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Wo ist die Grenze zwischen helfen und bemuttern?

Foto: Marko Mestrovic

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Sie war wie in einem Rausch. Bis Birgit (alle Namen von der Redaktion geändert) herausfindet, dass er noch „andere“ hat. „Da rackert man sich ab und dann hat er noch mehr Frauen in Petto. Bei einer schlief er, bei einer anderen lernte er Deutsch...“ Sie kam sich blöd vor. Und zog sich zurück. Birgit ist 57, lebt mit ihrem Mann in einem Reihenhaus am Niederrhein in Deutschland, ihre Tochter wohnt seit Jahren in Wien, der Hund war gerade gestorben. Bei einem Kirchenbesuch im Sommer 2016 lernte sie „ihn“ zufällig kennen: Nabil*, einen 28-jährigen Flüchtling aus dem Nordirak, der sich evangelisch taufen ließ. Sie kamen ins Gespräch, stellten fest, dass sie beide einmal in Chicago gelebt hatten, waren sich sympathisch und das Ganze nahm seinen Lauf.

Nabil wurde zum Essen eingeladen, zum alten Pferd mitgenommen, er half beim Umzug der Oma und wurde beim Europa-Match „Deutschland gegen die Slowakei“ in die nachbarschaftliche Fußballkultur eingeführt. Birgit strahlt: „Ich hatte wieder ein Kind im Haus!“ Und für dieses Kind legte sie sich ins Zeug. Die Lehrerin für Feldenkrais geriet in einen „Helfer-Hype“, wie sie es nennt. Sie begann, morgens stundenlang im Nachthemd zu recherchieren. Sie telefonierte, fuhr herum, legte einen Ordner mit Nabils Namen darauf an – obwohl sie eigentlich nie Ordner anlegt. „Wie kriege ich den jungen Mann auf die Beine, damit dieses Talent nicht verloren geht?“ Das war ihr Antrieb.

Ihr Selbstwert steigerte sich und sie entdeckte eigene Talente: „Ich bin gut darin, Sachen herauszufinden und mit Leuten so zu telefonieren, dass sie gerne weiterhelfen.“ Birgit verschaffte ihm schließlich einen Deutschkurs bei der IHK (Industrie und Handelskammer) samt Praktikum. Denn der junge Iraker ist studierter Ingenieur, spricht fließend Englisch, die Tochter hat ihn scherzhaft den „Eliteflüchtling“ ihrer Eltern genannt. Für Birgit war es ein riesen Erfolg, als ihr Schützling nach Monaten den umkämpften Platz erhielt, Nabil hingegen schimpfte: Der Unterricht sei so schlecht, er wolle lieber zu Siemens. Das habe ihr zwar einen Stich versetzt und klar, ein bisschen undankbar hätte sie es auch gefunden. Aber: „Er hat mich eben behandelt wie eine Mutter, bei der man seinen ganzen Frust ablässt.“

Wieder Mutter sein

Dass sie die Mutterrolle innehat, war für Birgit von Anfang an wichtig. Denn wenn ein junger Mann kurz nach dem ersten Kennenlernen fragt, was sie am Wochenende macht, dann müsse sie sich als Frau natürlich fragen: Wie sieht der mich? Und: Welche Position nehme ich ein? Sie habe sich entschieden, die Tante oder Mutter zu sein. Zu Ausflügen nahm sie daher auch ihre eigene Mutter mit. Birgit wollte Nabil familiären Anschluss bieten. Und er hat das gerne angenommen.

Die Monate mit Nabil, das Helfen und Organisieren, all das hat Birgit, wie sie selbst sagt, „irre viel Spaß“ gemacht. Es war „berauschend“, es habe „geschmeichelt“: „Ich bin der Schlüssel für ein Weiterleben, ja für ein ganzes Dasein.“ Sie war eine von Merkels „Wir schaffen das“-Kämpferinnen, wollte es den „Bösen“ zeigen, jenen, die die Flüchtlinge verteufeln. „Es ist eine unheimlich verantwortungsvolle Aufgabe und man will nicht versagen.“ Dass bei diesem Engagement Dinge auf der Strecke bleiben, verwundert nicht. Ihr Mann, der Haushalt, die Vorbereitungen für ihre eigenen Kurse. Aber der Mann war stolz – sie tat ja etwas Gutes – und machte mit.

