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Halle-Prozess: Überlebende Yaffa Fogel im Interview
Nach drei Wochen Pause steht der rechtsextreme Attentäter aus Halle erneut vor Gericht. Im Oktober 2019 versuchte der Terrorist, sich mithilfe selbstgebauter Sprengsätze Zugang zur Synagoge zu verschaffen. Nachdem mehrere Versuche scheiterten, erschoss der Attentäter eine Passantin und den Gast eines Dönerladens. Die US-Amerikanerin Yaffa Fogel, 25, lebte zu diesem Zeitpunkt seit drei Jahren in Deutschland. Gerade arbeitet sie in einer Nichtregierungsorganisation in Berlin und gelegentlich für die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg. Am wichtigsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, war sie nach Halle gereist, um in der dortigen Gemeinde zu feiern. Knapp ein Jahr später erinnert sie sich. Und stellt klare Forderungen.
jetzt: Frau Fogel, wie verfolgen Sie als Betroffene gerade den Prozess um den Terroranschlag in Halle?
Yaffa Fogel: Ich durchlaufe viele verschiedene Emotionen. Auch für mich ist das eine völlig neue Situation. Ich bin Akademikerin, ich habe in meiner Arbeit Prozessakten aus der Nachkriegszeit bearbeitet und analysiert. Aber plötzlich sind die Seiten vertauscht und ich bin die Betroffene. Das hindert mich daran, tiefer in die politische Analyse dieses Anschlags einzusteigen. Dabei ist mir genau das ein Anliegen. Was mir noch immer sehr hilft, ist das Gefühl, nicht allein zu sein. Als Gruppe von Betroffenen haben wir ein Statement verfasst, das kurz vor dem Prozess veröffentlicht wurde – das haben auch Menschen unterschrieben, die nicht in der Synagoge waren. Wir waren uns alle einig darüber, wofür dieser Anschlag eigentlich steht: White Supremacy (Die Überlegenheit der Weißen, Anm. d. Redaktion). Darunter fällt nicht nur die antisemitische, sondern auch die islamophobe und frauenhassende Einstellung des Täters. Das gemeinsam zu benennen, war ein unheimlich ermächtigendes Gefühl.
Was verschlug Sie am wichtigsten Feiertag des jüdischen Kalenders nach Halle?
Ich halte nicht viel von Vorurteilen. Auch diese Vereinfachung, der Osten sei so rechts in Deutschland, war mir bekannt. Ich wollte mir aber kein Urteil bilden, bevor ich nicht selbst dagewesen war. Das war auch einer der Gründe, Jom Kippur in Sachsen zu feiern. Außerdem war die Reise umsonst, also dachte ich mir, warum nicht? Mich interessierte, wie an einem Ort mit einer so kleinen jüdischen Gemeinde der wichtigste Tag in unserem Kalender gefeiert würde.
„Im Scherz sagte er noch – aber was soll schon passieren, ein Anschlag?“
Wie erinnern Sie den Tag des Anschlags?
Im jüdischen Kalender beginnt der Tag mit dem Sonnenuntergang des Vortages. Wir saßen deshalb schon am Abend vor dem Anschlag zusammen und plauderten mit ein paar Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Einer erzählte uns, dass es in der Region immer wieder antisemitische Vorfälle gab. Im Scherz sagte er noch – aber was soll schon passieren, ein Anschlag? Wir lachten.
War dieses Szenario nicht vorstellbar?
Da gibt es einen kulturellen Unterschied zwischen den Gemeindemitgliedern. Gegen Mittag gab es eine große Explosion außerhalb des Gebäudes, Rauch stieg auf. Ich duckte mich automatisch in meinen Stuhl. Auch die anderen Amerikaner*innen im Raum wussten sofort, was los ist. Wir sind so auf Anschläge dieser Art gepolt, die sich in den USA immer wieder gegen Minderheiten richten, dass wir automatisch mit dem Schlimmsten rechnen. Interessanterweise schalteten die anderen Menschen nicht so schnell. Wir hörten die Durchsage des ehrenamtlichen Sicherheitsmannes. Es gab keinen wirklichen Ausweg. Wir flohen hoch in eine Wohnung, aus der es keinen Ausgang gab. Die Älteren unter uns hatten Schwierigkeiten, die Treppenstufen hochzukommen. Dann warteten wir. 20 Minuten lang. Wir hatten keine Ahnung, ob die Polizei wirklich kommt oder was draußen gerade passiert. Diese 20 Minuten kamen mir unfassbar lang vor.
„Dieser Prozess ist nur ein Puzzlestück, um einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs anzustoßen, der längst überfällig ist“
Haben die Sicherheitsbehörden angemessen gehandelt?
