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Ein Jahr nach den Anschlägen von Paris
Ob wir draußen sitzen wollen, fragt der Kellner. Meine Freundin und ich schauen uns an. Noch ist es nicht zu kalt. Vor Pariser Cafés und Restaurants sitzen auch im Winter Menschen unter Heizstrahlern, trinken, essen und rauchen. Aber wir zögern, nicht, weil es zu kalt ist. Sondern weil an der Ecke, auf die der Kellner zeigt, vor einem Jahr 14 Menschen ums Leben kamen.
Wir sind zum ersten Mal seit den Anschlägen von Paris wieder hier, im „Le Petit Cambodge“. Es ist ein Stammplatz in der Stadt, in der ich ein Jahr lang gelebt habe, ein Stück Zuhause, das ich jedes Mal mit Freunden besuche, wenn ich da bin. Hier gibt es hausgemachte Ingwerlimo und einen Nachtisch mit Tapioca, den wir „Schwabbel“ nennen. Wir essen gedrängt an den hohen Tischen oder sitzen draußen auf den bunten Klappstühlen in der Sonne.
So wie jetzt. Ok, sage ich, meine Freundin nickt. Wir setzen uns auf die zwei Plätze auf dem schmalen Bürgersteig, auf die ein heller Spalt durch die Häuserschluchten fällt. So, als wäre hier vor einem Jahr nichts passiert, als hätten Menschen hier am 13. November einfach gegessen und wären dann nach Hause gegangen, satt, zufrieden, am Leben. Doch an diesem Tag feuerten Terroristen auf die Außenplätze des Cambodge und der gegenüberliegenden Bar „Le Carillon“.
Durch die Scheibe sehen wir die Lichter des Restaurants. Das Glas glänzt, genau so, wie der Lack darum. Die Fenster sind neu. Erst seit März hat das Cambodge wieder geöffnet. Wie Aquarien liegen die Cafés, Bars und Restaurants an den Ecken der Kreuzung. Früher saßen wir gern an der Fensterfront, mit Blick auf die Straßenecke. Ich dachte: So offen, so schön. Jetzt denke ich: so schutzlos.
Manchmal bleiben ein paar Menschen vor dem Restaurant stehen, einfach so, ein paar Sekunden lang. Ich höre, wie eine Frau zu ihrem Mann sagt: „It was here.“ Dann zieht sie ihn weiter. Er dreht sich um und schaut kurz auf die Menschen, die an diesem Ort gerade Abendessen.
"It was here"
Von unserem Platz aus kann ich die Theke sehen, und die offene Küche dahinter. Eine schnelle Hand greift nach Kräutern und streut sie auf eine Schale mit Reisnudeln. Bobun, das isst man hier. Ich schaue auf die Karte. Sommerrollen, Curry, Porc au Caramel. Die Gerichte sind die gleichen. Nur ein paar Kellner sind neu.
Es ist früh am Abend und das Restaurant füllt sich. Um uns herum wird es enger, man macht sich Platz, jemand schiebt eine Einkaufstüte unter den Tisch. Merci, sagt eine Frau mit orangefarbenem Lippenstift. Wir lächeln uns an. Ich würde gerne wissen, ob sie Angst hat, hier zu sitzen. Jeder weiß, wo wir gerade sind. Aber keiner lässt es sich anmerken.
Meine Augen fahren über die Buchstaben auf der Karte. Es fühlt sich absurd an, jetzt Essen zu bestellen. Als der Kellner kommt, bestelle ich das gleiche wie immer. Wir sitzen mit unseren Getränken am Klapptisch, die Sonne verschwindet langsam zwischen den Häusern und der Himmel bekommt rosa Schlieren. Ich lehne mich zurück und versuche, mich zu entspannen. Das Drumrum hilft, meine Freundin, die Stimmen und die vertrauten Lichter.
Ein Mofa düst vorbei, der Motor knallt. Es klingt wie ein Schuss. Ich zucke zusammen, sie auch. Die anderen bleiben ruhig. Auf einmal fällt mir auf, wie laut die Kreuzung ist. Bei jedem Auto, das über die Straße brettert, spannen sich meine Muskeln an. Ich weiß, dass hier so etwas wie vor einem Jahr nicht nochmal passieren kann. Oder? Mein Herz rast.
Ich schaue meine Freundin an, die gerade ihre Stäbchen in die Reisnudeln versenkt und denke: Das hätten wir sein können. Ich weiß, dass sie das gleiche denkt. Ein paar Wochen vor den Anschlägen war ich zum letzten Mal hier. Es war ein Abend wie immer gewesen, wie es ihn überall auf der Welt auch heute gibt. Es waren Menschen wie wir, unsere Freunde, unsere Nachbarn am Tisch.
Die Selbstverständlichkeit muss unendlich viel Kraft kosten
Als wir anfangen zu essen, entspanne ich mich langsam. Vielleicht auch, weil die anderen sich ganz normal unterhalten, bei Zigarette und Wein. Für die schöne Atmosphäre lieben wir dieses Lokal. Unser Gespräch wandert von damals in die Zukunft. Wir reden über Uni, Freund, Urlaub. Ich esse auf, alles, als müsste ich ein Zeichen setzen. Das Essen ist so gut wie immer. Nur, dass es „wie immer“ nicht mehr gibt.
Als wir an der Theke zahlen, macht der Mann hinter der Kasse einen Witz: Du sicherst meine Rente. Wir lachen. Er sieht müde aus und ihm steht eine dünne Schweißschicht auf der Stirn. Ich würde ihm gerne was sagen. Aber was? Dass es mir leid tut? Es gibt keine Worte, die passen. Wahrscheinlich will sie auch keiner mehr hören. Die Menschen hier leben seit einem Jahr mit einem Alltag, der sich an vielen Ecken falsch anfühlen muss. Die Selbstverständlichkeit, mit der alle hier sind und ihre Arbeit machen, muss unendlich viel Kraft kosten. Es herrscht ein stilles Einverständnis: dass niemand davon spricht. Stattdessen lachen wir zu laut und geben zu viel Trinkgeld.
Als wir nach Hause gehen, reden wir darüber, dass unser Bewusstsein immer neue Alarmknöpfe bekommt. Weil wir fürchten, dass so etwas wie vor einem Jahr jederzeit wieder passieren kann. Dass man deshalb dieses Gefühl von Panik kennt: wie sich in der U-Bahn oder im Flugzeug auf einmal der Magen zusammenzieht, weil ein Mensch eine zu große Sporttasche dabei hat. Oder jetzt: wenn es auf dem Konzert, im Stadion oder im Lieblingsrestaurant zu laut knallt. Die Alltagsangst an diesen Orten ist neu. Aber wir lernen gerade, damit umzugehen. Und sitzen draußen, wenn die Sonne scheint.
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