- • Startseite
- • Politik
-
•
Fall Walter Lübcke: Neonazi-Aussteiger Felix Benneckenstein über Rechtsextremismus in Deutschland
Wurde der CDU-Politiker Walter Lübcke von einem militanten Neonazi ermordet? Einiges deutet darauf hin. Es gibt DNA-Spuren, Zeugenaussagen – und einen Haftbefehl gegen Stephan E. Der 45-Jährige gilt als dringend tatverdächtig, Lübcke in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni erschossen zu haben. Aus rechtsradikalen Motiven? Die Neonazi-Szene feierte den Mord an Lübcke. Stephan E. wurde bereits 1995 wegen eines versuchten Bombenanschlags auf eine Flüchtlingsunterkunft zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. Auf seinem Handy wurden Dateien gefunden, die auf eine rechte Gesinnung hindeuten. Er bewegte sich im Umfeld der „Autonomen Nationalisten“, einer rechtsradikalen Gruppe, die vor allem versucht, jüngere Menschen anzusprechen. Inwieweit er Kontakte zu militanten Gruppierungen wie „Combat 18“ hatte, ist noch nicht erwiesen. „Combat 18“ gilt als der bewaffnete Arm der europaweit tätigen Neonazi-Gruppe „Blood & Honour“. Letztere Gruppierung ist in Deutschland seit 2000 verboten.
Wir haben mit Neonazi-Aussteiger Felix Benneckenstein über den Fall gesprochen. Felix Benneckenstein, 33, hat sich als Jugendlicher der Neonazi-Szene angeschlossen. Er trat jahrelang als rechtsextremer Liedermacher auf. Felix hat den Ausstieg geschafft und arbeitet heute für die Initiative EXIT Deutschland, die Menschen auf ihrem Weg aus dem Rechtsextremismus begleitet.
jetzt: Schon bevor Stephan E. den Ermittlern auffiel, hat die rechte Szene im Internet den Mord an Walter Lübcke gefeiert. Gibt die Tat Neonazis einen Push?
Felix Benneckenstein: Es gibt in der rechtsradikalen Szene schon lange die Theorie, dass das Töten von „Staatsmenschen“ nichts ist, für das man sich schämen muss. Im Gegenteil. Nach der Ideologie der Rechtsradikalen war Lübcke ein Täter, der zur Rechenschaft gezogen werden musste. Aus dem Verständnis eines Nationalsozialisten war das kein Mord, sondern das völlig legitime Antworten des deutschen Volkes auf die Politik der letzten Jahre.
Ist die Szene gewaltbereiter geworden?
Unter Neonazis heißt es schon seit vielen Jahrzehnten, man solle sich mit Gewalttaten und Bewaffnung zurückhalten, irgendwann würde der Tag kommen, da sei man so weit. Und jetzt hat sich in der Gesellschaft so viel nach rechts verschoben, dass manche das Gefühl haben, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen. Ich weiß, dass auch über mich schon bei einer Veranstaltung gesagt wurde: Lasst gerade noch die Finger von ihm. Er ist einer der Ersten, die wir uns dann schnappen, wenn es so weit ist. So hält man die Leute ruhig, aber das kann jederzeit explodieren. Ich rechne künftig mit mehr Terror aus der rechtsradikalen Szene.
Felix Benneckenstein war früher selbst Neonazi. Er schaffte den Ausstieg. Heute warnt er andere vor rechten Ideologien.
Also spielt die Tatsache, dass rechte Positionen immer salonfähiger werden, eine große Rolle?
Auf jeden Fall. Und der Rechtsruck hat auch noch eine andere Auswirkung: Die rechtsradikale Szene hat gerade das Gefühl, ihren Platz verteidigen zu müssen. Das, was wir unter Neonazi-Szene kennen, profitiert in den meisten Regionen zahlenmäßig nicht vom Rechtsruck und dem Erfolg der AfD. Deshalb versuchen diese Strömungen, sich als militanter Arm zu positionieren, als diejenigen, die durchgreifen. Insgesamt wird der Ton radikaler. Die Statements, die bei Veranstaltungen zum Beispiel vom „Dritten Weg“ kommen, sind deutlich heftiger als noch vor ein paar Jahren.
„Für einen klassischen Neonazi wäre eine rechtspopulistische Regierung nur ein Zwischenziel“
Konzentrieren wir uns zu sehr auf die AfD und verlieren dadurch der Blick auf die klassische Neonazi-Szene?
Absolut. Das ist meine allergrößte Sorge. Ich habe das Gefühl, dass sich keiner mehr für die klassischen Neonazis interessiert und dafür, was die machen. Es geht so viel darum, wer sich in der CSU rechtspopulistisch äußert und wie man damit umgeht. Das ist auch wichtig. Aber für einen klassischen Neonazi wäre eine rechtspopulistische Regierung nur ein Zwischenziel, um die Überfremdung aufzuhalten. Diese Menschen wollen das Hitler-System wieder aufbauen, sie wollen Rache für 1945, sie leugnen den Holocaust. Und da ist die terroristische Gefahr sehr groß. Gleichzeitig werden Neonazis aus dem rechtspopulistischen Bereich immer wieder in Schutz genommen. Zum Beispiel, wenn Menschen auf die Straße gehen, die sich selbst als Neonazis bezeichnen, und die AfD danach sagt: Das seien doch gar keine Nazis gewesen, das werde ganz falsch dargestellt. Das ist eine sehr gefährliche Mischung.
