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Frankreichs Protestwelle erreicht die Unis

Foto: Benoit Tessier / Reuters

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„Saint-Denis ist wütend! Saint-Denis ist wütend!“ hallt es über den leergefegten Platz vor der Kathedrale in Saint-Denis, im Norden von Paris. Das Viertel ist großräumig abgesperrt an diesem Donnerstagabend, vor den rechteckigen Polizeigittern sammelt sich eine schreiende Menge. Auf der anderen Seite der Absperrung liegt das renommierte Gymnasium der „Ehrenlegion“, wo heute Abend ein Konzert zu Ehren des französischen Präsidenten Emmanuel Macron stattfindet. Drinnen Eltern und Schülerinnen der Privatschule, draußen circa 300 wütende Eltern, Schüler und Studis: „Das Geld ist da, es ist nur falsch verteilt!“, rufen sie und machen ihrem Ärger mit lauten Buh-Rufen Luft, als der schwarze Mercedes des Präsidenten vorfährt.

Ihre Wut richtet sich gegen die geplante Bildungsreform der Macron-Regierung, aber auch gegen ein Schulsystem, das nirgends in Europa so elitär und gespalten ist wie in Frankreich. Stellt man sich einen Nachmittag vor eine Schule im Herzen der Stadt und vergleicht die Kinder dort mit denen, die in der Banlieue (Vorort) zur Schule gehen, ist der Unterschied schwer von der Hand zu weisen: Außerhalb der Stadt kommt selten ein weißes Kind aus dem Schultor. In den vorstädtischen Gegenden wie Saint-Denis bricht laut einer Studie der Bundeszentrale für politische Bildung jedes zweite Kind nach dem niedrigsten Schulabschluss, also der 10. Klasse, die Schule ab. An die Uni schaffen es die wenigsten. Weiße Kinder gingen auf die guten Schulen, bekämen die bessere Betreuung und hätten deshalb viel höhere Chancen als Kinder aus der Banlieue, beklagt ein Vater mit einer Trillerpfeife um den Hals. Wären da nicht die Absperrungen, würde er sich „den Präsidenten mal vorknöpfen“, sagt er. 

Das Regierungsprojekt „Orientierung und Erfolg“ wird den Zugang zur Uni erschweren und die treffen, die jetzt schon benachteiligt sind

Es liegt eine Anspannung in der Luft, die sich derzeit in ganz Frankreich ausbreitet. Macrons Reform-Welle treibt nicht nur die Bahn-Gewerkschaften auf die Straße, sondern zunehmend auch die Jugend. Denn so langsam wird klar, was sein Gesetzesprojekt „Orientierung und Erfolg“ im Klartext bedeutet: Der Zugang zu bestimmten Studiengängen soll beschränkt werden, Stipendien werden nicht mehr an Bedürftigkeit, sondern an Leistung gekoppelt und die Selektionsmechanismen bei einer Bewerbung werden extrem verstärkt – was insbesondere Jugendliche aus sozial schwachen Einzugsgebieten betreffen wird, deren Abschlüsse als „weniger wert“ abgelehnt werden können.

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Seit zwei Wochen werden in ganz Frankreich mehr als 30 Universitätsgebäude besetzt oder kurzzeitig blockiert. Hier die Universität Paris 8 im Norden von Paris.

Foto: Eva Hoffmann
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Studenten besetzen einen Hörsaal der Universität Paris 8 – manche übernachten sogar dort.

Foto: Eva Hoffmann
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Barrikaden aus Tischen, Stühlen und Metallgittern versperren seit Montag die 13 Eingänge der Universität im Norden von Paris.

Foto: Eva Hoffmann
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„Nächster Halt: Aufstand! Hier wird gerade gestreikt.“

Foto: Eva Hoffmann

Während Macron an diesem Donnerstagabend in der Privatschule ein hoch abgesichertes Konzert besucht, wird deshalb aus Protest knapp einen Kilometer weiter die Universität Paris 8 blockiert. Barrikaden aus Tischen, Stühlen und Metallgittern versperren seit Montag die 13 Eingänge der Universität im Norden von Paris. Die Uni entstand aus der 68er-Bewegung und dem Wunsch nach einem offenen Ort, an dem alle die Möglichkeit haben, frei und selbstbestimmt zu lernen. Noch heute studieren hier Menschen ohne Papiere, die Kurse sind offen und es herrscht kaum Anwesenheitspflicht. Wenn Macrons Gesetz in Kraft tritt, wäre mit all diesen Freiheiten Schluss.

