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Geflüchtete an türkisch-griechischer Grenze: Erik Marquardt berichtet von der Situation auf Lesbos
„Erdoğan provoziert gewaltvolle Bilder“
Seit dem Wochenende spielen sich an der türkisch-griechischen Außengrenze der EU dramatische Szenen ab. Am Grenzfluss Evros harren aktuell mindestens 13 000 Menschen aus, die von der griechischen Grenzpolizei nicht durchgelassen und zum Teil mit Tränengas beschossen wurden. Sie mussten bei Kälte im Freien übernachten. Tausende versuchten, die Grenze illegal zu überschreiten, einige Migrant*innen bewarfen die Grenzbeamt*inne mit Steinen. Am Sonntag und Montagmorgen schafften es etwa 900 Menschen auf Booten über die Seegrenze in der Ägäis auf die Inseln Lesbos, Samos und Chios. Vor allem auf Lesbos kam es zu Protesten und Übergriffen durch die lokale Bevölkerung auf Geflüchtete, NGO-Mitarbeiter*innen und Journalist*innen. Ein ehemaliges Erstaufnahmelager wurde in Brand gesteckt. Auf Lesbos leben im für 3000 Menschen ausgelegten Lager Moria aktuell schon etwa 20 000 Menschen unter schlechtesten Bedingungen.
Die Lage ist eskaliert, weil der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan am Freitagabend angekündigt hatte, Geflüchtete auf dem Weg in die EU nicht mehr aufzuhalten – ein Bruch des 2016 beschlossenen „Flüchtlingspakts“ der EU mit der Türkei. Der sah vor, dass die Türkei Geflüchtete nicht nach Europa weiterreisen lässt und dafür bei der Versorgung der mittlerweile 3,6 Millionen Syrer*innen im Land unterstützt wird. Erdoğan wirft seinerseits der EU einen Bruch des Pakts vor, was ihn zur Grenzöffnung bewogen habe.
Erik Marquardt, Europa-Abgeordneter der Grünen, ist aktuell auf Lesbos und beobachtet die Lage. Wir sprachen mit ihm über die Übergriffe durch die lokale Bevölkerung, die Situation im Camp Moria und mögliche Lösungen der Krise.
jetzt: Du warst am Sonntag dabei, als Boote auf Lesbos angekommen sind. Was hast du beobachtet?
Erik Marquardt: Ich habe ein Boot gesehen, das mit Motorschaden auf dem Wasser trieb und die Küstenwache lag daneben und hat nichts unternommen. Ich habe bei der Seenotrettungsleitstelle in Piräus angerufen und die haben mir zum Teil abstruse Geschichten erzählt. Zum Beispiel, dass die Menschen in Seenot selbst anrufen müssten. Ich war schon auf Seenotrettungsmissionen dabei und weiß, dass das nicht stimmt. Dann hieß es, das Boot sei in türkischen Gewässern, darum könne die griechische Küstenwache nichts tun. Auch das stimmte nicht. Irgendwann wurde eine Rettung eingeleitet und dann haben Einwohner*innen die Menschen am Aussteigen gehindert und gerufen, dass sie zurück in die Türkei fahren sollen. Dort haben sich unwürdige Szenen abgespielt. Schließlich wurden die Menschen von der Küstenwache an Land und in Sicherheit gebracht.
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Du hast auf Twitter von Übergriffen durch Bewohner*innen der Insel auf NGO-Mitarbeiter*innen, Journalist*innen und Geflüchtete berichtet. Wie ist die Sicherheitslage aktuell?
Einige Einwohner*innen haben so etwas wie rechte Bürgerwehren gebildet und zum Teil Straßensperren errichtet, an denen vermummte Leute mit Eisenketten stehen. Gestern wurden ein befreundeter Journalist und ich von Vermummten bedroht, sie wollten uns nicht wegfahren lassen. An anderer Stelle wurde ein Journalist krankenhausreif geschlagen und als ich die Polizei darüber informiert habe, war der Beamte sehr unfreundlich, hat meine Personalien aufgenommen und sonst nichts unternommen. Die Situation hier hat aktuell nicht viel mit Rechtsstaatlichkeit zu tun. Die Sorge der Inselbevölkerung, dass sie alleine gelassen wird, ist berechtigt – aber darauf sollte man natürlich nicht mit Gewalt reagieren.
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Wir haben versucht, mit der Mitarbeiterin einer NGO zu sprechen, aber sie sagte, dass sie aus Angst aktuell nicht an die Öffentlichkeit gehen wollen.
Ja, weil die NGOs durch die Polizei nicht vor Übergriffen geschützt werden. Zum Teil haben sie sich in ihren Wohnungen verbarrikadiert, einige haben die Insel mittlerweile verlassen. Die griechische Regierung macht schon seit Jahren Stimmung gegen NGOs, sie werden als „Schlepper-Helfer*innen“ bezeichnet und kriminalisiert. Ich finde das unverantwortlich, weil sie versuchen, die Situation zu stabilisieren, die entstanden ist, weil die Geflüchteten und die Bevölkerung der Insel von der Regierung alleingelassen wurden.
