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EU-Parlament: Nico Semsrott schließt sich den Grünen an
Nico Semsrott, der notorischste Kapuzenpulli-Träger hinter Kevin Kühnert, ist frisch in Brüssel angekommen – und unerwarteterweise auch in der grünen Fraktion des EU-Parlaments. Kandidiert hat er bekanntermaßen für „Die PARTEI“. Sein Kollege Martin Sonneborn hatte sich in der vergangenen Regierungsperiode keiner Fraktion angeschlossen, abwechselnd mit „ja“ und „nein“ abgestimmt und wird das wohl auch weiterhin so halten. Dass Nico Semsrott das anders macht, hat Gründe – und die sind nicht satirisch, sondern politisch-pragmatisch.
jetzt: Nico, du bist und bleibst in der Partei „Die PARTEI“ und doch schließt du dich der grünen Fraktion an – warum?
Nico Semsrott: Man kann in einer Fraktion viel mehr bewegen als als Unabhängiger. Und: Es gibt mehr Geld für die Fraktion und für mich – also am Ende mehr Geld gegen die Nazis. Das ist der entscheidende Punkt: Momentan findet ein knappes Wettrennen im Europäischen Parlament statt, wer die größere Fraktion wird – die Nazis um Salvini oder die Grünen. Eine größere Fraktion bekommt aber mehr Redezeit.
Und du bist jetzt das Zünglein an der Waage?
Tatsächlich kann jeder Abgeordnete bis Ende Juni noch entscheiden, in welche Fraktion er geht. Dementsprechend ist gerade jede Spekulation mit Vorsicht zu genießen. Allein heute habe ich drei unterschiedliche Zahlen gehört, wie groß die Fraktionen werden. Klar ist, dass ich da meine Stimme mit reinwerfe. Und Martin Sonneborn behält sich vor, noch zu entscheiden, was er macht.
Hattest du bereits vor der Wahl entschieden, zur grünen Fraktion zu gehen?
Ich habe vorher durch die Blume – haha, durch die Sonnenblume – angekündigt, dass ich als Realo daran interessiert bin, enger mit Leuten zusammenzuarbeiten, die richtige Sacharbeit machen. Ich sehe meine Aufgabe in diesem Parlament darin, die Rechten mit allem zu ärgern, wovor sie Angst haben: Humor, Fakten und Öffentlichkeit. Das kann ich alles noch besser machen, wenn ich in einer Fraktion bin, die mir beispielsweise eine Person zur Seite stellt, die mit mir Videos macht.
Du und die Grünen, wie kam es denn zu dem Flirt – wer ist da auf wen zugegangen, wann hattet ihr den ersten Blickkontakt?
Es hatte tatsächlich noch mindestens eine weitere Fraktion Interesse angemeldet. Das lief dann eigentlich alles über Martin Sonneborns Büroleiter, der hier seit fünf Jahren arbeitet und vernetzt ist. Mir wurde schon Wochen vor der Wahl gesteckt, dass Martin das Angebot bekommen hat, dass wir zu zweit in die Fraktion reingehen. Von oberster Stelle.
„Bis jetzt denke ich mir so: Huch, das war ja einfach“
Von oberster Stelle? Namen möchtest du keine nennen?
Ehrlich gesagt: Ich versteh dieses Spiel noch zu wenig, ich weiß gar nicht, was ich alles sagen darf. Solange ich nicht irgendeinen inhaltlichen Grund habe, hier schon irgendwas kaputt zu machen, will ich das auch nicht. Ich mag einfach, dass ich hier so naiv reinstolpern kann. Bis jetzt denke ich mir so: Huch, das war ja einfach.
Haben die Grünen nicht genug Öffentlichkeit grade? Wozu brauchen die da dich?
Mir geht’s nicht um die Grünen, sondern um die grünen Themen. Und die brauchen so viel europäische Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit, wie es geht.
Aber willst du dich nicht auch richtig einbringen, in Ausschüssen sitzen und so?
Ich habe keine Lust nur mit „ja“ und „nein“ wie Martin Sonneborn abzustimmen, aber ich will mich auch nicht in all diese Themen einarbeiten. Ich finde es super, wenn die Grünen für mich die Abstimmungslisten machen und ich einfach abgucken kann. Ich habe eh die ganze Zeit gesagt, dass ich für progressive Ideen bin und dementsprechend wollte ich schon immer von den Grünen und den Linken abgucken.
Du könntes auch in die linke Fraktion gehen – warum eigentlich nicht?
Ehrlich gesagt, weil die in der Öffentlichkeit gar nicht vorkommen. Und ich habe den Eindruck, das hat Gründe. Ich bin da Ultra-Realo. Für mich ist das die perfekte Kombination. Ich nehme die Vorteile aus beiden Welten, bleibe auf dem Papier unabhängig, bin aber ein Mitglied der grünen Fraktion.
„Wir sind vor allem gewählt worden, um einen Unterschied zu machen“
Glaubst du, dass deine Wähler von diesem Schritt enttäuscht sind? Sie haben euch ihre Stimme ja spezifisch gegeben, um nicht eine der klassischen Parteien zu wählen ...
Ich bin mir da gar nicht so sicher. Das kann man ja auch unter Martin Sonneborns Tweet sehen: Wir sind vor allem gewählt worden, um einen Unterschied zu machen. Und wenn dieser erste Unterschied ist, dass die Nazis die kleinere Fraktion haben, dann ist das auf jeden Fall ein Wählerauftrag, den wir erfüllen. Ansonsten bleiben wir natürlich weiterhin unabhängig. Man wird mich garantiert nie bei einem Grünen-Parteitag sehen.
Als Satiriker beginnst du einen neuen Lebensabschnitt in Brüssel – hast du keine Angst, dass du dich selbst im harten Politikbetrieb verlierst?
Ich bin voller Panik! Während Europa einen Rechtsruck erlebt, erlebt „Die PARTEI“ einen Realitätsruck. Wir wissen alle noch nicht, wohin das führt. Am Ende haben wir immer die Möglichkeit, eine Notbremse zu ziehen, das ist das Tolle. Martin Sonneborn und ich sind wirklich unabhängig. Wir sind ja nicht einmal auf das Mandat angewiesen, wir können danach auch wieder Bücher schreiben, ins Fernsehen oder auf Tour gehen.
Du und Martin Sonneborn beschäftigt euch schon seit Jahren mit Politik. Glaubst du, es ist eine Notwendigkeit, sich auszukennen, um ins EU-Parlament zu kommen?
In der gesamten CDU/CSU-Fraktion bestehen die Leute nur aus Ahnungslosigkeit. Die FDP hat eine Klimawandel-Leugnerin an der Spitze, Nicola Beer. Seit wann ist Kompetenz oder Inkompetenz ein Kriterium für Abgeordnete? Das werde ich, glaube ich, in den nächsten Wochen hier besonders schmerzhaft erleben, dass es überhaupt keinen Kompetenzfilter gibt.
Du hattest dich ja auch um die Kommissionspräsidentschaft beworben, wie sieht’s aus, wird das was?
Der Stand ist bisher ziemlich schlecht, ich habe mich bisher nämlich noch nicht so wirklich darum gekümmert, mit Regierungsvertretern zu sprechen. Aber ich hatte ja auch angekündigt, eine eher passive Rolle einzunehmen – und wenn sie sich auf niemanden einigen können, dann würde ich.