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Flüchtlingskrise vor der libyschen Küste.
Vor wenigen Tagen spielten sich auf dem Mittelmeer wieder schwer zu fassende Szenen ab. An einem einzigen Tag bargen Retter vor Libyen 1032 Menschen. Das deutsche Schiff MS Aquarius der privaten Hilfsorganisation SOS Méditerranée brachte die Menschen nun nach Italien in Sicherheit. Jana Ciernioch, 27, war während der Rettungsaktion mit auf dem Schiff und spricht für die Organisation. Sie war das erste Mal bei einer Rettungsmission dabei, insgesamt verbrachte sie drei Wochen auf der MS Aquarius. Wir sprachen mit ihr über die schweren Misshandlungen, die diese Menschen mutmaßlich in libyschen Lagern erlitten haben. Darüber, ob Deutschland und Europa Libyen nur benutzen, um sich die vielen Flüchtlinge vom Hals zu halten. Und fragten, ob private Hilfsorganisationen wie SOS Méditerranée indirekt den Schleppern helfen, in dem sie Flüchtende vor dem Ertrinken retten und nach Europa bringen.
jetzt: In der deutschen Politik ist die Lage auf dem Mittelmeer gerade so gut wie kein Thema mehr. Enttäuscht es dich, wenn du siehst, dass diese Katastrophe viel weniger Aufmerksamkeit bekommt, als das noch 2015 der Fall war?
Jana: Es gibt ja ab und an ein Aufmerksamkeitsfenster, wenn ein Boot mit mehreren hundert Menschen sinkt. Ansonsten ist es zwischendurch ruhig. Im Prinzip hat man sich in Europa dran gewöhnt, dass im Mittelmeer Menschen sterben. Man stelle sich vor, dass in Europa täglich Europäer ertrinken, das wäre wahrscheinlich ein anderer Aufschrei.
Wie waren die drei Wochen auf See für dich?
Verarbeitet habe ich das alles noch nicht. Was ich dort mitbekommen habe, ist schwer zu ertragen. Du begegnest Menschen, die massiv ausgebeutet wurden, ein Ausmaß von struktureller Gewalt, Rechtlosigkeit und Willkür erlebt haben, das für mich kaum vorstellbar ist. Ich bin in der deutschen Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen, ich wurde mit solchen Schicksalen noch nie so direkt konfrontiert. Ich bin traurig und wütend und fühle mit den Menschen mit, aber die Dimension der Erniedrigung und Entmenschlichung werde ich wohl nie komplett nachvollziehen können. Das treibt mich gerade am meisten um.
Ihr habt an einem Tag über 1000 Menschen gerettet.
An der Rettung haben mehre Boote teilgenommen. Wir wurden gebeten, früh morgens die Menschen bei uns an Bord zu nehmen. Wir haben mit unseren zwei Schnellbooten 700 Leute auf unser Schiff gebracht, die wurden zuvor von „Jugend Rettet“ geborgen und auf einen Offshore-Versorger gebracht. Das dauerte mehrere Stunden, dann kam direkt der nächste Notruf, Schlauchbootsichtung, noch mal über 100 Leute. Kurz darauf ein zweites Schlauchboot, noch mal 100 Menschen. Das Wetter war sehr gut, das war unser großes Glück, denn das zweite Schlauchboot war eins der billigen, mit sehr dünnem Gummi.
Woher kamen die Menschen?
Die meisten aus Eritrea, dann Somalia und Nigeria. Aber auch Bangladesch und Guinea. Die Fluchtgründe sind sehr unterschiedlich, aber alle haben eines gemeinsam: Sie haben in Libyen massive Gewalt erfahren. Fast alle von ihnen haben in Libyen mehrere Monate oder sogar Jahre verbracht.
Was erzählen die Geflüchteten?
Wenn die Leute länger an Bord sind, fassen sie Vertrauen und erzählen uns ihre Geschichten. Bei den Frauen ist es sexuelle Gewalt, bei den Männern sind es Folterspuren, aus den Arbeitslagern und Gefängnissen, in denen sie festgehalten werden. Wir haben einen Schutzraum nur für Frauen und Kinder, dort müssen sich die meisten von ihnen erst mal umziehen, weil sie Benzin an der Kleidung haben. Unsere Ärzte stellen dort sehr oft Narben fest, frische und alte, sowie blaue Flecken an den Oberschenkeln – Zeichen von massiver Gewaltanwendung. Wenn Frauen in deinen Armen kollabieren, während du ihnen gerade das Benzin vom Körper wäschst und diese ganzen Verletzungen siehst, wenn dir dabei langsam dieses Ausmaß von Gewalt ansatzweise klar wird, dann fragst du dich schon, in welcher Welt wir leben. In der ernsthaft drüber diskutiert wird, ob diese Menschen Schutz brauchen oder ob sie doch nur Wirtschaftsflüchtlinge sind.
