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„In Saudi-Arabien bist du als Frau ein Mensch zweiter Klasse“

Foto: Christian Faustus

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Rana Ahmad, 32, ist in Saudi-Arabien aufgewachsen und wurde streng muslimisch erzogen. Wie alle Frauen in Saudi-Arabien musste sie Vollverschleierung tragen. Durch Familie und Religionspolizei erlebte sie Unterdrückung und sexuelle Übergriffe. Als sie mit 26 den Islam zu hinterfragen begann, änderte sich ihr Leben radikal. Weil auf Atheismus in Saudi-Arabien die Todesstrafe steht, floh Rana 2015 über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute nach Deutschland. Über ihre bewegende Geschichte hat sie ein Buch geschrieben. „Frauen dürfen hier nicht träumen“ erscheint am 15.01. im btb Verlag.

jetzt: Am 19.Mai 2015 standest du am Flughafen Istanbul – und hattest die Flucht geschafft. Wie hast du dich da gefühlt?

Rana Ahmad: Ich ging ohne meinen Körperschleier aus dem Flughafen auf die Straße und spürte die Sonne auf meinem Körper. Ich entfernte den Niqab (den muslimischen Gesichtsschleier, Anm. der Redaktion). Ich konnte das Wetter genießen. Ich konnte lachen. Ich konnte tanzen und verrückt sein. Ich sagte zu mir selbst: „Du hast es getan, du hast es getan, du hast es getan!“ Es ist etwas, das man sich nicht vorstellen kann. In Saudi-Arabien bist du als Frau ein Mensch zweiter Klasse – und plötzlich bist du frei.

Wann ist dir bewusst geworden, dass Frauen im Saudi-Arabien weniger Rechte und Freiheit haben.

Das war mit 14 oder 15 Jahren. Wenn mein Bruder mit einem Freund nach draußen gehen wollte, hat er meinem Vater einfach gefragt. Wenn ich so etwas machen wollte, fragte ich meine Mutter und sie sagte entweder nein, wollte mich begleiten oder sagte, dass meine Freunde zu uns nach Hause kommen müssten. 

Frauen gelten in Saudi-Arabien als weniger wert als Männer und als unrein. Was hat das mit dir gemacht?

Als ich das erste Mal meine Periode hatte, habe ich meine Mutter gefragt, wieso ich jetzt nicht beten darf. Da hat sie gesagt: „Weil du nicht rein bist und Gott dich nicht akzeptieren wird.“ Ich dachte mir: „Fuck! Das ist mein Gott, der mich geschaffen hat und er findet mich nicht rein.“ Ich fühlte mich schlecht.

Was hätte dir gedroht, wenn du etwas Verbotenes getan hättest?

Zunächst beschuldigt man sich als Frau immer selbst, wenn man etwas getan hat, was haram (verboten im Sinn der Scharia, Anm. der Redaktion) ist. Frauen glauben zum Beispiel auch, es sei ihre Schuld, wenn sie vergewaltigt oder belästigt werden. Bei Fehlverhalten wird man manchmal von seiner Familie geschlagen. Manchmal lassen sie dich nicht mehr aus dem Haus oder geben dir kein Geld mehr für die Schule.

Du schreibst in deinem Buch, dass sexuellen Übergriffe in Saudi-Arabien extrem häufig vorkommen. Woran liegt das?

Wenn man Frauen und Männer von klein auf streng voneinander trennt, wenn es keine legitime sexuelle Freiheit gibt und wenn man keinerlei sexuelle Erziehung lehrt, dann ist es doch völlig klar, wie so eine Gesellschaft in Bezug auf sexuelle Dinge funktioniert. Viele Mädchen werden von ihrem Vater,  ihrem Bruder oder anderen Familienmitgliedern misshandelt oder missbraucht.

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Cover: btb Verlag

Und was passiert, wenn man die Täter bei der Polizei anzeigt?

Wenn man als Mädchen mit so einem Vorwurf zur Polizei geht, dann kommen sie nach Hause und befragen denjenigen, der die Tat begangen hat. Der sagt dann einfach, dass er nichts gemacht hat– und schon hat er nichts mehr zu befürchten.

 

Seit deiner Flucht bekennst du dich offen zum Atheismus. In Saudi-Arabien ist das undenkbar, oder? 

Wenn ich in Saudi-Arabien sage, dass ich aus dem Islam aussteigen will oder eine andere Religion annehme, dann ist es geltendes Recht, dass man mich umbringen muss. Dieses Gesetz wird sehr streng ausgelegt. 

 

Wie bist du vor dem Hintergrund der streng religiösen Erziehung, der Scharia und der Todesstrafe für Aussteiger Atheistin geworden? 