Bald besuchte Nabil nicht nur die Koppel ihres Pferds, sondern auch den Qi-Gong-Kurs ihres Mannes. Ein neues Familiengefühl lebte auf – bis es zum Vertrauensbruch kam. Als Birgit zufällig herausfindet, dass sie nicht die einzige deutsche Frau ist, die Nabil hilft, und dass es andere gibt, die sich kümmern, ist sie tief enttäuscht. Zum einen, weil sie findet, dass die Frauen sich miteinander hätten absprechen können – schließlich ist Helfen ein Vollzeitjob. Und zum anderen, weil sie realisiert, dass Nabil einen Teil seines Lebens vor ihr verbirgt. Dass er vielleicht doch weniger Sohn und mehr Fremder ist? „Ich habe dann Scherze gemacht, dass er gut darin ist Frauen um den Finger zu wickeln. Aber ich wollte auch nicht wie eine eifersüchtige ‚Alte’ wirken.“

Immerhin, bei einer der „anderen“ übernachtete er auch und sie ahnt natürlich, dass in der häufigen Beziehung „deutsche Frau und junger Flüchtlingsmann“ unterschwellig vieles abläuft. Sie erinnert sich an eine Szene im Baumarkt, als sie mit Nabil einer Ehrenamtlichen über den Weg lief. „Sie war klein, eher dick und hatte ihren schicken schwarzen Flüchtling an der Hand und ich, Ende 50, mit meinem hübschen Iraker an der Seite... Es war seltsam. In diesen Topf wollte ich nicht geschmissen werden.“ Also fährt Birgit ihren Elan zurück. Das Gefühl, eine Mutter für Nabil sein zu können, nimmt ab. Und auch das Bedürfnis, mit anderen Flüchtlingen, denen sie nach wie vor beim Deutschlernen hilft, eine familiäre Beziehung haben zu wollen. „Durch die Erfahrung mit Nabil behalte ich nun meine Privatsphäre für mich. Ich bin nicht mehr so weit offen, und mein Herz auch nicht. Inzwischen grenze ich mich viel besser ab. Aber manchmal denke ich schon, dass ich jetzt herzlos bin.“

Im Sog der Flüchtlinge

 

Viele ehrenamtliche Helfer machen die Erfahrung, aus euphorischer Nähe wieder eine sichere Distanz schaffen zu wollen. Weil sie zu stark hineingeraten sind und nicht nur ihr altes Leben, sondern sich selbst vernachlässigt haben. Oder weil sie enttäuscht wurden, das Gefühl bekamen, mehr zu geben als sie zurückbekommen. Ursula Habrich, Sozialpädagogin bei der Frauenberatungsstelle in Neuss, kennt dieses Phänomen und geht in ihren Vorträgen darauf ein. „In der Beziehung zu Flüchtlingen entsteht schnell ein Sog, dass man das Gefühl bekommt, man müsse sie retten – was natürlich nicht geht. Die Flüchtlinge kommen mit Bedürftigkeit und Ohnmacht, die Helfer rutschen da mit hinein. Es entstehen Gefühle wie Lähmung, Wut, Frust und man gibt eine Distanz auf, die man braucht, um zu helfen.“ Habrich will Ehrenamtlichen bewusst machen, dass sie die Flüchtlinge nicht retten, sondern begleiten können. Und dass man nicht alles von sich geben muss. Problematisch wird für Habrich die Beziehung deshalb erst dann, wenn die Helfer ihren eigenen Wert an ihre Hilfeleistung koppeln: So entstehen Versagensängste und es kann zu Enttäuschungen kommen. Wenn der Eindruck entsteht: Ich tu doch alles für ihn und er ist undankbar.

 

Uta*, 56, hat diese Erfahrung gemacht. Für eine Hochschwangere aus Syrien organisierte sie nicht nur eine Wohnung, damit die Alleinstehende nach der Geburt mit ihrem Säugling ein eigenes Dach über dem Kopf haben würde, sondern auch den Umzug samt Möbeln. Was leicht klingt, ist in Wahrheit eine nervenzehrende Mammutaufgabe. Als sie der Frau im Krankenhaus strahlend erzählte, dass sie ihr sogar ein rotes Designer-Sofa auftreiben konnte, kann sie die Reaktion der Schwangeren nicht fassen: „Oh, no red! Perhaps brown or black...“ Uta konnte es nicht glauben. Inzwischen grenzt sie sich ganz bewusst ab. Nicht mehr Bezugsperson sein, nicht mehr Anrufe in der Nacht entgegennehmen, einfach nur geregelten Deutschunterricht geben.

