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„Jeder Mensch kann ein sicherer Hafen sein“

Foto: Darrin Zammit Lupi / Reuters

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Der Tank der Sea Watch 3 ist voll, die Crew hat sämtliche Sicherheitsbriefings hinter sich und eigentlich sollte das Schiff am Samstag auslaufen und in internationalen Gewässern unterwegs sein, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Doch es liegt immer noch im Hafen der maltesischen Hauptstadt Valletta, fest vertäut und wie alle anderen Rettungsschiffe auf der Insel ohne Erlaubnis, raus aufs Meer zu fahren. Die Crew hat die Rettungswesten an Bord gezählt. Es sind 800. Sie hätten gereicht, für die mehr als 200 Menschen, die an jenem Wochenende, als die Sea Watch planmäßig auslaufen sollte, als vermisst gemeldet wurden. 

Seit Anfang des Jahres sind im Mittelmeer bereits 1405 Menschen auf der Flucht ums Leben gekommen und derzeit ist die Lage, wie so oft im Sommer, besonders brisant. Allein am 19. und 20. Juni starben bei drei Unglücken mindestens 215 Menschen, seit vergangenem Freitag sind 218 Menschen ertrunken. Gegenüber diesen knallharten Zahlen wirkt das politische Jonglieren mit Begriffen wie „Fiktion der Nichteinreise“ oder „Ankerzentren“ surreal, findet Mareike Geiling, 31. „Jeden Tag kommt irgendeine neue Absurdität dazu“, sagt die Berlinerin, „und es gibt seitens der Regierung keinerlei Interesse, Leben zu schützen“. Verzweifelt über dieses Gefühl der Ohnmacht, gründete die Projektmanagerin einen Telegram-Chat, in den sie Gleichgesinnte einlud, um sich auszutauschen. Als das Rettungsschiff Lifeline mit mehr als 200 geflüchteten Menschen an Bord in der zweiten Junihälfte fast eine Woche lang auf offener See ausharren musste, weil der Crew und den Geretteten die Einfahrt in einen sicheren Hafen verwehrt wurde, wuchs die Empörung der Gruppenmitglieder mit jedem Tag.

Was als eine Art Selbsthilfegruppe begann, wurde zu einer Gruppe Verbündeter. Vor zwei Wochen haben sie sich zum ersten Mal getroffen. „Da haben wir festgestellt, dass wir alle Freunde, Verwandte und Bekannte haben, die mit der aktuellen Politik nicht zufrieden sind“, sagt Mareike. „Der Großteil der Bevölkerung will nicht, dass Menschen vor den Grenzen der EU ertrinken. Das war eine ermutigende Erkenntnis. In dem Moment haben wir gemerkt, dass aus unserem Unbehagen mehr werden könnte als nur ein Austausch unter Gleichgesinnten.“Innerhalb weniger Stunden stellte sie mit Freunden die Website seebruecke.org ins Netz, auf der sich Menschen vernetzen können, die in ihrer Stadt eine Protestaktion organisieren wollen.

Mit der Satire-Seite „Seebrücke des Bundes“, auf der unter dem Logo der Bundesregierung Horst Seehofer persönlich zu mehr Menschlichkeit in der Asylpolitik aufruft, hat das Bündnis allerdings nichts zu tun. „Das war reiner Zufall, dass fast zeitgleich zu unserer Idee diese Seite aufgetaucht ist. Das ist eine andere Herangehensweise, entspringt aber dem gleichen Bedürfnis, etwas tun zu wollen“, sagt Mareike. Deshalb hat das Peng!-Kollektiv, das den Fake-Seehofer online gestellt hat, die „echte“ Aktion Seebrücke jetzt auch verlinkt.    

Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Empörung über die aktuellen Zustände

Bei Mareike meldeten sich nach dem Erstellen ihrer Seebrücken-Seite innerhalb weniger Tagen über Facebook Menschen aus ganz Deutschland, die wissen wollten, wie sie bei der „Seebrücke“ mitmachen können. „Es war, als hätten die Leute nach einem Ventil für ihren Unmut gesucht, der sich seit Wochen angestaut hat“, sagt sie.  Für den kommenden Samstag sind in mehr als zehn deutschen Städten Demonstrationen angemeldet, teilweise von Menschen, die noch nie zuvor eine Demo organisiert haben.