Über das Internet. Mein Horizont war anfangs durch die muslimische Familienwelt, in der ich erzogen wurde, sehr beschränkt. In diesem Raum konnte ich nicht frei nachfragen. Dabei wollte ich schon immer nachfragen. Bei Twitter bin ich dann auf einen Account namens „Arab Atheist“ gestoßen. Er veröffentlichte Fakten über die Evolutionstheorie und über Philosophie. Philosophie ist in Saudi-Arabien komplett verboten.

 

Und durch das Lesen bist du vom Islam abgerückt?

Ja, genau. Ich habe immer weiter gelesen und über die Fakten nachgedacht und in einem langen Prozess gemerkt, dass ich nicht mehr an das Weltbild des Islam glauben kann. Es ist natürlich nicht einfach, seine Religion zu verlassen und Atheistin zu werden. Ich habe geweint, als ich gemerkt habe, dass ich mich wirklich atheistisch fühle, weil es in Saudi-Arabien eigentlich gar keine Möglichkeit gibt, auszusteigen. Es ist, wie wenn du aus der Gesellschaft austrittst und sagst: „Ich verlasse jetzt alles, was ich habe.“

 

Erinnerst du dich an den Moment, an dem du zum ersten Mal daran gedacht hast hast, aus Saudi-Arabien zu fliehen?

Das war, als meine Mutter mich zwang, die Hadsch (die Pilgerfahrt nach Mekka, Anm. der Redaktion) zu machen. In diesem Moment schwor ich mir: „Wenn ich hier nicht bald rauskomme, bringe ich mich um.“ Aber auch wenn du das Geld und das Visum hast, gibt es immer noch diesen Moment, in dem du dich konkret entscheiden musst: Ich entscheide mich, meine Familie zu verlassen. Ich entscheide mich, alles zu verlassen. Ich entscheide mich, irgendwo komplett von null anzufangen. Am Ende habe ich mich dazu entschieden. Und bin geflohen.

 

Wie ist deine Flucht dann abgelaufen?

Der einzig aussichtsreiche Plan war es, in die Türkei zu fliegen. Dafür brauchte ich kein Visum. Ich hatte einen Internetfreund – auch ein Ex-Muslim – aus Syrien. Er unterstützte mich enorm. Er sagte mir, dass ich es schaffen könnte. Dass mein Traum wahr werden könnte. Ein weiterer Freund schickte mir Geld und so kaufte ich das Flugticket in die Türkei. 

 

Wie kamst du von der Türkei nach Deutschland?

Ich hatte Angst, illegal mit dem Boot nach Griechenland zu flüchten. Nachdem aber meine Visa-Anträge mehrmals abgelehnt worden waren, entschied ich mich, diesen Schritt zu gehen. Als ich dann tatsächlich im Boot saß, fragte ich mich: „Warum? Warum muss ich das über mich ergehen lassen, um ein normales Leben führen zu dürfen?“ Ich dachte, dass ich vielleicht nach fünf oder zehn Minuten sterben würde.

 

Wie ist dein Verhältnis zum Islam heute?

Ich habe überhaupt kein Problem mit muslimisch gläubigen Menschen. Ich habe ein Problem mit der Scharia-Gesetzgebung. Ich habe ein Problem damit, wenn Menschen anderen ihre Rechte nehmen. Ich werde wirklich wütend, wenn ich in Deutschland ein sechs- oder achtjähriges Mädchen sehe, das ihre Haare verhüllt. Hier gilt doch deutsches Recht! Ich werde auch wütend, wenn ich sehe, dass einige Muslime jüdische Menschen nicht akzeptieren und wenn ich Demonstrationen wie die in Berlin sehe (gemeint ist die Demonstration in Berlin vom 10.12.2017, bei der eine Israelflagge verbrannt wurde, Anm. der Redaktion)

 

In Deutschland lebst du mittlerweile in einer eigenen Wohnung, hast Deutsch gelernt und möchtest bald Physik studieren. Hat das Leben in Deutschland auch negative Seiten?

Die Frage kannst du mir nicht stellen, denn ich liebe Deutschland doch (lacht). 

 

Wirklich?

Ja, auch wenn die Bürokratie mir weh getan hat (lacht). Ein Jahr hier in einem Camp zu sein und dann erst fragt dich jemand, wozu du denn eigentlich in Deutschland bist – das kostet schon Energie. Ich musste ein Jahr im Camp warten, bis ich in eine eigene Wohnung ziehen konnte. Freunde haben mir damals oft Bücher vorbeigebracht, zum Beispiel über Physik. Ab und zu bin ich auch in die Bibliothek gegangen. Das Lesen hat mich beschäftigt. 

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