 

Frauen, die wie Uta und Birgit helfen und mehr geben, als sie je vorhatten, gibt es viele. Ich habe mit einer Handvoll von ihnen telefoniert oder sie getroffen – in Deutschland und in Österreich. Natürlich engagieren sich auch Männer. Aber dass vor allem Frauen vom Helfer-Sog betroffen sind, bestätigen die Zahlen. Eine Berliner Studie des Instituts für Integrations- und Migrationsforschung (BMI) fand kürzlich heraus: Dreiviertel der Ehrenamtlichen sind nicht nur weiblich, mit der Flüchtlingskrise sind es immer mehr Frauen mittleren Alters, die helfen. Was sie schaffen und was sie geben, ist unersetzlich. Nur hat kaum einer überhaupt einen Schimmer davon, wie groß ihre Leistung ist – nicht einmal „ihr“ Flüchtling.

 

Auf Marina, eine 47-jährige Volkschullehrerin aus Wien, trifft dies zu. Ich sitze an ihrem Küchentisch und mir schwirrt der Kopf, weil ich bei all den Namen und Ereignissen, von denen sie mir ohne Luft zu holen erzählt, nicht mehr mitkomme. Marina kümmert sich um rund 20 Flüchtlinge in einer Gemeinde im Burgenland und in Wien. Obwohl „kümmern“ kaum das richtige Wort ist. Sie hilft mit Leib und Seele. Und ihre Familie spannt sie mit ein. Es werden Toaster, Matratzen oder Heizungen organisiert, daheim stapeln sich Baby-Utensilien und manch ein Flüchtling wurde schon für ein paar Monate bei der Tochter in der Wohnung mit untergebracht. Auf Marina können sich „ihre Somalis“ verlassen – sie sieht sich als Freundin und „Ersatz-Mutter“. Sie lädt sie zu Familienfeiern ein, ob zu Geburtstag, Sylvester oder dem Hochzeitstag. Marina ist eher klein und zierlich, aber die Energie und Willenskraft, die sie ausstrahlt, geht auf mich über. „Ich habe selber nicht das Gefühl, dass es zu viel ist. Denn es ist notwendig.“ Allerdings nimmt es sie oft auch mit, gesteht sie. Dann bekommt sie Kopfschmerzen, fühlt selbst das Leid ihrer Schützlinge. Einmal musste ihre Familie die Reißleine ziehen. Nachdem sie im Urlaub ihre Zeit damit verbrachte, einen ihrer afghanischen Jungs für das Casting von „Traiskirchen. Das Musical“ anzumelden, und gleichzeitig für die Rückkehr eines anderen Schützlings (ihm fehlt eine Hand) versuchte, über Facebook Geld aufzustellen, konfrontierte ihre Familie sie mit einem „Flüchtlings-Sprechverbot“ für die restliche Urlaubszeit. Marina hielt heimlich Kontakt.

 

Enttäuscht von den Flüchtlingen wurde sie nie. Im Gegenteil. „Mich enttäuschen nur Freunde, Verwandte und Dorfbewohner, die kein Verständnis für meine Bereitschaft zu helfen haben. Die nicht berührt sind.“ Marina hat viele alte Kontakte reduziert oder abgebrochen. Sie kann einfach nicht verstehen, dass die anderen nicht helfen. „Mittlerweile bin ich lieber mit den Flüchtlingen zusammen. Ich bin mit diesen Leuten verbundener, als mit Leuten, die ich lange kenne.“

 

Manchmal ist das Engagement so groß, dass Beziehungen darunter leiden. Oder sogar zerbrechen

 

So wie bei Anna*. Die Partnerschaft der 47-Jährigen aus Wien ging in die Brüche, nachdem sie 2015 begonnen hatte, sich um zwei minderjährige Brüder aus Syrien zu kümmern. „Die Jungs sind dir wichtiger als ich!“, hieß es von Annas damaligem Freund. Und auch durch ihre Familie geht inzwischen eine Spaltung: Es gibt die, die sie unterstützen, und die, die es nicht verstehen und auf der anderen politischen Seite stehen. Ihre Mutter zum Beispiel. Das wirkt sich auch auf Familientreffen aus. Aber „ihre“ Jungs, wie Anna Muhamed* und Bilal* (heute 19 und 17) nennt, sind ihr sehr wichtig. Immerhin sind sie schon durch so viel durchgegangen – Polizeieinsatz inklusive. Anna hat für sie Deutschkurse organisiert, einen sogar selbst bezahlt – Kostenpunkt 450 Euro. Sie hat sich um einen Schulplatz und eine Stelle als Gemeindearbeiter gekümmert, sie ist mit ihnen spazieren gegangen, hat mit ihnen und Freundinnen gekocht und sehr oft haben die Brüder auch bei Anna übernachtet. „Meinen Jungs geht es heute gut, weil sie in einem super Netzwerk gelandet sind.“

