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30 Jahre Mauerfall: In der Mitfahrgelegenheit von West nach Ost und zurück
Was lernt man, wenn man regelmäßig zwischen Ost und West pendelt?
Klammert man den Verkehrsknoten Berlin einmal aus, dann ist keine Strecke zwischen Ost- und Westdeutschland so beliebt wie die 450 Kilometer von Leipzig nach München und zurück – jedenfalls als Mitfahrgelegenheit. An einem Freitag, dem beliebtesten Tag dafür, haben wir uns zehn Stunden ins Auto gesetzt und sind die Strecke hin und wieder zurück gefahren. Während der Fahrten haben wir im Auto mit sieben jungen Menschen darüber gesprochen, wie es ist, regelmäßig zwischen Ost und West zu pendeln.
Am Münchner Hauptbahhof steigt als erste Ricarda, 22, ins Auto. Sie stammt aus Hessen, wohnt zurzeit in München und überlegt, ab nächstem Jahr in Leipzig zu studieren. Kurz darauf kommt Ofer dazu. Er ist 31, zog vor sechs Jahren aus seinem Heimatland Israel nach München und möchte am Wochenende seinen besten Freund in Leipzig besuchen.
jetzt: Ricarda, warum fährst du heute nach Leipzig?
Ricarda: Ich habe ein Tinder-Date.
Ofer: Geil.
Ricarda: Wir haben uns gut verstanden bei unserem ersten Treffen. Jetzt sehen wir uns eben noch einmal.
Ofer: Warst du schon mal in Leipzig?
Ricarda: Ich habe mir vor ein paar Wochen die Stadt angesehen und dann habe ich eben Tinder aufgemacht. Mal sehen, vielleicht studiere ich bald dort. Nicht so teuer wie München.
Ofer: In Leipzig steigen die Mieten auch.
Ricarda: Ja, aber in München habe ich zehn Quadatmeter. Wenn ich da sieben Jahre wohnen muss, raste ich aus. Ofer, warum fährst du nach Leipzig?
Ofer: Um ein Konzert zu geben. Mein bester Kumpel und ich, wir sind vor sechs Jahren von unserem Heimatland Israel nach Deutschland gekommen. Ich wohne in München, er in Leipzig. Aber die meisten Auftritte mit unserer Band haben wir in Ostdeutschland. Wir waren in Halle, Chemnitz, Rostock, Jena, Eisenberg. Überall eigentlich.
Ricarda: Warum tretet ihr so oft in dieser Gegend auf?
Ofer: Ist einfach alles viel entspannter im Osten. Nicht so viel Eintritt, man bekommt schneller einen Ort zum Auftreten. Die Miete für den Proberaum ist günstiger.
Ricarda: Ich habe mich auch sofort in Leipzig verliebt. Eine krasse Atmosphäre, alle sind frei und locker und mega lieb.
Ofer: Leipzig ist wie ein Hippie-Dorf. Wenn ich in der Mitfahrgelgenheit sitze und wir uns der Stadtgrenze von Leipzig nähren, bekomme ich bei Tinder direkt drei Superlikes. In München ist das schwieriger.
Ricarda: In Leipzig gibt es nicht überall Anzugträger.
Ofer: Und man trinkt nicht überall Gin Tonic. Am Osten finde ich es toll, dass man auch an den See geht, wenn man, wie ich, keinen Sixpack hat. Das ist erfrischend.
Ricarda: Als ich vor ein paar Wochen das erste Mal in Leipzig war, wurde ich in der Straßenbahn kontrolliert. Die Kontrolleure waren super nett. In München hätte man sicher gleich abkassiert.
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Die ersten 100 Kilometer liegen hinter uns. Zum ersten Mal machen Ofer und Ricarda eine Pause in diesem Gespräch. Ricarda holt eine Breze aus ihrer Papiertüte und beißt hinein. Ofer isst eine Pflaume. Im Radio läuft bei Bayern 1 David Grey „Sail away with me“.