Eine Agenda gibt es von Seiten der Kerngruppe nicht. „Bei uns gibt es keinen Zehn-Punkte-Plan. Unser kleinster gemeinsamer Nenner ist die Empörung über die aktuellen Zustände und die Kriminalisierung der Seenotrettung. Wir wollen eine Brücke zum Mittelmeer darstellen“, fasst Mareike ihre Vorstellung von der Seebrücke zusammen. Das Bild funktioniert für sie als Metapher für Solidarität und Zusammenhalt. „Jeder Mensch kann ein sicherer Hafen sein. Eine Stadt, eine Kommune, aber auch eine WG kann zur Brücke werden und sich bereit erklären, Geflüchtete aufzunehmen.“

Die Kapitänin der Sea Watch 3 ist wütend über die Schikanen der maltesischen Behörden 

Für die Aktivisten an Bord der Sea Watch 3 kommt diese Bewegung gerade richtig. Denn nun hat die Hafenautorität angekündigt, das Schiff auf seine Tauglichkeit als Rettungsschiff untersuchen zu wollen. „Reine Schikane“, sagt Kapitänin Pia Klemp, 34, am Telefon. „Es gibt keine stichhaltigen Gründe, aus denen wir hier festgehalten werden. Es ist ganz klar, dass unser Schiff alle Standards und alle Sicherheitsbedingungen erfüllt.“ Sie klingt wütend, wenn sie von den Todesopfern spricht, die ihr Rettungseinsatz hätte verhindern können. „Gerade in der vergangenen Woche haben wir gesehen, was passiert, wenn zivile Seenotretter durch die Schikanen der EU nicht vor Ort sein können: Die Zahl der Toten ist in die Höhe geschossen. Es ist frustrierend und bestürzend zu sehen, dass diese Debatte über Seenotrettung überhaupt aufkommt“, sagt sie.

Dass zivile Organisationen angesichts der verschärften politischen Lage in Italien eingeschüchtert werden, hat sich schon länger angebahnt. Vor knapp einem Jahr wurde das Rettungsschiff Iuventa von italienischen Behörden beschlagnahmt, nachdem sie sich weigerten einen „Code of Conduct“ für NGOs auf dem Mittelmeer zu unterschreiben. Seitdem hat sich die Lage für die Seenotretter zugespitzt. Mit dem Regierungswechsel in Italien wurde mehreren Schiffen mit Geflüchteten an Bord die Einreise verwehrt. Vor zwei Tagen wurde zusätzlich das Aufklärungs-Flugzeug „Moonbird“, das sinkende Schiffe aus der Luft an die Seenotrettungszentrale in Italien meldet, von maltesischen Behörden festgesetzt. „Wir erleben gerade die letzte Eskalationsstufe einer Reihe von Schikanen seitens der EU. Das ist eine sehr laute Ansage gegen die Menschenrechte und gegen die Freiheit von Zivilisten, ihre Arbeit zu tun“, sagt Pia. „Je mehr Menschen dagegen auf die Straße gehen, desto besser.“

Was genau am Samstag passieren wird, weiß weder die Kapitänin der Sea Watch, noch die Initiatorin der „Seebrücke“. Mareike rechnet zwar mit vielen Menschen, es gebe aber kein zentrales Organ, das entscheidet, wie die Demos aussehen sollen. In Berlin hat sich das Kollektiv „AfD wegbassen“ angekündigt, ein Magnet für politisierte Hedonisten, der mit großen Bass-Anlagen auffährt. Der einzige Vorschlag seitens der Initiatoren ist die Farbe Orange. Denn das sei nicht nur eine Signalfarbe an die Politik, sondern auch die Farbe der Rettungswesten, die an Bord der Sea-Watch 3 auf ihren Einsatz warten.   

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