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Hanau: Rechsextreme Gewalt macht weiße Menschen nicht wütend genug
Für viele weiße Deutsche steht Karneval für Kamelle, Alkohol und enthemmte, durchgefeierte Nächte. Für viele nicht-weiße Deutsche ist das Wort Karneval seit dem rassistischen Anschlag in Hanau vor einem Jahr auch noch mit etwas anderem verbunden: einem gefühlten, aber sehr harten Schlag ins Gesicht. Mit den Begriffen Erschöpfung, Rassismus, Terror. Und dem Vertrauensverlust in einen Teil unserer Gesellschaft.
Nach dem Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 gab es in ganz Deutschland Mahnwachen und Schweigeminuten. Betroffene fanden sich in den sozialen Medien und auf der Straße zusammen, machten ihren Gefühlen Luft: Wut. Entsetzen. Trauer. Viele teilten eine schmerzhafte Verständnislosigkeit in Anbetracht dessen, was in Deutschland gleichzeitig passierte.
Denn am Wochenende nach den Morden feierten viele, vor allem weiße, Deutsche: Karneval. Und schoben das, was da am Mittwochabend mitten in Deutschland passiert war, einfach weg. Vielleicht sprach man ein paar Tage später darüber. Über rechten Terror in Deutschland. Über Halle und den NSU-Komplex, über den Mord an Walter Lübcke. Noch ein Jahr später sagt die Islamwissenschaftlerin Nava Zarabian in Enissa Amanis Sendung „Die beste Instanz“ auf Youtube entgeistert: „Da feiern zwei Tage nach dem Anschlag einfach Menschen Karneval.“
Wir Weißen können trauern – und am nächsten Tag ohne Sorge die Straße entlanggehen
Natürlich feierten nicht alle. Und nicht alle feierten, ohne nachzudenken. Genug allerdings taten es. Und die Partys, die stattfanden, stehen exemplarisch für ein größeres Problem: Nicht von Rassismus betroffene Menschen sind nicht schockiert genug von den Gefahren, die von rechtsextremer Gewalt ausgehen. Sie fühlen sich nicht direkt bedroht – und haben auch deshalb nicht genug Wut und Empathie. Sie können feiern, wenn einen Abend zuvor neun junge Menschen aus rassistischen Motiven erschossen wurden. Natürlich gibt es auch Weiße, die auf Todeslisten stehen oder bei Anschlägen sterben. Walter Lübcke war einer von ihnen, wie andere Politiker*innen oder Aktivist*innen, die sich für Geflüchtete oder die Rechte von Minderheiten einsetzen. Auf die weiße Mehrheitsgesellschaft aber trifft das nicht zu. Diese kann sich sicher sein, nicht Opfer eines rechtsextremen Anschlags zu werden, zumindest nicht gezielt. Dass beim Anschlag in Halle auch zwei weiße Deutsche ermordet wurden, die zufällig vor Ort waren, ist furchtbar. Das Ziel des Anschlags waren eigentlich eine Synagoge und ein Dönerimbiss. Er war rassistisch und antisemitisch motiviert.
Wir fühlen nicht genug, nicht langfristig genug. Wer mit Betroffenen spricht, merkt das sehr schnell noch einmal deutlicher.
Wir Weißen können schockiert sein – und in den meisten Nächten dennoch ganz gut schlafen.
Wir können trauern – und am nächsten Tag ohne Sorge die Straße entlanggehen.
Wir können demonstrieren – und Stunden später leichter über etwas anderes sprechen.
Wir können Wut in uns tragen – aber sie ist nicht stark genug.
Denn diese Wut, wenn wir sie denn haben, brennt nicht dauerhaft. Wir kämpfen nicht, wie die Hinterbliebenen der Opfer von Hanau, dafür, dass nicht auch noch unsere anderen Kinder durch einen Rechtsextremen sterben. Doch es kann unsere Freund*innen treffen, Kolleg*innen, Nachbar*innen treffen. Bis Ende Dezember 2020 stieg der Prozentsatz der tatsächlichen oder mutmaßlichen Rechtsextremist*innen, die in Deutschland ganz legal Waffen besitzen, um knapp 35 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Wir alle sollten Angst vor diesen Waffen haben.
Es gibt so viel Grund, wütend zu sein. Denn es ist ungerecht, dass ein Teil unserer Gesellschaft sich vor rechtsextremem Terror fürchten muss und der andere Teil diese Furcht zumindest ganz gut wegschieben kann. Es ist ungerecht, dass die Hinterbliebenen von Hanau trauern müssen. Es ist ungerecht, wie mit ihnen umgegangen wird. Dass sie sich alleingelassen fühlen und den Worten der Politiker*innen keinen Glauben schenken können.
Betroffene wiederholen immer wieder den gleichen Schmerz, die gleichen Forderungen, die gleiche Fassungslosigkeit
Und es ist schlicht furchtbar, dass so viele Menschen in Deutschland rechtsextreme und rassistische Positionen unterstützen. Weil das so ist, müssen die anderen umso lauter sein. Wir können den Schmerz und die Angst der Betroffenen nicht ganz genau nachfühlen, egal, wie empathisch wir sind. Aber wir können Ungerechtigkeit sehen, benennen und dementsprechend handeln. Wir können uns mit rechtsextremen Strukturen auseinandersetzen, hinhören, wenn Betroffene sprechen, uns solidarisieren und laut sein. Das bedeutet nicht, lediglich ab und zu mal eine Kachel in einer Instagram-Story zu teilen, ohne den Inhalt richtig zu lesen.
Ein Jahr lang schon kämpfen die Hinterbliebenen der Opfer von Hanau. Sie recherchierten, was die Polizei nicht recherchierte, sprachen in Kameras und in Notizblöcke hinein, wiederholten in Talk-Formaten und in den sozialen Medien immer und immer wieder den gleichen Schmerz, die gleichen Forderungen, die gleiche Fassungslosigkeit.
„Wie soll ich weiterleben?“, fragt die Mutter von Sedat Gürbüz.
„Ich habe kein Vertrauen mehr“, sagt der Vater von Hamza Kurtović.
„Ich schlafe kaum, es ist wie Folter“, erzählt der Bruder von Gökhan Gültekin.
Sie brennen noch immer, ihr Antrieb ist der unbedingte Wunsch nach Gerechtigkeit. Wir müssen mit ihnen laut sein, wütend, traurig und verzweifelt. Wir müssen handeln. Sonst brennen sie aus.