bewegen, die Interrail-Reisen bisher noch zu einem Vergnügen für Privilegierte machen – für diese Idee setzen sich Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer seit mittlerweile fünf Jahren ein. Ihr Ziel: Eines Tages soll jeder EU-Bürger zum 18. Geburtstag ein Interrail-Ticket erhalten. Im letzten Jahr ging ihr Projekt in eine Pilot-Phase: Über einen Bewerbungsprozess gewannen Tausende Europäerinnen und Europäer eines der Gratistickets. Nun wollen Martin und Vincent-Immanuel bei einer Rundreise durch Europa herausfinden, wie es den jungen Menschen auf ihren Reisen ergangen ist – und sie außerdem zu ihren Einstellungen, Problemen und Wünschen für ein besseres Europa befragen. Für jetzt werden die beiden in den kommenden Wochen von ihrem Trip berichten. Wir haben sie vorab gesprochen:
jetzt: Vincent, Martin, was genau kann man von euren Reiseberichten erwarten?
Vincent: Es wird acht Artikel geben, die sich jeweils auf ein Land konzentrieren. Darin wollen wir die großen Debatten zum Thema Europa im jeweiligen Land vorstellen. Was sind die größten Sorgen der Menschen dort, insbesondere der jungen? Worüber diskutieren sie? Deutschland ist da ja meist sehr auf sich fokussiert, Zwischentöne und Eigenarten fallen oft unter den Tisch. Außerdem wollen wir natürlich auch Foto- und Videogeschichten produzieren, die man dann per Insta-Story auf dem jetzt-Kanal abrufen kann. Bei all dem wollen wir auch die Leserinnen und Leser einbinden, die sich mit Fragen, Anregungen und Themen-Ideen zu Wort melden können.
Der zentrale Anlass eurer Reise ist aber ja anderer, oder?
Vincent: Ja, unser eigener Anlass ist natürlich das #FreeInterrail-Projekt. Wir wollen schauen: Wie kam und kommt das bei jungen Leuten in Europa an? Haben die noch Verbesserungsvorschläge? Wie können wir das noch zugänglicher für alle gestalten? Das ganze wird ermöglicht durch eine Förderung der Stiftungen Mercator und Schwarzkopf. Wir stehen mit diesem Projekt aber auch nach wie vor in Kontakt mit der Europäischen Kommission und dem Parlament. Unsere Reise soll also auch eine Materialsammlung sein, damit wir vor der EU-Kommission und der Öffentlichkeit neue Sichtweisen und Argumente sammeln können.
Und da wir ja eh schon unterwegs sind, haben wir beschlossen, unsere Gespräche vor Ort auch noch für weitere damit verbundene Fragen zu nutzen.
Ist die Zusammenarbeit mit der EU-Kommission bisher in Ordnung gewesen? Habt ihr bei eurem Interrail-Projekt noch ausreichend mitzureden?
Martin: Rein rechtlich hat natürlich die Kommission das letzte Wort. Aber wir als „Initiatoren“ der Idee werden natürlich schon als Ansprechpartner und Mitdenker wahrgenommen. Und als zivigesellschaftliche Akteure wollen wir da natürlich weiterhin den Druck aufrecht erhalten und schauen, dass das Ganze auch ordentlich umgesetzt wird. Wir wollen, dass eines Tages jeder EU-Bürger zu seinem 18. Geburtstag das Interrail-Ticket bekommt. Die spannende Frage ist jetzt, wie sich das alles in den kommenden Jahren entwickeln wird. Brexit und die zunehmende Spaltung der Gesellschaften werden nicht spurlos am europäischen Projekt vorbeigehen. Es steht viel auf dem Spiel vor der Europawahl.
Die Europawahl ist auch ein Thema eurer Rundreise, oder?
Vincent: Genau, das ist ein weiteres unserer drei Themen. Wie blicken die jungen Leute in den unterschiedlichen Ländern auf die Wahl? Welche Schwerpunkte setzen sie? Interessieren sie sich überhaupt dafür? Unser drittes Thema ist Feminismus in Europa. Wir arbeiten mit UN Women Deutschland zusammen und sind Botschafter der deutschen He-For-She-Kampagne, die Männer für den Kampf um Gleichberechtigung gewinnen will. Die drei Themen sind also: Interrail, Europawahl und Gender Equality.
Wie hängt das Thema Feminismus mit eurem Europa-Interesse zusammen?
Vincent: Je mehr wir uns mit Feminismus auseinandergesetzt haben, desto mehr haben wir gemerkt, dass wir uns mit der Bewegung außerhalb von Deutschland eigentlich kaum auskennen. Welche Debatten führen Feministinnen in Lettland? Wie steht es um die Gleichberechtigung in Spanien? Gibt es da Parallelen zur deutschen Gesellschaft? Wir wollen einfach schauen, was wir noch lernen können. Und viele europäische Probleme ließen sich auch leichter lösen, wenn wir beim Finden dieser Lösungen Frauen besser einbeziehen würden. Sowohl Europa als auch Feminismus sind Herzensthemen für uns – und wenn wir die beide zusammenbringen, macht es am Ende doppelt Spaß.
In einer Geschichte bei uns zu eurem Interrail-Projekt meinte eine Teilnehmerin, sie sei beim Reisen hauptsächlich auf Studierende getroffen, deren Haltung zu Europa sowieso sehr positiv war, zu richtigen Debatten sei es kaum gekommen. Wir verhindert ihr auf eurer Reise, dass ihr euch nur innerhalb einer proeuropäischen Komfortblase bewegt?
Martin: Dieses Problems sind wir uns natürlich bewusst. Das ist ja auch ein Grund, warum wir uns für die universelle Verteilung der Tickets einsetzen und die Zivilgesellschaft und Unternehmen ermutigen, Stipendien und Fördermöglichkeiten für junge Reisende einzurichten. Zu unserer eigenen Reise: Ich glaube schon, dass man sich dieser Komfortzone bewusst entziehen kann, indem man zum Beispiel Menschen spontan auf der Straße, an Bahnhöfen oder vor Schulen anspricht. Für unsere Reise haben wir außerdem an den jeweiligen Stationen Organisationen und Parlamentsbüros kontaktiert, um dort richtige Diskussionsrunden auf die Beine zu stellen. Und dort werden wir natürlich auch darauf achten, dass die so divers wie möglich besetzt sind. Was wir uns allerdings schon eingestehen müssen: Unsere Sprachkenntnisse sind begrenzt, diese Barriere ist natürlich vorhanden.
Ihr beschreibt euch selbst als Autoren und Aktivisten. Ist es für euch ein Widerspruch, gleichzeitig journalistisch und aktivistisch zu arbeiten?
Martin: Wir schreiben überwiegend meinungsgetriebene Beiträge. Und das kommunizieren wir auch direkt und transparent: Wir haben ja zum Beispiel ein Interesse daran, dass die Idee mit dem Gratis-Interrailticket Realität wird – da können wir also kaum objektiv sein. Gleichzeitig wollen wir aber natürlich auch unterschiedliche Perspektiven aufzeigen und ein realitätsgetreues Geschehen abbilden. Wir sind auf der Reise also auch Beobachter und Zuhörer – aber wir wollen mit unserer Arbeit Lust auf Europa zu machen.