„Dieser Kampf ist wichtiger als irgendeine Note“

„Das französische Unisystem ist elitär genug, wir brauchen nicht noch mehr Zugangsbeschränkungen“, sagt Léa, 20, die seit zwei Jahren Psychologie an der Paris 8 studiert. Die Studentin sieht etwas müde aus und schaut immer wieder auf ihr Smartphone. Sie habe in einem der Hörsäle übernachtet, aber kaum geschlafen, weil sie ständig daran denken musste, dass das Gebäude jederzeit von der Polizei geräumt werden könnte. Auch wenn die Besetzung sie ein Jahr ihres Bachelor-Studiums kosten könnte, weil sie ihre Kurse nicht beenden kann, ist sie überzeugt: „Dieser Kampf ist wichtiger als irgendeine Note. Und wer sich darüber beschwert, dass die Uni mal eine Woche zu hat, sollte sich echt überlegen, in was für einer Welt er leben möchte.“ 

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Léa, 20, studiert Psychologie. Sie hat für die Besetzung gestimmt, weil sie glaubt, das könnte der Anfang einer großen Bewegung werden.

Foto: Eva Hoffmann

Mit „diesem Kampf“ meint Léa eine Bewegung von Blockaden, die seit zwei Wochen in ganz Frankreich stattfindet. Von Bordeaux bis Strasbourg wurden mehr als 30 Universitätsgebäude besetzt oder kurzzeitig blockiert. Während die Präsidentin der Paris 8 auf Kommunikation setzt und vorerst keine Polizei gerufen hat, ist die Situation in anderen Teilen des Landes angespannter. Das Video einer Vollversammlung an der Universität in Montpellier sorgte vergangene Woche für Aufregung: Während sich Studis und Professoren über die Zukunft ihrer Blockade unterhielten, stürmten maskierte und mit Schlagstöcken bewaffnete Mitglieder der neo-faschistischen Gruppe Ligue du Midi die Versammlung und jagten die Studis mit Tritten und Schlägen vom Uni-Gelände. Ein Professor der Rechtsfakultät hatte ihnen absichtlich die Tür geöffnet.

„Sowas geht natürlich gar nicht“, findet Charlène, 18, die Erziehungswissenschaften an der Paris 8 studiert. Trotzdem ist sie gegen die Blockade an ihrer eigenen Uni: „Ich glaube nicht, dass sich Regierungsentscheidungen so beeinflussen lassen. Außerdem nervt es mich, dass ich mein Jahr nicht zu Ende machen kann. Eine Woche reicht doch, um seiner Wut Luft zu machen.“

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Charlène, 18, studiert Erziehungswissenschaften. Sie hat gegen die Besetzung gestimmt, weil sie ihr Studium voranbringen will.

Foto: Eva Hoffmann

Am Freitagvormittag quetschen sich rund 1000 Studierende in einen stickigen Hörsaal der Paris 8. Es soll abgestimmt werden, ob weiter blockiert wird. Die Besetzer hielten diejenigen vom Arbeiten ab, die Geld an der Uni verdienen, lautete ein Kritikpunkt und dass die Uni ein offener Ort bleiben müsse. Wenn er es aber auch auf Dauer bleiben soll, dann müsse man jetzt einen Schlussstrich ziehen, sagen die Befürworter. Kurz bricht lautes Geschrei aus, es bilden sich zwei Lager, eines für und eines gegen die Besetzung, dann wird abgestimmt. Die Studis einigen sich auf einen Kompromiss: Bis Mittwoch bleibt die Uni blockiert, dann wird wieder abgestimmt. Was wie der Frühling einer neuen Bewegung klingt, könnte genauso schnell vorbei sein wie das gute Wetter im April. 

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