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Crip Camp: Politisches Sommercamp für behinderte Jugendliche
Als Jugendliche hatte ich in meinem Umfeld keine Vorbilder, die so aussahen wie ich. Ob im Kindergarten, in der Schule oder später im Studium – mit meiner Behinderung falle ich immer auf. Ich bin kleinwüchsig. Wenn ich meinen nichtbehinderten Freund*innen von meinen Alltagserfahrungen erzähle, sind sie meist erst einmal unsicher, wie sie sich verhalten sollen. Später empören wir uns gemeinsam über die Barrieren in meinem Alltag. Umso wichtiger ist die Netflix-Dokumentation „Crip Camp – A Disablity Revolution“. Behindertenrechtsaktivist*innen, die selbst am Camp Jened teilgenommen haben, erzählen darin, wie ausgehend von einem Hippie-Sommer im Jugendcamp Jened die amerikanische Behindertenrechtsbewegung entstanden ist. Einzigartig sind die verwendeten historischen Originalaufnahmen vom Jugendcamp 1971 und die internen Video-Einblicken in die Behindertenrechtsbewegung.
„Dieses Camp hat die Welt verändert und keiner kennt seine Geschichte“, sagt Protagonist und Co-Produzent Jim Lebrecht in der Dokumentation. Dem kann ich nur zustimmen. Innerhalb der Community wird die Dokumentation in den USA und auch in Deutschland gefeiert, zeigt sie doch der ganzen Welt unsere Geschichte der Selbstermächtigung. Das wichtigste US-Filmfestival für unabhängige Produktionen, das Sundance Festival, zeichnete im Februar die Obama-Produktion mit dem Publikumspreis aus. Jetzt ist der Film für die diesjährigen Oscars als „Beste Dokumentation“ nominiert.
In Jened waren die Jugendlichen ganz einfach Jugendliche, feierten wilde Partys und hatten Dates
Das Camp wurde 1951 als klassisches Sommercamp von der Jened-Foundation eröffnet, einer Stiftung, die sich für die Rechte behinderter Menschen einsetzte. In den 60er und 70er Jahren beeinflusste die Hippie-Bewegung das Camp und machte es zur Wurzel der Behindertenrechtsbewegung. Die Dokumentation startet mit Aufnahmen von Camp Jened aus dem Jahr 1971. Drei Autostunden von New York entfernt in den Catskills verbrachten Jugendliche mit Behinderung und Betreuer*innen, darunter auch behinderte Menschen, gemeinsame Zeit im Sommercamp.
Als ich die Dokumentation zum ersten Mal sah, fühlte ich mich stark in meine Jugend zurückversetzt. Judy Heumann zum Beispiel, Protagonistin und eine der bedeutendsten Aktivist*innen der amerikanischen US-Behindertenrechtsbewegung, musste ein Schuljahr lang von ihrer Mutter unterrichtet werden und durfte erst danach eine Sonderklasse für behinderte Kinder besuchen. Ich war zwar immer auf einer Regelschule, aber stieß regelmäßig auf Widerstand. Als ich in der Grundschule war, versuchten Lehrkräfte meine Eltern zu überreden, mich an einer Förderschule anzumelden. Als Gymnasiastin wollte mich eine Lehrkraft aufgrund meiner Behinderung nicht zu einer Schnuppervorlesung zur Universität in der Nachbarstadt mitnehmen. Ironischerweise habe ich an der gleichen Universität mein Bachelorstudium abgeschlossen. Es ist frustrierend zu sehen, wie wenig sich in den Schulen über Jahrzehnte hinweg an der Denkweise über behinderte Menschen geändert hat. Umso mehr bestätigt mich Judy Heumanns Wille, nicht so viel auf die Meinung anderer Menschen zu geben. Ich verfolge meine eigenen Träume.
