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Geistige Behinderung: Fabian darf bei der Europawahl zum ersten Mal wählen
Wenn am 26. Mai die Europawahl stattfindet, wird Fabian (26) zum ersten Mal wählen. Nicht, weil er sich zuvor nicht für Politik interessiert hat, sondern weil er eine geistige Behinderung mit umfassender gesetzlicher Betreuung hat und deshalb bislang vom Wahlrecht ausgeschlossen war. Fabian lebt in einer WG im Münchner Westen, gemeinsam mit anderen jungen Erwachsenen mit und ohne Behinderung. Seit Anfang April ist nun höchstrichterlich geklärt, dass auch Fabian mitbestimmen kann, wer ins Europäische Parlament einzieht. Damals wurde entschieden, dass das inklusive Wahlrecht schon zur Europawahl in Kraft tritt, der deutsche Bundestag hat eine entsprechende Gesetzesänderung am Freitag verfügt.
Ein lang überfälliger Schritt finden die einen, andere lehnen das ab, weil sie sagen, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht dazu fähig seien, ihre eigene Meinung zu bilden. Bevor ich ein Interview mit Fabian führe, möchte ich wissen, wie Menschen ohne geistige Behinderungen herausfinden, was sie bei der Europawahl wählen wollen. Dafür telefoniere ich mit Professor Kai Arzheimer von der Universität Mainz, der sich auf Wahlforschung und politische Einstellungen spezialisiert hat.
Professor Arzheimer erklärt mir, dass unsere Entscheidung, wen wir wählen, vor allen Dingen von drei Faktoren abhängt. Zum einen von den Personen, die zur Wahl stehen. Bei der Europawahl ist dieser Faktor gering, da die Kandidaten traditionell nicht sehr prominent sind. Dann schauen wir auf Sachthemen - einerseits, welche Parteien wir für kompetenter halten, um beispielsweise die Arbeitslosenzahlen zu senken und andererseits, mit welchen Parteien wir die gleichen Ansichten teilen. Der allerwichtigste Faktor, sagt Arzheimer, sei allerdings die Parteiidentifikation. Mehr als die Hälfte aller Wähler fühlt sich mit einer Partei verbunden und wählt - im Regelfall - diese eine Partei. Eine sehr tiefe und langfristige emotionale Bindung, die sich nur sehr schwer ändert. „Sehr viele Menschen übernehmen die von ihren Eltern. Es kommt sehr oft vor, dass die Voreinstellung von der einen Generation auf die nächste übertragen wird. Es gibt natürlich auch die Variante, dass man rebelliert, dass man sich bewusst gegen die politische Tradition in der Familie entscheidet”, so Arzheimer.
„Ich habe nicht verstanden, warum ich früher nicht wählen durfte“
Im Vorfeld des Interviews habe ich mich informiert, wie ich die Fragen am Besten stelle: Ich solle möglichst einfache Worte verwenden und nachfragen, wenn ich etwas nicht genau verstehe. Als ich an der Tür der WG klingele, macht mir Fabian auf. Er begrüßt mich und bietet mir einen Kaffee an, den er gerade gekocht hat. Wir setzen uns zusammen an den Esszimmertisch, an dem auch einer seiner Mitbewohner sitzt. Fabian fragt, ob er Lust hat zuzuhören.
jetzt: Fabian, wie findest du es, dass du jetzt wählen kannst?
Fabian : Super! Das ist sehr gut.
Weißt du, warum das erst jetzt so ist?
Nein. Ich habe nicht verstanden, warum ich früher nicht wählen durfte. Warum Menschen mit Behinderung nicht wählen durften und Menschen ohne Behinderung schon.
Wie fandest du denn, dass du davor nicht wählen durftest?
Nicht gut. Ich fand das ungerecht.
Und wirst zu der Wahl gehen?
Ja, werde ich. Zusammen mit meiner Mutter.
Eine Mitbewohnerin von Fabian kommt in den Raum und setzt sich mit an den Tisch. Die Betreuerin erklärt kurz, dass wir ein Interview führen, darüber dass jetzt Menschen in Vollzeitbetreuung wählen dürfen. „Krass. Jetzt alle, oder wie?“ – „Ja, bei der Europawahl. Das wurde letzte Woche entschieden. Wusstest du das?“ „Ne. Und was heißt das?“ „Da geht es darum, dass jetzt alle Menschen mitentscheiden dürfen, wer in Europa das Sagen hat.“ „Ok, das ist ja heftig. Das ist ganz schön viel“ „Willst du das auch machen?“ „Ich weiß nicht, ich glaube eher nicht.“ Fabian sagt ihr, dass sie sich gerne dazu setzen kann, um zuzuhören.
Wie kam es dazu, dass du dich für Politik interessierst?
Über meine Mama. Und über die Frau vom Bayerischen Fernsehen. Der habe ich mal ein Interview gegeben.
Wie informierst du dich über Politik?
Ich höre sehr gerne Radio und schaue Nachrichten. Und ich habe mir auch immer die Wahlen angeschaut.
Schaust du jeden Tag Nachrichten?
Ja.
Mit wem sprichst du über Politik und Nachrichten?
Mit meiner Mama rede ich viel über Politik. Mit meinem Bruder auch. Das macht mir Spaß.
Hast du dich schon auf die Europawahl vorbereitet?
Ja, es gibt die Grünen, die SPD, die CDU, die Linke...
Hast du dich auch schon entschieden, wen du wählst?
Die Grünen.
