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„Die Camps werden regelmäßig von der Polizei geräumt“

Seit in Calais vor einigen Jahren das „Dschungel“ genannte große Flüchtlingslager von der Polizei geräumt wurde, bilden sich  immer wieder kleinere Camps, wie dieses, das im Januar 2019 fotografiert wurde.
Foto: Christopher Furlong / Getty Images

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Am 8. September brannte das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos fast vollständig nieder. Seitdem ist die Lage für die mehr als 12 000 Geflüchteten dort noch katastrophaler als zuvor. Doch Moria ist nicht das einzige europäische Elendslager. Das zuvor bekannteste, der sogenannte „Dschungel“ in Calais in Nordfrankreich, in dem zeitweise bis zu 10 000 Menschen lebten, wurde 2016 geräumt. 2018 kam es zu einer erneuten Räumung. Seitdem bilden sich immer wieder kleinere Zeltstädte. Etwa 1500 Geflüchtete leben in Calais derzeit auf der Straße.

Die meisten Geflüchteten in Calais wollen nach Großbritannien. Weil strengere Kontrollen und die Corona-Reisebeschränkungen die Flucht auf Personenfähren oder in Lieferwagen durch den Eurotunnel erschweren, haben in diesem Jahr bereits etwa 4000 Menschen den Ärmelkanal mit dem Boot überquert. An seiner schmalsten Stelle misst der Kanal zwar nur 34 Kilometer, aber als eine der am stärksten befahrenen Schifffahrtsrouten der Welt ist er für die kleinen, oft überfüllten Boote extrem gefährlich. Immer wieder müssen darum Menschen in Seenot gerettet werden

Isabelle Horn, 24, studiert Psychologie in Wien und war in den Semesterferien vier Wochen lang in Calais, um für eine lokale Hilfsorganisation zu arbeiten. Sie hat Sachspenden, vor allem Zelte, Kleidung und Hygieneprodukte, sortiert und an die Menschen auf der Straße verteilt. Seit einer Woche ist sie zurück in Wien. Am Telefon hat sie uns ihre Eindrücke von vor Ort geschildert.

„Es soll für die Geflüchteten anscheinend so unangenehm wie möglich sein“

jetzt: Isabelle, du warst gerade für einen Monat in Calais. An was fehlt es den Geflüchteten, die dort in Camps leben, am meisten?

Isabelle Horn: Es gibt zu wenige Zelte, weil immer wieder welche von der Polizei konfisziert werden – aber auch, weil dieses Jahr alle Festivals ausgefallen sind, die sonst immer liegen gelassene Zelte gespendet haben. Es fehlen Schlafsäcke und dicke Jacken, vor allem für den kommenden Winter, und wasserdichte Kleidung. Es regnet sehr oft und wenn die Sachen einmal nass sind, werden sie nicht mehr trocken. Vor Kurzem haben die regionalen Behörden angeordnet, dass an etwa 20 verschiedenen Straßen kein Essen und keine Getränke mehr von privaten Hilfsorganisationen ausgegeben werden dürfen. Begründet wird das mit Corona-Maßnahmen, es sind aber eben auch die Orte, an denen die meisten Geflüchteten leben. Die Migranten sind jetzt komplett davon abhängig, dass die einzige staatlich finanzierte Organisation, die in Calais aktiv ist, in den Camps Lebensmittel verteilt. Das führt natürlich zu Spannungen. Insgesamt sind die Zustände dort menschenunwürdig. Es soll für die Geflüchteten anscheinend so unangenehm wie möglich sein, damit niemand mehr herkommt – die Leute kommen aber trotzdem. 

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Isabelle im Lagerhaus in Calais, in dem mehrere Hilfsorganisationen gemeinsam Spenden sammeln und sortieren.

Foto: privat

Weil sie nach Großbritannien wollen.

Ja, die meisten gehen sehr offen damit mit um. Ich habe mit einem Mann gesprochen, der sagte, in England warte schon ein Job auf ihn, auf dem Schwarzmarkt. Viele wollen rüber, weil sie Verwandte in England haben oder gut Englisch sprechen, in Frankreich schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben oder in anderen Ländern kein Asyl bekommen haben. Ich habe Abdul aus Eritrea kennengelernt, 24 Jahre alt, der sagte, dass er sechs Jahre am Bodensee gewohnt und sich in der Zeit dort ein Leben aufgebaut habe. Aber dann sei sein Asylantrag abgelehnt worden und er habe ausreisen müssen. Während ich in Calais war, hat er einmal versucht, nach England zu kommen. Aber das Boot ist kaputt gegangen und sie mussten zurück.

Wie oft wagen die Menschen den Versuch, nach Großbritannien zu kommen?

Das ist ganz unterschiedlich. Manche versuchen es seit vier Jahren immer wieder und sagen darum heute: „Es ist unmöglich.“ Manche sind eine Woche da und dann wieder weg, weil sie es anscheinend sofort geschafft haben. Anfang September haben 400 Menschen auf einmal in einem Boot den Ärmelkanal überquert. Vor einigen Wochen hat ein 16-jähriger Sudanese das gemeinsam mit einem Freund versucht, in einem Schlauchboot aus dem Supermarkt und mit Schaufeln als Paddel. Sie sind gekentert. Sein Freund hat überlebt, aber er konnte nicht schwimmen und ist ertrunken.