Das Camp legte den Grundstein für die Behindertenrechtsbewegung in den USA
„Kommt ins Camp Jened und findet euch selbst“, sagt in der Doku ein Hippie-Mädchen in einer Filmaufnahme in die Kamera. Das klingt kitschig, aber sie hatte Recht damit. In Jened waren die Jugendlichen ganz einfach Jugendliche, feierten wilde Partys und hatten Dates. Der Alltag im Sommercamp war viel offener und freier, weil es zum ersten Mal keine baulichen Barrieren gab. Alle Camper*innen waren zum ersten Mal weg von ihrem Elternhaus oder Behindertenheimen und wurden selbstständiger. In alle Entscheidungen des Camp-Alltags wurden sie einbezogen. So erkannten sie, was Freiheit bedeutet. „Im Camp haben wir gesehen, dass unser Leben besser sein kann. Du kannst auf nichts hinarbeiten, wenn du nicht weißt, dass es existiert“, sagt Jim Lebrecht in der Doku. In Jened sprachen die Jugendlichen zum ersten Mal gemeinsam über ihre Ausgrenzung im Alltag und darüber, dass sie sich für Veränderungen auch nach dem Camp zusammentun müssen. Das Camp legte den Grundstein für die Behindertenrechtsbewegung in den USA.
Mich erinnern diese Szenen besonders an meine zwei Auslandssemester in Norditalien. Diese Zeit war mein Moment der Selbstermächtigung. In Italien besuchen behinderte und nichtbehinderte Kinder schon seit den 70er Jahren gemeinsam den Schulunterricht. Daher sind junge Menschen in Italien den Umgang mit behinderten Menschen mehr gewöhnt als in Deutschland, wo immer noch diskutiert wird, ob es überhaupt für alle Schüler*innen mit Behinderung möglich ist, eine Regelschule zu besuchen. Während meiner Zeit dort erlebte ich zum ersten Mal in meinem Leben, was es bedeutet, ganz selbstverständlich jeden Raum in der Universität betreten zu können und im Stadtbild nicht aufzufallen, weil ich nicht die Einzige mit einer sichtbaren Behinderung war. Ich reiste durch das halbe Land. Auf Partys tanzten Männer zum ersten Mal mit mir. Umso deprimierender war meine Rückkehr in die deutsche Realität, wie es auch Lebrecht im Film über seine Zeit nach dem Camp beschreibt. Erst in den sozialen Netzwerken fand ich Gleichgesinnte und schloss mich aktiv der Behindertenrechtsbewegung an. Hätte es in meiner Jugend ein Camp Jened gegeben, hätte das einige Entwicklungsschritte in meinem Empowerment sicher beschleunigt. Jugendaustausche waren für mich als Teenagerin aber nicht möglich, da niemand an Barrierefreiheit dachte oder mich erst gar nicht mitnehmen wollte. Daran ändert sich erst jetzt langsam etwas.
Was nichtbehinderte Menschen von Camp Jened lernen können
Die Betreuer*innen von Jened wollten den Teenager*innen ein Umfeld ohne Stereotype und Vorurteile bieten. Zwei Betreuer erzählen im Film, wie sehr sie die Situation am Anfang verunsicherte, weil sie keine behinderten Menschen kannten. Auch für meine nichtbehinderten Freund*innen bin ich meist die Einzige in deren gesamten Umfeld. In ihre Rolle, mich als Verbündete zu unterstützen oder gar zu Demonstrationen für Behindertenrechte zu begleiten, wachsen meine Freund*innen langsam rein – oder unsere Wege trennen sich wieder. Die Dokumentation kann für viele Menschen auch ein erster Schritt sein, sich mit der Diskriminierung behinderter Menschen, genannt Ableismus, zu beschäftigen und zu hinterfragen warum man selbst kaum Kontakt zu Menschen mit Behinderung hat.
Einzigartig an der Doku „Crip Camp“ ist, dass darin auch intersektionale Diskriminierung sichtbar wird. Das bedeutet, dass ein Mensch aufgrund mehrerer Merkmale wie beispielsweise Behinderung und Hautfarbe stärker diskriminiert wird oder jeweils ganz ähnliche Diskriminierungserfahrungen im Alltag machen. So erkannte ein Schwarzer nichtbehinderter Betreuer, dass behinderte Menschen genauso wie Schwarze Menschen diskriminiert werden. Als die Camper*innen in der Stadt ein Eis essen wollten, durften die Rollstuhlfahrer*innen nicht die Eisdiele betreten, weil behinderte Menschen genau wie Schwarze Menschen unerwünscht waren. Zudem erschwerten Treppenstufen den Zutritt zur Eisdiele.