„Ich bleib bei den Grünen. Ich wähle nur die Grünen“
Wieso? Welche Themen findest du bei denen gut?
Die möchten, dass Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung wählen.
Aber das wollen andere Parteien ja auch.
Ja, das stimmt.
Was magst du denn noch an den Grünen?
Es soll alles umweltfreundlicher werden.
Wie hast du dich denn entschieden, dass du die Grünen wählen willst?
Über meine Mutter.
Wählt die auch die Grünen?
Ja.
Was wäre denn, wenn deine Mutter plötzlich die Linke wählt?
Ich bleib bei den Grünen. Ich wähle nur die Grünen.
Fabian holt sein Handy und zeigt einen Beitrag des Bayerischen Fernsehens, in dem er interviewt wird. Der Beitrag ist drei Jahre alt. Eine Gruppe von Menschen, mit und ohne geistiger Behinderung, sitzen an einem Tisch. Ein Politikkreis, der sich regelmäßig trifft und die Wahlprogramme der Parteien in leichter Sprache liest und bespricht. Als die Reporterin im Beitrag sagt: „Es geht darum, dass Menschen, die einen Betreuer zur Bewältigung des Alltags benötigen...“, ruft Fabian: „Oder eine BetreuerIN! Es kann ja auch eine Betreuerin sein.“ Mittlerweile hat sich der Politikkreis aufgelöst, oder trifft sich nur sehr unregelmäßig, erzählt Fabians Betreuerin.
Hast du dir die Wahlprogramme in leichter Sprache auch für die Europawahl durchgelesen?
Ja.
Nur von den Grünen?
Von allen Parteien.
Hast du Lust, dass wir uns auf meinem Handy ein paar Parteiprogramme anschauen?
Ja, gerne.
Dann fangen wir mit den Grünen an. Da steht jetzt an erster Stelle „Umwelt und Klima“. Wie findest du das?
Das finde ich super.
Die Grünen wollen, dass die Landwirtschaft gut für die Tiere sein soll.
Das finde ich auch gut. Kühe dürfen im Stall nicht so nah zusammenstehen.
Und im Programm der Grünen steht, dass ihnen die Gleichberechtigung von allen Menschen wichtig ist.
Das finde ich auch sehr gut.
„Umwelt ist mir wichtiger als Geld“
Dann schauen wir uns mal die Die Linke an. Die sagt jetzt zum Beispiel, dass es weniger Waffen auf der Welt geben soll. Findest du das gut oder schlecht?
Das ist mir egal.
Die sagen auch, dass die Renten steigen sollen. Also, dass alte Menschen mehr Geld bekommen sollen. Findest du das gut, schlecht oder egal?
Das ist mir egal.
Würdest du sagen, dass dir das Thema Geld dir nicht so wichtig ist? Findest du Umwelt wichtiger?
Ja. Umwelt ist mir wichtiger als Geld.
Sollen wir uns noch ein drittes Parteiprogramm anschauen?
Ja, das von der SPD.
Die SPD sagt auch, dass alle Menschen gleich behandelt werden sollen, egal ob sie Frauen oder Männer sind.
Ja, das ist wichtig.
Die SPD sagt auch, dass die Welt sozialer werden soll. Dass alle Menschen mehr Geld bekommen sollen.
Nein, das ist nicht so wichtig.
Würdest du sagen, dass die SPD auch ganz gut ist?
Ja, die finde ich auch gut. Aber die Grünen finde ich schon noch besser.
Was sagst du zu Leuten, die das nicht so gut finden, dass du jetzt wählen darfst?
Denen sage ich: Wir wählen jetzt aber.
Hast du noch etwas, das du sagen möchtest?
Der Donald Trump soll weg. Der regiert ja noch im Weißen Haus.
Wie findest du den denn?
Nicht gut! Der macht ganz viel Unfug.
Und wie findest du die Angela Merkel?
Die mag ich! Die ist nett. Die darf bleiben.
Was findest du an der gut?
Ich weiß nicht. Mir wird’s jetzt zu viel.
Wir sitzen noch ein bisschen am Tisch, ich trinke meinen Kaffee aus, dann begleitet mich Fabian zur Tür und verabschiedet sich. Ich hatte auch mit Professor Arzheimer darüber gesprochen, ob es ungewöhnlich ist, dass Wähler ein, zwei Themen haben, die ihnen besonders wichtig sind, die ihre Wahl maßgeblich beeinflussen. Arzheimer hatte mir gesagt, dass besonders bei Erstwählern diese Einstellung häufig zu beobachten ist: „Gerade für jüngere Menschen, die diese Gesellschaft mitgestalten möchte, die sich bedroht fühlen, beispielsweise durch den Klimawandel, kommt es eigentlich nur auf ein, zwei Themen an.” Generell, sagt er, halten sich eigentlich alle Menschen für kompetent genug, eine Wahlentscheidung zu treffen. „Wenn man dann tatsächlich versucht, politisches Wissen abzufragen, ist das aber ganz schön frustrierend”, so Arzheimer. Doch meistens bezögen sich diese Testfragen auf formales Wissen, also Fragen wie „Wie viele Bundesländer hat Deutschland?“. Das aber, so Arzheimer, sei nicht unbedingt relevant, um zu entscheiden, ob ein Bürger sich am demokratischen Prozess beteiligen könne oder nicht: „Wichtig ist, dass man gesellschaftliche Zusammenhänge versteht, dass man Auswirkungen abschätzen kann und man demokratische Werte vertritt.”