Ricarda: Ich hatte auch darüber nachgedacht, in Rostock zu studieren. Ich komme zwar aus Hessen, aber ich mag den Norden und die Küste. Aber da hat mein Vater nur gesagt: Bist du nicht zu links für die braune Suppe?
Ofer: Warum braune Suppe? Was heißt das?
Ricarda: Sagt man eben so. Weil die Nazis früher braune Uniformen getragen haben.
Ofer: Ah, ich verstehe. Aber wenn man nach Leipzig geht, ist es an vielen Ecken links.
Ricarda: Stimmt wahrscheinlich.
Ofer: Was mir bei den vielen Konzerten im Osten aufgefallen ist: Eigentlich ist der Osten lustigerweise manchmal wie Wild West. Es gibt nicht so viel Polizei, es ist nicht alles zugebaut. Das gefällt mir.
Im Radio beginnt Bayern 1 zu rauschen. Also hören wir auf den Vorschlag von Ofer Musik von „Action! Attention!“ – seiner Band. Sie spielen, wie er sagt, Disco-Punk. Kurz hinter der bayerisch-thüringischen Grenze machen wir eine Pinkelpause. Ungefähr 50 Mal sei er schon nach Leipzig mit der Mitfahrgelegenheit gefahren, sagt Ofer. Die Türen knallen zu, wir fahren wieder auf die A9 auf.
Klingt so, als wärt ihr richtige Ost-Fans.
Ofer: Naja, was mich am Osten nervt, ist: Die trinken das Bier warm.
Ricarda: Und im Osten gibt es manchmal echt lustige Situationen. Einmal war ich bei einer Freundin in Berlin zu Besuch und weil es Sommer war und sehr heiß, sind wir raus nach Brandenburg gefahren an einen See. Wir hatten keine Badesachen dabei, also sind wir mit Unterwäsche ins Wasser. Ey, wie die Leute da geschaut haben!
Ofer: (lacht) Ja, klar. Weil die da alle FKK machen!
Ricarda: (lacht) Stimmt, das kann sein.
Wir kommen in Leipzig an. An uns ziehen die Mehrfamilienhäuser vorbei. Der Augustusplatz, die Universität, das Völkerschlachtdenkmal in der Ferne. Ofer schaut nach draußen und wirkt nachdenklich.
Ofer: Man spürt direkt die ostdeutsche Schwere. Die Gebäude, die Stimmung, keine Ahnung, warum das so ist.
Ricarda: Aber vielleicht ist das auch gut so. In München habe ich manchmal das Gefühl, die Leute sind zu perfekt. Sie haben so perfekte Leben, dass ich mich bei vielen unwohl fühlen würde, ihnen meine Probleme mitzuteilen.
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Unser Auto hält neben dem wuchtigen Gebäude des Leipziger Hauptbahnhofs. Ricarda und Ofer verabschieden sich. Und allmählich trudeln auch schon die fünf Rückfahrer am Auto ein. Am frühen Nachmittag fahren wir los, erst durch den Berufsverkehr von Leipzig und dann auf die Autobahn zurück Richtung München. Zwei von ihnen sind Annika, 22, sie stammt aus Hannover und studiert in Halle, und Luise, 29, sie stammt ebenfalls aus Hannover und lebt seit ein paar Jahren in Leipzig, wegen der Arbeit.
Wie hat euer Umfeld auf euren Umzug in den Osten reagiert?
Annika: Meine Schwester meinte zu mir: Welcher normale Mensch zieht denn heute noch in den Osten? Das hab ich null verstanden. Was spricht denn dagegen?
Luise: Das sind alles nur Vorurteile. Da ist absolut nichts dahinter.
Annika: Ich hab’ lieber ein bisschen weniger Lohn und dafür diese ultra geilen Mietpreise im Vergleich zu München.