 

Anna ist vorsichtig mit dem „Mutter“-Begriff. Sie hat keine Kinder, sagt aber, dass ihre Beziehung wahrscheinlich wie die einer Mutter ist. Außerdem könne sie sich vorstellen, einmal mit ihnen zusammen zu ziehen. Zunächst aber geht es darum, die beiden zu integrieren – auch auf Kosten von Religion. Beim Punkt „Ramadan“ war sie resolut: „Ich unterstütze das überhaupt nicht. Wir sind eine Leistungsgesellschaft und wenn die Lehrerin anruft, weil die Jungs beim Unterricht überhaupt nicht mehr fähig sind mitzumachen, dann geht das so nicht!“ Anna hat sich mit den Eltern der Jungs via Telefon abgesprochen, mit dem Ergebnis: Ramadan wird nicht mehr gefastet.

 

Heute steht die Selbstständige an einem Punkt, wo sie sagt, dass sie sich mehr abnabeln muss. „Sonst komme ich mit dem Job nicht klar!“ Und sie weiß, dass es für Muhamed und Bilal jetzt wichtig ist, Anschluss bei anderen Jugendlichen zu finden. Manche Frauen würden nicht loslassen. Anna wirkt reflektiert, pragmatisch. „Früher hatte ich ein schlechtes Gewissen auf Urlaub zu fahren, jetzt trau ich mich schon.“ Und beim berühmten Nachtanruf, den wohl schon jede Ehrenamtliche in Schrecken versetzt hat, hat sie Grenzen gesetzt: Sie ist nicht selbst hingefahren, sondern hat die Rettung gerufen, als einer der Brüder klagte, dass der andere seine Hand nicht mehr bewegen könne.

Abgrenzen!

 

Solche Grenzen zu setzen ist wichtig, weiß auch Barbara Preitler vom Verein Hemayat, die kürzlich erst ein Buch für Ehrenamtliche veröffentlicht hat („An ihrer Seite – Psychosoziale Betreuung von traumatisierten Flüchtlingen“). „Flüchtlinge erleben unzählige Grenzverletzungen. In der Willkommenskultur hat man zu wenig darauf geachtet. Oft können die Flüchtlinge selbst nicht mehr ihre eigenen Grenzen schützen, beziehungsweise die von anderen spüren. Deshalb ist es so wichtig, von beiden Seiden doppelt auf Grenzen zu achten.“ Und als Helfer dann eben nicht um Mitternacht mit ihnen zu telefonieren, weil sie so arm dran sind, sagt Preitler. Das führe nur zu Überforderung, zumal viele Ehrenamtliche ohne irgendeine Schulung ins kalte Wasser geworfen wurden. Manche erleben sogar eine „sekundäre Traumatisierung“, ein Phänomen, das besonders mit der Flüchtlingskrise bekannt wurde. Bezeichnend ist hier, dass Helfer selbst einen Vertrauensverlust in die Welt und die Menschen erleben, weil sie zu stark in das traumatische Leben der Flüchtlinge eintauchen. Dies kann krank machen, zu Schlaflosigkeit oder zu einem Abschalten von Gefühlen führen.

 

Birgit aus dem Reihenhaus am Niederrhein spürt, dass sie eine Grenze von Nabil überschritten hatte, weil „die anderen Frauen“ seine Privatsphäre waren. Und obwohl sie traurig war, empfand sie den loseren Kontakt auch als gesunden Ablöseprozess. Nabil hatte selbstständig eine Flucht geschafft, er würde nun auch „Deutschland“ schaffen. Kürzlich rief er an, sie freute sich. „Er brauchte wohl seinen Freiraum“, sagt Birgit. Und ja, sie auch.

 

 

Unsere Redaktion kooperiert  in unregelmäßigen Abständen mit biber  – was wir bei JETZT ziemlich leiwand finden. Als einziges österreichisches Magazin berichtet biber direkt aus der multiethnischen Community heraus – und zeigt damit jene unbekannten, spannenden und scharfen Facetten Wiens, die bisher in keiner deutschsprachigen Zeitschrift zu sehen waren. biber lobt, attackiert, kritisiert, thematisiert. 

 

Übrigens, die Biber-Reportage „Generation Haram“ ist in Österreich zur „Story des Jahres 2017“ gekürt worden. Zum Nachlesen hier lang bitte

Biber Haram
Fotot: Biber
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