Wer ist für die Misshandlungen verantwortlich?
Die Lage in Libyen ist sehr unübersichtlich, für fast alle. Die meisten berichten, dass sie in Lagern festgehalten werden, die von Libyern bewacht sind. Ob das Milizen oder teilweise auch staatliche Institutionen sind, ist schwer zu sagen.
Kritiker sagen, die Bundesregierung und die EU bezahlen die libysche Regierung und schicken zum Beispiel Ausbilder der Bundeswehr, um die Drecksarbeit für Europa zu machen. Sprich: Flüchtlinge an der Überfahrt zu hindern, damit die EU keine Probleme mehr mit ihnen hat. Wie seht ihr das?
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat vor Kurzem Libyen als wichtigen Verbündeten Europas bezeichnet. Das ist natürlich besonders krass vor dem Hintergrund, was wir und andere NGOs in den letzten Monaten auf See erlebt haben, wenn wir auf die libysche Küstenwache trafen, oder auf Gruppen, die unter der Fahne der libyschen Küstenwache fahren. Die sind meistens bewaffnet, fahren gefährliche Manöver, die das Leben der Flüchtenden und das von uns Helfern sehr konkret bedrohen. Diese Zwischenfälle nehmen seit ein paar Monaten zu. Im Mai schoss die Küstenwache mehrmals in die Luft, als wir gerade Flüchtenden von einem Schlauchboot retten wollten. Menschen sprangen in Todesangst ins offene Meer. Da frage ich mich schon, wie die Europäische Union solche Einheiten finanziell unterstützen kann.
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Geht es da noch um den Kampf gegen Schlepper, wie die Bundesregierung behauptet? Oder darum, die Menschen von der Flucht nach Europa abzuhalten?
Das Ziel der EU ist es, die Menschen an der Überfahrt zu hindern, damit sie nicht von Libyen nach Europa kommen. Oft mit dem fragwürden Argument, dadurch noch mehr Tote zu verhindern. Fragwürdig deshalb, weil Libyen ein Kriegsland ist. Die Leute wollen da raus und fliehen. Und der einzige Weg führt über das Meer. Wir wollen, dass die EU wieder in der Seenotrettung aktiv wird, wieder Geld zur Verfügung stellt, Italien nicht alleine lässt. Und sicherstellt, dass niemand sterben muss auf der Flucht.
Vor ein paar Monaten geriet aber auch die private Seenotrettung unter Druck. Die Bundesregierung sagte, dass Schleuser die Arbeit der Hilfsorganisationen mittlerweile „miteinkalkulieren“, der Frontex-Chef Fabrice Leggeri behauptete, private Seenotretter helfen mit ihrer Arbeit den Schleusern. Wie steht SOS Méditerranée zu diesen Vorwürfen?
Die Vorwürfe lenken von den tatsächlichen Ursachen ab, warum Menschen flüchten und wieso sie nicht in Libyen bleiben können. Wir sind nicht das Problem, sondern eine Antwort auf die Krise, die sich vor unserer Haustüre im Mittelmeer abspielt. Die Vorwürfe sollen von der Verantwortung und dem Versagen der Europäischen Union und auch der Bundesregierung ablenken, eine gemeinsame Antwort auf das Sterben im Mittelmeer zu finden. Wir halten es für schwer bedenklich, wenn nicht nur rechtsextreme Gruppen, sondern auch führende Köpfe steuerfinanzierter, europäischer Institutionen zu solchen Falschaussagen greifen, weil sie sich nicht mehr zu helfen wissen. Das Anstrengende dabei ist, dass wir uns mit solchen Falschaussagen rumschlagen müssen und gleichzeitig die Lücke von nicht vorhandenen, staatlichen Rettungskapazitäten im Mittelmeer füllen müssen. Wir warten auf eine europäische Antwort.