Luise: Alle, die mich besucht haben, haben danach auch ihre Meinung geändert. Freunde, Familie. Ich kenn’ echt niemanden, der es bei mir nicht schön fand.
Annika: Auch in Halle ist es in der Innenstadt schön, aber sobald du ein bisschen rausfährst und in diesen Randgebieten bist, wird es halt schäbiger. Das ist das Bild, das die Leute vom Osten im Kopf haben.
Mein Freund ist Münchner. Wenn der mich in Halle besucht, dann kommen von seinen Freunden schon immer so Kommentare: ‚Na, warst du wieder im Osten?‘ Das meinen die vielleicht nicht böse, aber ich empfinde es als abwertend.
Josefine, 31, hat bisher wenig gesagt, aber nun beugt sie sich von der Rückbank nach vorne. Sie ist im Schwarzwald aufgewachsen und wohnt nun in Leipzig. Ihre Eltern stammen aus der Nähe von Dresden, man hört die leichte Sprachfärbung. Das Sächsische.
Josefine: Meine Eltern kommen aus Ostdeutschland und sind vor der Wende rüber. Das Problematischste war dann erst mal, dass ich nicht getauft bin. Das fanden viele Menschen komisch. Mich hat die Mutter von einer Freundin mal gefragt: ‚Was, du bist nicht getauft? Wie kannst du denn dann einen Namen haben?‘ Das haben die nicht verstanden. Irgendwann haben wir mal einen Schüleraustausch nach Magdeburg gemacht. Da haben meine Mitschüler dann verstanden: Die Ossis sind ja so wie wir.
Luise: Ost-West, das war nie ein Ding für mich. Ich hab’ mich nie als Wessi gefühlt. Erst seit ich in Leipzig bin. Vorher hab’ ich nie darüber nachgedacht.
Bei dem Thema schaltet sich jetzt auch Franzi, 21, ein. Sie ist die einzige Mitfahrerin, die im Osten aufgewachsen ist – in einem Dorf in Brandenburg. Seit ein paar Wochen lebt sie nun in München, das Studium hat sie dorthin verschlagen.
Franzi: Bei mir im Freundeskreis, da gibt es diese Ost-West-Sache gar nicht. Für uns ist das Deutschland, egal wo man ist.
Es spielt also überhaupt keine Rolle?
Franzi: Naja, wir machen schon manchmal Witze darüber. Vor kurzem habe ich ein Paket aus München nach Rostock zu meinen Freunden geschickt – und da hab ich dann ‚Westpaket‘ draufgeschrieben. (lacht)
Max, 25, stammt aus Rosenheim. Man hört ihm den bayerischen Dialekt deutlich an. Nach Leipzig ist er für das Lehramtstudium gezogen.
Max: In Bayern, wo ich herkomme, da gibt’s kein Ost und West. Da gibt’s eigentlich nur Preußen – das ist der ganze Rest von Deutschland – und Bayern. ‚Warum gehst du denn nach Ostpreußen?‘ hat mal jemand gesagt, so als Witz.
Luise: Von meiner Familie würde es mehr Kommentare und dumme Sprüche geben, wenn ich nach Bayern gehen würde als in den Osten. Das würde niemand verstehen, wenn ich dahingehen würde. Für die ist Bayern ein eigenes Land, weil die sich so gern abgrenzen.
Annika: Als ich meinen Eltern von meinem Freund aus München erzählt habe, hat mich meine Mama gefragt: Warum suchst du dir einen Freund im Ausland?
Max: Wegen meines Dialekts musste ich als Lehramtstudent an der Uni Leipzig sogar so einen extra Kurs machen: „Standardaussprache Hochdeutsch“. Da musste ich einen Text auf Hochdeutsch vorlesen. Das war wirklich schrecklich, das war echt Diskriminierung.
Das klingt hart. Was magst du denn am Osten?