„Auch Kriegsschiffe sind dazu verpflichtet, Menschen zu retten“
Die griechische Regierung setzt in der Ägais mittlerweile die Marine ein. Welchen Zweck hat das?
Dadurch soll der Eindruck entstehen, dass es eine Kriegssituation gibt, dass man Menschen abwehren muss. Aber auch Kriegsschiffe sind dazu verpflichtet, Menschen zu retten, wenn sie ein Schlauchboot in Seenot entdecken. Und dann muss diesen Menschen ein Asylverfahren gewährt werden. Es gibt gerade Stimmen, die sagen: „Das sind sind keine Geflüchtete, sondern Migranten“ – aber um rauszufinden, wer ein Anrecht auf Asyl hat und wer nicht, gibt es rechtsstaatliche Verfahren.
Der griechische Ministerpräsident hat am Sonntag angekündigt, einen Monat lang keine neuen Asylanträge anzunehmen.
Das ist ein Angriff auf das Fundament der EU, auf unsere Verpflichtung, die Menschenrechte zu achten. Natürlich steht Griechenland vor einer großen Herausforderung, aber man kann nicht einfach das Asylrecht aussetzen, weil ein paar Tausend Menschen an der Grenze stehen.
Erik Marquardt ist Europaabgeordneter der Grünen.
Die allerdings zum Teil auch mit Gewalt gegen die Grenzpolizei vorgehen.
Gewalt ist kein sinnvolles Mittel, aber auch die Gewalt, die vom Staat ausgeht, muss verhältnismäßig sein. Es ist klar, dass unverhältnismäßige Gewalt die Situation eskaliert. Dass an der Grenze auch ein paar Chaoten gewalttätig handeln, darf aber nicht dazu führen, dass wir pauschal Tausende Menschen entrechten.
Es gibt Berichte, dass Geflüchtete teilweise von der türkischen Polizei mit Tränengas ausgerüstet worden seien. Weißt du mehr darüber?
Ich kenne auch nur die Bilder von Tränengas-Kartuschen mit türkischer Aufschrift und kann darum nicht allzu viel dazu sagen. Nur so viel: Es ist offensichtlich, dass Erdoğan ein großes Propagandaspiel spielt. Er provoziert gewaltvolle Bilder, er will, dass die Lage eskaliert. Es wäre ja auch naiv, damit zu rechnen, dass Europa in Panik verfällt, wenn am Ende einfach nur Kinder, Frauen und Männer an der Grenze stehen.
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Du bist vorigen Dienstag nach Lesbos gereist, um dir die Situation im Lager Moria anzuschauen. Wie wirkt sich die veränderte Lage dort aus?
Gestern waren die Straßen zum Camp blockiert, heute sind sie das offenbar auch noch. Viele NGOs haben ihre Arbeit dort eingestellt und ich habe gehört, dass es aktuell keine medizinische Versorgung mehr gibt. Und das, obwohl die humanitäre Lage dort ja sowieso schon sehr schwierig ist. Das Lager ist überfüllt, es gibt zu wenig Toiletten und Duschen, nicht genug zu essen, keine ausreichende gesundheitliche Versorgung.
„Es kann nicht sein, dass plötzlich die Menschenrechte nicht mehr eingehalten werden, weil Erdoğan einmal mit dem Finger schnippt“
Wie könnte ein politische Lösung der Krise aussehen?
Erstmal muss man sich sich klarmachen, dass die EU sich durch den Türkei-Deal erpressbar gemacht hat – dass sie dann irgendwann tatsächlich von Erdoğan erpresst wird, ist nicht überraschend. Trotzdem ist es wichtig, Erdoğan dafür zu kritisieren, dass er hier Menschen instrumentalisiert. Und es kann nicht sein, dass plötzlich die Menschenrechte nicht mehr eingehalten werden, weil Erdoğan einmal mit dem Finger schnippt! Als Antwort auf diese unmenschliche Politik muss Europa Größe zeigen und rechtsstaatlich damit umgehen.
Aber wie?
Indem die EU schon an der syrisch-türkischen Grenze humanitäre Hilfe bereitstellt, wo die Menschen ankommen, die aktuell aus Idlib fliehen. Indem sie mit Erdoğan darüber redet, wie man Geflüchtete in der Türkei besser versorgen kann. Und indem sie einsieht, dass die Probleme an den EU-Außengrenzen hausgemacht sind. Die griechischen Inseln müssen dringend entlastet werden und die EU-Mitgliedsstaaten das Signal senden, dass sie bereit sind, Menschen aufzunehmen. Sonst kann es hier zu Unruhen, lebensgefährlichen Situationen und vielen Toten kommen.
Einige Mitgliedsstaaten weigern sich aber, Geflüchtete aufzunehmen – und die EU kann sie dazu auch nicht zwingen.
Es ist beschämend, dass die EU sich seit 2016 nicht auf eine gemeinsame Asylpolitik einigen kann und so sehenden Auges von Krise zu Krise taumelt. Darum müssen einige Staaten vorangehen und sich für eine Umverteilung aussprechen. Die deutsche Bundesregierung könnte das zum Beispiel tun. Immerhin haben sich in Deutschland mittlerweile mehr als 150 Kommunen bereit erklärt, Menschen aufzunehmen.