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Halle ein Jahr nach dem Anschlag: Projekt Tagebuch der Gefühle
„Der 9. Oktober war für uns Hallenser ein schrecklicher Tag“, sagt Paul. „Aber es war auch ein Moment, in dem wir gesagt haben: Jetzt erst recht. Wir machen weiter.“ Der 17-Jährige aus Halle ist Teil des Projekts „Tagebuch der Gefühle“. Was etwas schwammig klingt, ist eigentlich sehr konkret: Die Jugendlichen beschäftigen sich mit den Kriegsverbrechen der Nazis – und schreiben ihre Gedanken und Gefühle dazu in einem Buch auf. „Wie konnte der Mensch so gewalttätig sein, zerstören, quälen und vernichten?“, steht in der Einführung des dritten Tagebuchs, das vor wenigen Tagen erst erschienen ist, und weiter: „Das versuchen wir aus der Vergangenheit zu verstehen und zu lernen.“ Die Sprache der Jugendlichen ist eine andere. Da ist nichts wissenschaftlich, geschliffen, fünfmal durchdacht oder kompliziert. Was da steht, ist ihre ehrliche und spontane Reaktion auf Menschenfeindlichkeit. Genau das macht den Inhalt für andere junge Menschen so zugänglich.
Wer sich so intensiv mit dem beschäftigt, was Antisemitismus und Judenhass in Deutschland schon angerichtet haben, schaut vielleicht noch einmal anders auf den rassistischen und antisemitischen Terroranschlag in Halle vor genau einem Jahr, als ein 29-Jähriger zwei Menschen ermordete. Dass es nicht noch mehr Opfer gab, wurde vermutlich allein dadurch verhindert, dass ihm eine schwere Holztür den Zugang zur Synagoge in Halle nicht möglich machte. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter läuft gerade.
Einer der Teilnehmer verlor bei dem Anschlag seinen besten Freund
Am 9. Oktober 2019 arbeiteten die Jugendlichen schon zwei Jahre lang am „Tagebuch der Gefühle“. Für das Projekt schlossen sich im Herbst 2017 Schüler*innen der Gesamtschule Ulrich von Hutten und Teilnehmer*innen des Projekts Stabil zusammen, das sich vor allem an Schulabbrecher*innen richtet. Geleitet wird das Projekt von Andreas Dose. Er ist pädagogischer Mitarbeiter bei der Stiftung Bildung Handwerk in Halle, zu der das Projekt Stabil gehört. Er hat in den vergangenen Jahren viele Geschichts-Projekte mit Jugendlichen durchgeführt. Dieses sei besonders, erzählt er: „Ich habe noch nie erlebt, dass ein Projekt von den Jugendlichen mit einer solchen Kraft selbst vorangetrieben wurde.“
Die Jugendlichen beschäftigen sich seit drei Jahren mit Antisemitismus in Deutschland.
Direkt nach dem Anschlag legten sie an den Tatorten auch Blumen nieder.
Im Schulunterricht lerne man zu wenig über Antisemitismus und dessen Auswirkungen, finden sie.
Das nächste Projekt erstreckt sich über die kommenden vier Jahre. Und will den Antisemitismus der Gegenwart analysieren.
Vier Monate nach dem Anschlag, Mitte Februar, kurz bevor die Corona-Pandemie Deutschland weitestgehend lahmlegt, sitzen einige Schüler*innen gemeinsam mit Andreas Dose an einem Tisch in einer Schule in Halle. Es ist Mittagspause für viele, das Treffen quetschen sie zwischen Essen und Unterricht. Doch es ist ihnen wichtig, dabei zu sein. Zu sprechen.
Die Jugendlichen wissen genau, wie wichtig es ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie wissen auch, dass diejenigen, die die NS-Zeit selbst miterlebt haben und berichten können, immer weniger werden. Als die „neuen Zeitzeugen“ bezeichnen sie sich deshalb selbst. „Ich wollte etwas gegen den Hass unternehmen“, sagt Kim, die kurz nach dem Terroranschlag am 9. Oktober 2019 zur Gruppe gestoßen ist. Sie findet, dass über das Thema Antisemitismus im Schulunterricht zu wenig gesprochen werde. Auch Max ist Teil der Gruppe. Wenn man ihn nach seiner Motivation fragt, wartet er kurz, überlegt, ob er wirklich sagen soll, was er sagen will. Dann tut er es doch, und erzählt, dass er bei dem Anschlag seinen besten Freund verloren hat – der 20-jährige Kevin S. stand in seiner Mittagspause im Kiez-Döner, als der Täter dort um sich schoss. Die Gruppe rund ums „Tagebuch“, wie die Jugendlichen ihr Projekt verkürzt nennen, helfe ihm auch, klarzukommen, sagt Max. Sich Wissen aneignen, miteinander sprechen, und dann das Gelernte weitertragen. Das sei ihm wichtig – und das sei auch heilsam.
„Es klingt klein, auf Instagram einen Post gegen Rechtsextremismus zu teilen. Für viele ist das aber ein großer Schritt“
Hat der 9. Oktober 2019 die Jugendlichen noch mehr politisiert? Ja, sagen sie.
Kim: „Ich wollte nach dem Anschlag umso mehr etwas unternehmen und mich positionieren. Für mich ist dieser Tag sehr wichtig.“
Max: „Ich setze mich durch das Projekt viel mehr mit dem Thema auseinander.“
Paul: „Am Anfang war ich einfach nur neugierig – jetzt will ich andere aufklären. Die Vergangenheit ist so wichtig für die Gegenwart.“
Merken sie diese Politisierung denn auch an ihrem Umfeld? Ja, sagen sie.