Max: Ich finde in Leipzig einfach alles entspannter als in Bayern. Da sind die Leute nicht so katholisch, viel offener. Man kann viel freier leben – zum Beispiel auch was Nacktbaden angeht.
Josefine: Ich bin zurück in den Osten gezogen, weil ich die Menschen dort zugänglicher finde. Als ich zum Beispiel neu in Dresden war, da war ich im Museum und an der Kasse hat mich einfach jemand angesprochen und hat gesagt: ‚Ach, du bist neu hier? Wir können gerne mal was zusammen machen.
Max: Krass.
Josefine: Darüber habe ich meine besten Freunde kennengelernt. Als ich mal in Karlsruhe gewohnt habe, fiel es mir viel schwerer, Freunde zu finden.
Annika: Mir ging das kürzlich so. Da war ich irgendwie alleine unterwegs und da hat mich so ein Mädel gefragt, ob wir einen Kaffee trinken gehen wollen – und seitdem sind wir irgendwie befreundet. Es ist alles so einfach, weil die Leute so offen sind.
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Auf der anderen Seite gehört zum Osten eben auch eine ziemlich starke AfD.
Max: Die AfD ist im Osten so stark wegen der krassen Unzufriedenheit der Menschen. Vor allem, wenn man in ländlichere Regionen in Sachsen kommt, sieht man an den Straßen und Häusern, dass die Versorgung einfach nicht so gut ist wie im Westen. Da ist irgendwie logisch, dass das zu einer Unzufriedenheit führt.
Luise: Ich find den Unterschied der Gehälter aber auch echt heftig. Das ist dann nicht mehr zu erklären mit ‚Das Leben ist hier aber teurer‘. Ich arbeite ja in Leipzig. Wenn ich nach Hannover gehen würde und den exakt gleichen Job da machen würde, das wäre ein Quantensprung. Ich kann die Unzufriedenheit nachvollziehen. Die Leute, die im Osten etwas verändern wollen würden, ziehen weg.
Josefine: Ich war in Sachsen mal auf dem Land. Da hat man das Gefühl, da lebt gar keiner. Die Menschen fühlen sich allein gelassen und isoliert.
Annika: Da kann ich das sogar nachvollziehen, dass sie aus Angst oder aus Wut die AfD wählen.
Luise: Aber die AfD bietet doch keine Lösung.
Max: Naja, die AfD kritisiert von allen Parteien am meisten die aktuelle Politik. Die Menschen identifizieren sich dann mit dieser Kritik.
Nach diesem Thema ist es für ein paar Minuten ruhig im Auto. Blicke aus dem Fenster in die Landschaft, in der es längst dunkel geworden ist. Wir fahren über die bayerisch-thüringische Grenze, vorbei an einem dieser braun-weißen Schilder neben der Autobahn. Darauf steht, dass hier, in der Nähe von Hof, das Deutsch-Deutsche Museum stehen soll.
Josefine: Also ich fühl mich schon unwohl jetzt im Osten, wenn ich mir die Wahlergebnisse der AfD anschaue. Wenn das so weitergeht, will ich hier nicht mehr leben. Als jemand, der dort lebt, verdrängt man das schnell. Aber es gibt einfach überall AfD-Wähler – in jeder Familie, jeder hat einen Freund, der irgendwie AfD wählt. Wenn man über Politik diskutiert, gibt es nur Streit und keiner weicht von seinen Meinungen ab. Für mich wirkt das manchmal aussichtslos.
Das klingt ziemlich ernüchtert.
Max: Aber dann gibt es immer wieder diese Situationen, die mich am Osten überraschen.
Was meinst du?
Max: Meinen Aha-Moment hatte ich kurz nachdem ich nach Leipzig gezogen bin. Mir wurde der Stern von meinem alten Mercedes geklaut. Das war natürlich ärgerlich. Meine Freunde aus Bayern haben gleich gesagt: ‚Das waren irgendwelche Linken!‘ Aber irgendwie fand ich es auch cool und provokant.