Als wir die Synagoge verließen, war das Polizeiaufgebot beeindruckend. Trotzdem schafften es Medienvertreter, Fotos von uns zu machen. Uns erreichten den ganzen Tag über widersprüchliche Informationen zum Hintergrund des Anschlags. Für mich hörte dieser Albtraum erst auf, als wir in ein Krankenhaus gebracht wurden. Gleichzeitig wirkte alles total chaotisch. Es stellte sich außerdem heraus, dass zwei Polizeibeamte in Ausbildung während des Angriffs an der Synagoge vorbeifuhren. Sie sahen den Angreifer – und fuhren weiter. Warum fiel ihnen nicht auf, dass der Täter sich gerade vor einer Synagoge umzieht, am wichtigsten jüdischen Feiertag? Meine Vermutung ist, dass er nicht als gefährlich erachtet wurde, weil er ein weißer Mann war. Hätte der Mann anders ausgesehen, wäre er vielleicht nicht unter dem Radar der Beamten geblieben. Der Täter ist nicht in die Synagoge gekommen, das ist ein Segen. Aber er hat dennoch Menschen getötet. Im Prozess stufte ein Experte das benutzte Waffenarsenal ein. Jede einzelne davon war gefährlich und gebaut, um zu töten. Er war in der Bundeswehr, er spielte Ballerspiele und war in der Lage, diese Waffen nachzubauen.
Wie haben Sie den ersten Teil des Prozesses vor vier Wochen erlebt?
Anfangs drehte sich alles um den Terroristen als Individuum, seine Kindheit, seinen Charakter. Ich verstehe, warum das getan wird, aber ich hoffe sehr, dass jetzt in der zweiten Hälfte des Prozesses mehr auf die strukturellen Probleme eingegangen wird, die dieser Tat zugrunde liegen. Dieser Prozess ist nur ein Puzzlestück, um einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs anzustoßen, der längst überfällig ist.
„Wir müssen von diesem Mythos des Einzeltäters wegkommen“
Was meinen Sie damit?
Halle war keine Einzeltat. Der Täter war kein einsamer Wolf. Mit diesem Narrativ macht man es sich sehr einfach. Er hatte definitiv die Merkmale des „einsamen Wolfs“: Er war den Großteil seines Lebens allein, er hat die Waffen selbst gebaut. Aber er war auch auf Online-Plattformen unterwegs, wo er große Unterstützung erfahren hat. Die Videos der Tat waren für ein breites Publikum gedacht, sogar ein internationales – der Täter spricht im Anschlagsvideo Englisch.
Stehen diese Anschläge sogenannter „einsamer Wölfe“, die weltweit verübt werden, für Sie in Verbindung miteinander?
Die Hintergründe der Taten sind andere, aber das politische Klima, das sie ermöglicht, ist das Gleiche. Wir müssen von diesem Mythos des Einzeltäters wegkommen, um den Anschlag in Halle aufzuarbeiten und eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen. Dieser Täter steht für so viel mehr, als die eigentliche Tat. Er steht für White Supremacy, die auch als solche benannt werden muss. Wenn wir uns also nur selbst auf die Schulter klopfen und darauf ausruhen, dass wir dieses Individuum gefasst haben, dann erlauben wir diesen Netzwerken, weiter zu existieren.
Welches Urteil erhoffen Sie sich am Ende der Verhandlungen?
Es ist klar, wie dieser Prozess ausgeht: Der Täter wird hinter Gittern landen. Damit könnte man sich dann zufrieden geben. Es muss sich aber viel mehr ändern. Echte Gerechtigkeit ist für mich nur, wenn sich auch im öffentlichen Diskurs etwas verändert.
„White Supremacy ist das Problem, das wir als Gesellschaft angehen müssen“
Wie könnte dieser Diskurswechsel aussehen?
Der Täter hat sich international vernetzt und hatte eine Community hinter sich. Wenn wir nicht wollen, dass sich sowas wiederholt, dann müssen wir das anerkennen. Nachdem der Täter nicht in die Synagoge kam, versuchte er zuerst zwei Frauen zu erschießen und ging dann gezielt auf den Dönerladen los. Der Täter war ein islamophober, rassistischer, antisemitischer weißer Mann, der Frauen hasste. White Supremacy ist das Problem, das wir als Gesellschaft angehen müssen. Darunter fallen so viele Formen von Gewalt und Diskriminierung, aber auch die Vermischung mit Verschwörungstheorien. Diese Haltung ist nicht neu. Aber es ist neu, dass wir das Problem als solches benennen.
Nach dem Anschlag wurde auch der Ruf nach stärkeren Sicherheitsmaßnamen für Synagogen laut. Was halten Sie davon?
Es ist offensichtlich, dass mehr Sicherheit diese Angriffe nicht verhindert. Konsequenterweise bräuchten wir dann auch Sicherheitszonen um jeden Dönerladen. Wenn die Sicherheit nur der jüdischen Gemeinde zukommt, dann sehe ich darin wieder ein antisemitisches Element. Diese Maßnahmen befördern lediglich eine noch größere Spaltung der Gesellschaft. Sie schaffen keinen gesellschaftlichen Dialog, im Gegenteil. Aber genau den brauchen wir. Wir müssen uns mehr mit unseren Nachbarn, mit Minderheiten, mit Menschen verbinden, die Erfahrungen mit Gewalt und Diskriminierung machen. Wir müssen uns anschauen, wie Rassismus, Antisemitismus und alle diese „-Ismen“ in unserem Alltag wirken. Das wäre für mich eine sinnvolle Maßnahme.