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Drei Jahre nach dem Anschlag in Hanau: Protokolle
Vor drei Jahren, am 19. Februar 2020, ermordete in Hanau ein 43-Jähriger aus rassistischen Motiven neun junge Menschen: Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Hamza Kurtović, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Er erschoss sie in der Shisha-Bar Midnight am Rande der Hanauer Innenstadt und in einer wenige Meter weiter liegenden Café-Bar. Wenig später eröffnete er in einer weiteren Bar im Hanauer Stadtteil Kesselstadt erneut das Feuer. Danach tötete er seine Mutter und sich selbst.
Was ist in den vergangenen drei Jahren passiert? Seda und Parmies, beide aus Hanau, haben sechs Monate nach dem Anschlag schon einmal mit SZ Jetzt gesprochen. Jetzt, drei Jahre später, haben sie – genau wie die Angehörigen – noch immer offene Fragen. Hier sprechen sie über politische Enttäuschungen, darüber, wie sich ihre Heimatstadt durch den Anschlag für sie verändert hat – und die Kraft der Hinterbliebenen.
„Wenn der 19. Februar näher rückt, kommen die alten Emotionen hoch“
Parmies, 24, lebt in Hanau. Sie hat in der Midnight Bar gearbeitet, einem der Tatorte. Zwei Jahre lang war die Bar ihr zweites Zuhause. Am 19. Februar 2020 war sie nur aus einem Grund nicht dort: Sie und ihr Bruder hatten spontan entschieden, zumindest einen Abend in der Woche an einem anderen Ort zu verbringen.
„Direkt nach dem Anschlag hatte ich große Angst, wieder in Shishabars zu gehen. Ich habe mich dort sehr unsicher gefühlt. Das hat sich mittlerweile geändert. Aber dennoch frage ich mich oft, wenn ich den Notausgang in einer Bar sehe: Ob er wohl verschlossen ist? Es fühlt sich komisch an.
Ich war eng mit Sedat befreundet. Er wurde auf dem Friedhof in Dietzenbach begraben. Dort werde ich am Jahrestag nach meiner Arbeit hingehen. Danach will ich zu den Tatorten in der Innenstadt gehen, um zu gedenken. Sedat war nicht nur ein guter Freund, er war auch mein Chef. Seine Bar war für mich und meine Kollegen wie ein zweites Zuhause. Ich kannte die Straße sehr gut: Gegenüber sind zwei Hotels, ein Dönerladen, ein Kiosk, eine Pizzeria, ein Lebensmittelladen. Es war familiär, man kannte sich. Bis zum 19. Februar 2020 habe ich mich dort gut und sicher gefühlt. Heute erkenne ich kaum etwas wieder. Es gibt neue Bars, es sind andere Leute da. Ich gehe dort nicht mehr einkaufen, nicht mehr essen. Einen neuen Wohlfühlort wie die Midnight Bar und diese Straße habe ich in Hanau seitdem nicht mehr gefunden. Ich habe auch gar nicht mehr danach gesucht. Ich wollte keinen Ersatz.
Die erste Zeit nach dem Anschlag war Hanau kühl und trist. Die Menschen haben nicht gelächelt, sahen bedrückt aus. Natürlich geht das Leben irgendwie weiter. Doch das, was passiert ist, prägt uns. Ich wohne in Hanau, ich komme oft am Heumarkt vorbei. Ich bin immer noch mit den alten Leuten befreundet, mit Menschen, die damals auch in der Midnight Bar gearbeitet haben. Wir denken manchmal gemeinsam an das Geschehene, sprechen darüber. Das hilft. Für mich war es in den vergangenen drei Jahren außerdem gut, mich auf meinen Alltag zu fokussieren: meine Prüfungen, die Uni, meine Arbeit. Das war ein Ventil für den Stress in mir, für das, was ich nicht aussprechen konnte, und noch immer nicht kann.