Welche Rolle spielt dabei das Internet?
Eine große. Da können sich Menschen auch alleine daheim radikalisieren und schwere Straftaten begehen, ohne großartige Kontakte dafür zu brauchen. Um miteinander zu kommunizieren, nutzen rechtsradikale Strömungen seit einigen Jahren verstärkt Verschlüsselungsmethoden, man vernetzt sich übers Internet.
Stephan E. kommt aus Kassel. Wie würdest du die rechtsradikale Szene dort beschreiben?
Zu Kassel selbst habe ich keine Berührungspunkte, aber man kann sagen, dass die Neonazi-Szene in Hessen als besonders gewaltbereit und als geographischer Verbindungspunkt zwischen rechtsextremistischen Kameradschaften in Dortmund und Ostdeutschland gilt. Zudem gibt es in Hessen auf dem Land viele Strömungen, die nicht auf eine Aufmarschkultur setzen, also nicht offen auf die Straße gehen und ihre Ansichten zeigen. Viele Neonazis dort präsentieren sich nicht jede Woche vor den Kameras. Dadurch sind solche Strömungen natürlich viel schwerer zu durchschauen. Doch die Öffentlichkeit sollte nicht nur auf diejenigen schauen, die diese Aufmerksamkeit auch suchen.
Also sind Neonazis, die gezielt keine Öffentlichkeit suchen, vielleicht sogar gefährlicher?
So kann man das nicht pauschal sagen. Aber es ist klar: Diejenigen, die regelmäßig auf Demonstrationen gehen, werden gut geschult, sie wissen, wie sie sich zu verhalten haben. Sie wollen ein bestimmtes Bild kreieren. Und außerdem gibt es da natürlich regelmäßig Polizeikontrollen. Am Rande von Demos passiert viel, das zu Hausdurchsuchungen führt. Da sollte man keine illegalen Waffen daheim haben.
„Gewalt Richtung Regierung ist der Idealfall einer rechtsradikalen Terrortat“
Stephan E. hat sich nach dem aktuellen Ermittlungsstand auf jeden Fall im Umfeld der „Autonomen Nationalisten“ bewegt, Kontakte zu militanten Strömungen wie „Combat 18“ sind bisher reine Spekulationen. Inwieweit gibt es da Überschneidungen?
Es ist nicht so, dass die militanten Netzwerke isoliert sind, im Gegenteil. Die Menschen, die auf Nazikonzerten unterwegs sind, zeigen völlig selbstverständlich Tätowierungen von militanten Strömungen wie „Combat 18“ oder „Blood & Honour“. Bei kollektiver Bewaffnung ist man eher vorsichtig. Wer sich bewaffnet, soll die Gruppe lieber verlassen, um die Szene nicht in Gefahr zu bringen.
Das ist natürlich alles sehr spekulativ – aber meiner Meinung nach würde die Tat ins Bild der „Autonomen Nationalisten“ passen. Es ist dieser Gruppe wichtig, dass man nach außen hin ideologisch unterscheidet zwischen Zivilisten und Nicht-Zivilisten, man orientiert sich da ein bisschen an der RAF.
Viele ziehen eine Parallele zur RAF. Was ist mit den NSU-Morden?
Der große Unterschied ist, dass hier ein Politiker ermordet wurde, kein Zivilist. Und Politiker haben einen sehr schlechten Stand bei Rechtsextremen. Sie sind Teil des Systems, da bekommt man Applaus aus der Szene. Gewalt Richtung Regierung ist der Idealfall einer rechtsradikalen Terrortat.
Seit 2010 hat sich Stephan E. ruhig verhalten, fiel den Behörden nicht mehr auf. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz hat jetzt erstmals eine Parallele zum „Schläfer“-Phänomen gezogen, das bisher aus dem Islamismus bekannt ist. Leuchtet dir das ein?
Sehr. Ich habe das selbst gemerkt: Als ich noch in der Szene war, bin ich zwischen 2008 und 2011 auf keinen einzigen Aufmarsch mehr gegangen. Schnell wurde ich vergessen, und das, obwohl ich als Naziliedermacher aktiv war, absolut verbotene Lieder verbreitet habe und Menschen aufgehetzt habe. Aber wenn du nicht auf Demos gehst, hat dich niemand auf dem Schirm. Und das wissen Neonazis. Man trifft sich dann eher auf kleinen Nazikonzerten oder beim Fußball. Man kann sich schnell unsichtbar machen, ohne was ändern zu müssen.