Die Unterstützung wachse, das Projekt werde bekannter, manchmal rufen jetzt Reporter*innen an, es gab eine Lesung im Stadthaus, sie tingeln durch Schulklassen, um ihre Erfahrungen zu teilen, und vor allem gibt es auch: Nachrichten aus dem engen Umkreis. Freund*innen, die schreiben und sagen: „Gut, dass ihr das macht“, „Respekt“ und „Danke“.
„Ich kenne viele, die jetzt politischer sind. Es klingt klein, auf Instagram einen Post gegen Rechtsextremismus zu teilen. Für viele ist das aber ein großer Schritt“, sagt Paul. Dass immer mehr junge Menschen in Halle genau solche kleinen Schritte gehen, beobachtet er genau.
Im Januar dieses Jahres, als das Büro des Hallenser SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby attackiert wurde und in der Scheibe Einschusslöcher gefunden wurden, setzte sich die Gruppe sofort mit dem Politiker in Verbindung. „Das hat mich sehr geschockt“, sagt Paul. Doch dann habe er versucht, nicht auf die Einschusslöcher in der Scheibe zu achten. Sondern auf die Rosen, die Menschen in diese Löcher gesteckt haben. „Das finde ich viel bedeutender. Es geht um Solidarität.“
Für das Projekt verfolgen die Schüler*innen die Schicksale deportierter Familien aus Halle. Sie suchten und putzten Stolpersteine, besuchten das Hallesche Stadtarchiv, das Gefängnis „Roter Ochse“. Sie erinnern sich noch genau, wie sie als Teil des Projekts die Synagoge noch vor dem Anschlag besuchten, erzählen sie. Auch auf dem jüdischen Friedhof waren sie. Außerdem fuhren sie gemeinsam für eine Woche nach Polen und besuchten die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Ihre Eindrücke und Gedanken halten die Jugendlichen fest: in einem Tagebuch, eben dem „Tagebuch der Gefühle“, außerdem in Videos, die sie auf Youtube hochladen.
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Das dritte Tagebuch kommt gerade frisch aus dem Druck, als der 17-jährige Paul, der auch den Social-Media-Auftritt des Projekts betreut, am Telefon noch einmal erzählt, wie intensiv diese vergangenen Monate für die Schüler*innen waren. Der dritte Teil sei der bisher persönlichste, sagt er. Dafür fuhren sie zu verschiedenen KZ-Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt. 13 Gedenkstätten waren geplant, dann kam ihnen die Corona-Pandemie in die Quere. Nur sechs haben sie deswegen besucht. Der Rest ist dennoch im Tagebuch vertreten. Sie arbeiteten mit Dokumenten und Online-Führungen. Das dritte Tagebuch ist dicht beschrieben. Die Gruppe hat etwas zu sagen.
Jede Seite macht deutlich, dass die Vergangenheit die Jugendlichen schockiert
Darin stehen auch Ausschnitte der Abschiedsbriefe, die Kriegsdienstverweigerer schrieben, bevor sie von den Nationalsozialisten hingerichtet wurden. Da ist ein Abzug des Briefs, den Hermann Abke am 15. Juli 1944 in Torgau an seine Frau und seine Kinder schrieb. Oder einer von Krystyna Wituska, die umgebracht wurde, weil sie die Standorte der Wehrmacht ausspionierte. Die Schüler*innen schreiben im Tagebuch auch ihre Gedanken zu diesen Briefen: „Was soll man denn schreiben, wenn man weiß, dass es die letzten Worte sind?“, steht da zum Beispiel. Ein anderer bezeichnet die Nationalsozialisten mehrfach als „Unmenschen“. Es geht in dem Buch um NS-Zwangsarbeit, um politische Gefangene, um Foltermethoden, um Euthanasie. „Ich musste weinen, als ich den Text geschrieben habe“, sagt eine Teilnehmerin. Es ist ein Nachdenken darüber, wie der Alltag damals war: „So viele Menschen wurden nach Deutschland gebracht, um für uns zu arbeiten. Um Bomben zu bauen und um dann damit ihre Länder und Familien zu zerstören. Ich hätte mich geweigert. Aber ist das so einfach gewesen? Ich glaube nicht!“, schreibt einer im Tagebuch. „Wenn du dich geweigert hast, zu arbeiten für die Deutschen, dann hieß es ja gleich, ab ins KZ. Na ja und was das bedeutet, das wissen wir ja heute alle. Wer es nicht weiß … Tagebuch der Gefühle Teil 1 und Teil 2 lesen!!!!“ Jede Seite macht deutlich, dass die Vergangenheit die Jugendlichen schockiert – und dass sie nicht wollen, dass sich so etwas wiederholt.
Das wird über Halle hinaus gewürdigt. Das Projekt wird immer größer, die Gruppe hat verschiedene Preise gewonnen, unter anderem den Preis „Wettbewerb Demokratisch Handeln“ des Bundesforschungsministeriums. Sie planen mehr Besuche in Schulen, um das, was im Geschichtsunterricht vermittelt wird, durch die eigenen Erfahrungen zu ergänzen. Ab dem 9. Oktober 2020 geht es dann in die Planungsphase des vierten Tagebuchs, ein besonderes Projekt, erzählt Paul, denn es lässt die NS-Zeit hinter sich. Es will erforschen, wie antisemitisch und rassistisch die deutsche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg war – und ist. Das Projekt soll sich über vier Jahre erstrecken und die Jahre von 1945 bis 2024 abdecken. Vom NSU bis hin zum Terroranschlag in Halle. Mindestens.