Ich habe Respekt und auch Angst vor dem Jahrestag. Verdaut habe ich das, was passiert ist, immer noch nicht. Wenn der 19. Februar näher rückt, kommen die alten Emotionen hoch. Ich wünschte, es würde diesen Jahrestag nicht geben. Aber der Zusammenhalt, der an diesem Tag herrscht, gibt mir auch Kraft. Es ist sehr herzlich, obwohl die Erinnerung so schrecklich ist. Man stärkt sich gegenseitig. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Angehörigen Kraft haben, so lange zu kämpfen. Sie geben nicht auf, das macht mich stolz. Ich weiß, dass es für alle sehr schwierig ist, immer wieder Veränderung zu fordern, immer wieder aktiv an das Geschehene zu denken, sich immer wieder zu wiederholen.“
„Bis heute haben sich die Familien keine Zeit genommen zu trauern“
Seda, 33, kommt aus Hanau. Sie ist Mitglied des Künstler:innen-Kollektivs „Kollektiv ohne Namen“ und setzt sich gegen Rassismus und Diskriminierung ein.
„Früher war Hanau einfach meine Heimatstadt. Jetzt verbinde ich die Stadt mit dem 19. Februar. Seit dem Anschlag wird viel geredet, aber es passiert nichts. Alles weist immer mehr darauf hin, dass die Behörden versagt haben: Wieso wurde der Täter erst so spät gefasst, wieso haben die Beamten so lange vor seinem Haus gewartet, bevor sie reingegangen sind? Und man fragt sich natürlich, warum die Opfer nicht schneller und besser versorgt wurden, ob nicht eines der Opfer hätte gerettet werden können. Ferhat lag mehrere Stunden auf dem Boden; Videoaufnahmen zeigen, dass Polizisten über ihn drübergestiegen sind und nicht einmal geschaut haben, ob er überhaupt noch atmet, oder seinen Puls gefühlt haben. Und dann wurde auch noch bekannt, dass 13 der 19 SEK-Beamten, die am Tatabend in Hanau im Einsatz waren, in rechtsextremen Chatgruppen waren. Das war ein krasser Schock für alle.
Ich habe noch viel Kontakt zu Serpil Unvar, die Mutter von Ferhat. Sie wohnt in der Nähe des Vaters des Täters und wird von diesem immer wieder belästigt, es ist ein Skandal. Er hat Kontaktverbot, bricht es aber die ganze Zeit. Die Betroffenen müssen geschützt werden. Es hat in den vergangenen drei Jahren niemand Verantwortung übernommen, unser ehemaliger Ministerpräsident Volker Bouffier wurde ohne Konsequenzen in den Ruhestand geschickt. Und Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat versprochen, gegen Rechtsextremismus härter durchzugreifen – aber wenn sich so lange nichts tut, gibt man die Hoffnung auf und merkt, dass man sich selbst schützen muss.
Wer jeden Tag etwas tut, das sind die Hinterbliebenen. Bis heute haben sich die Familien keine Zeit genommen, zu trauern und den Schmerz zu verarbeiten. Sie stehen jeden Morgen wieder auf und kämpfen weiter. Zum Beispiel für ein Denkmal für die Opfer in Hanau. Das ist in der Stadt gerade ein großes Thema: Die Familien wünschen sich ein Denkmal auf dem Marktplatz der Stadt. Doch es gibt Stimmen, die sich dagegen aussprechen. Der Marktplatz solle nicht von so einer Tragödie überschattet werden. Hanau soll weiter das Image der Märchenstadt, der Gebrüder-Grimm-Stadt, haben. Das finde ich enttäuschend. Kein Denkmal zu bekommen, wäre sehr traurig.
Das Engagement der Hinterbliebenen in Hanau strahlt auch bis in andere Städte in Deutschland. Verschiedene Opferinitiativen sind sehr gut miteinander vernetzt. Wir helfen einander. Die Anschläge in München, in Hanau, in Halle, der Tod von Oury Jalloh, all das sehen wir als eins, als Kette von Ereignissen. Wir wissen: Hanau war nicht das erste Mal, nicht das einzige Mal, und es war sicher auch nicht das letzte Mal. Für die Familien ist wichtig, dass endlich mal jemand Verantwortung übernimmt. Solange das nicht passiert, können auch keine Konsequenzen folgen. Außerdem brauchen die Familien psychologische Betreuung, ebenso finanzielle.“