„Wir haben die Polizei-Einsätze regelmäßig gefilmt, um zu dokumentieren, was passiert“

Seit der „Dschungel“ von Calais geräumt wurde, bilden sich in der Stadt immer wieder viele kleinere Camps. Wie viele gibt es derzeit?

Das ist schwer zu sagen. Die Organisation, für die ich gearbeitet habe, ist immer zu vier Camps gefahren und zu einem weiteren in Dünkirchen. Aber es gibt auf jeden Fall noch mehr und es ändert sich auch ständig, weil sie regelmäßig von der Polizei geräumt werden und dann neue entstehen. 

Wie oft werden sie geräumt?

Es  gibt die Anweisung der örtlichen Behörden, dass keine permanenten Camps mehr entstehen dürfen. Darum kommen alle 48 Stunden morgens Polizisten in die Camps, vor allem Einheiten der CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité, Polizeieinheit, die normalerweise vor allem bei Demonstrationen und Großveranstaltungen im Einsatz ist, vergleichbar mit der deutschen Bereitschaftspolizei; Anm. d. Red.), die alle drei Wochen ausgetauscht werden. 

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Die meisten Geflüchteten, die in Calais auf der Straße leben, wollen versuchen, über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu gelangen.

Foto: SAMEER AL-DOUMY / AFP
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Viele der improvisierten Camps – wie dieses im February 2019 – entstehen in der Gegend des ehemaligen „Dschungels“ in der Nähe des Fährhhafens von Calais.

Foto: PHILIPPE HUGUEN / AFP
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Alle 48 Stunden werden die Menschen von der Polizei gezwungen, ihre Zelte zu bewegen. So soll verhindert werden, dass permanente Camps entstehen.

Foto: Christopher Furlong / Getty Images
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Manche Geflüchtete sind seit Jahren in Calais und versuchen immer wieder erfolglos, nach England zu kommen. Andere schaffen es sofort.

Foto: Matt Payne / dpa

Wie laufen die Räumungen ab?

Die Polizisten bringen die Menschen dazu, dass sie die Zelte bewegen, oft konfiszieren sie dabei Fahrräder, Zelte oder Rucksäcke. Manchmal können sich die Leute die Sachen später wieder abholen, manchmal werden sie zerstört. Es gibt auch immer wieder große Räumungen, bei denen dann zum Beispiel 50 Zelte auf einmal konfisziert und zerstört werden. Es herrscht eine ganz seltsame Dynamik und auch viele Menschen, die dort schon länger arbeiten, haben sie bisher nicht zu hundert Prozent verstanden. Wir haben die Einsätze regelmäßig gefilmt, um zu dokumentieren, was passiert. Die Organisation „Human Rights Observers“ wertet das Material aus und versucht, die Behörden zur Rechenschaft zu ziehen, wenn die Polizei zu aggressiv vorgeht und dadurch Menschenrechte verletzt. Einige Geflüchtete haben mir auch von Tränengas-Beschuss erzählt, das habe ich aber selbst nie gesehen. 

Wie hast du Stimmung in der lokalen Bevölkerung wahrgenommen?

Wir hatten nicht viel Kontakt, weil wir uns wegen Corona distanziert haben. Aber von dem, was ich mitbekommen habe, würde ich sagen: gespalten. Es gab ein Camp auf einem Parkplatz, 20 Zelte direkt vor einem Wohnhaus. Eine Familie mit kleinen Kindern, die dort lebte, hat den Geflüchteten manchmal Tee gebracht, während andere Nachbarn sich schon daran gestört haben, dass wir als Hilfsorganisation dort geparkt haben. Ich verstehe das schon, die Situation ist natürlich auch für die Anwohner belastend.

„Mir ging es immer besonders nahe, wenn ich Leute getroffen habe, die mir ähnlich waren“

Und wie war es für dich? 

Mir ging es immer besonders nahe, wenn ich Leute getroffen habe, die mir sehr ähnlich waren. Die so alt waren wie ich, die meinen Humor geteilt und mit mir rumgealbert haben. Da wurde mir sehr bewusst, dass der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass wir an unterschiedlichen Orten geboren worden sind. Einmal ist ein Mann weinend vor uns zusammengebrochen, weil er eine Verletzung am Fuß und keine Schuhe hatte, und er sagte, dass er seit vier Monaten keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hatte. Er war etwa Ende vierzig und hat mich an meinen Vater erinnert. Ich bin hinter ein Auto gegangen, um dort zu weinen, weil ich nicht wollte, dass er es sieht.

Wirst du noch einmal als freiwillige Helferin nach Calais gehen?

In diesem Jahr war das eine spontane Entscheidung, weil mein geplantes Praktikum ausgefallen ist und ich eine Alternative gesucht habe. Aber wenn ich nächsten Sommer Zeit habe, werde ich es sicher wieder machen, vielleicht auch in Griechenland oder in Serbien, wo es ja ähnliche Camps gibt. Ich habe gemerkt: Wenn man zwei Hände hat, mit denen man anpacken kann, und zwei Arme, die etwas heben können, ist das oft schon genug. Es wäre natürlich schöner, wenn diese Hilfe nächstes Jahr nicht mehr nötig wäre – aber bis das der Fall ist, muss noch einiges passieren.

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