Bei der Besetzung des Gesundheitsministeriums von San Francisco durch 300 Aktivist*innen mit Behinderung stiftete die afroamerikanische radikale Bürgerrechtsbewegung Black Panther ihnen warmes Essen mit den Worten: „Ihr versucht die Welt besser zu machen, wir machen das auch.“ Interessant finde ich, welchen Einfluss mediale Berichterstattung auf die Entwicklung der Bewegung hatte. Nur ein Lokalreporter interessierte sich für die Besetzung des Gesundheitsministeriums in San Francisco. Würden Redaktionen gezielt Journalist*innen mit Behinderung ins Team holen, wäre das sicher anders. In Deutschland beobachte leider sehr selten, dass soziale Bewegungen die Rechte behinderter Menschen einschließen. Demonstrationen sind in der Regel nie barrierearm, behinderte Menschen werden auf öffentlichen Veranstaltungen meist nur als Redner*innen engagiert, wenn sie über ihre Behinderung und Diskriminierungserfahrungen sprechen und werden kaum als Expert*innen für andere Themen wahrgenommen.
Die Behindertenrechtsbewegung in Deutschland ist viel zu unbekannt
In Deutschland formierte sich in den 70er Jahren eine Behindertenrechtsbewegung. Der Aktivist Gusti Steiner organisierte zusammen mit dem Journalisten Ernst Klee Straßenblockaden und Kurse zum Empowerment. Hier zeigt sich, wie wichtig die richtigen Verbündeten sind. Im „Jahr der Behinderten“ der UN 1981 störten Aktivist*innen eine Charity-Veranstaltungen und machten stattdessen aufmerksam auf ihre Rechte. Ein wichtiger Erfolg ist das Benachteiligungsverbot aufgrund einer Behinderung im Grundgesetz von 1994. Ein so weitgehendes Gleichstellungsgesetz wie die USA hat Deutschland aber nicht.
Bis in meine frühe Teenie-Zeit bin ich jedes Jahr mit meinen Eltern zu Kleinwuchstreffen gefahren und fand es toll, endlich mit anderen kleinwüchsigen Kindern und Jugendlichen zu spielen und mich auszutauschen. Irgendwann wollte ich mich mit meiner Behinderung nicht mehr beschäftigen – und merke durch „Crip Camp“ erst, wie viel Stärke mir insbesondere meine Freundschaften und Kontakte aus der Behindertenrechtsbewegung geben. Die „Generation Jened“ kämpfte gegen menschenverachtende Zustände in Behindertenanstalten, baute Zentren zum selbstständigen Leben für Studierende auf, erreichte Gesetzesänderungen für einen gleichwertigen Schulbesuch und Barrierefreiheit in Krankenhäusern. Als Höhepunkt der Bewegung wurde im Juli 1990 der „Americans With Disabilities Act“ (ADA), ein amerikanisches Bürgerrechtsgesetz, das die Benachteiligung von behinderten Menschen in den USA im öffentlichen Leben verbietet, verabschiedet. Behinderte Menschen zeigen seitdem auf Disability Pride Parades ihre Behinderung mit Selbstbewusstsein als Identität. 2015 rief der New Yorker Bürgermeister den Juli als Disability Pride Month aus.
Heutzutage nutzt die Behindertenrechtsbewegung die sozialen Medien, um Druck auf die Politik auszuüben. Hier können sich auch behinderte Menschen beteiligen, die wegen fehlender Barrierefreiheit gar nicht an Demonstrationen teilnehmen können. In Berlin gibt es seit 2013 eine Disability Pride Parade, einen Disability Pride Month gibt es in Deutschland aber noch nicht.
Deswegen wünsche ich mir, dass es auch in Deutschland ein Camp Jened gibt. Die sozialen Medien reichen nicht aus, um sich auszutauschen und Freundschaften zu schließen. In einem Camp könnten Jugendliche mit Behinderung selbstbewusst und gezielt in der Gesellschaft Raum einnehmen, sich als Community vernetzen – und viel früher als ich merken, dass auch behinderte Menschen sich im Leben nehmen können, was sie wollen. Camp Jened ist nicht vergleichbar mit anderen, schon existierenden Camps. Es war gelebte Politik, eine Utopie. Ein Ort, der noch nicht in der Außenwelt existiert, aber Realität werden kann – die „Generation Jened“ hat damals schon viel in die reale Welt getragen, das damals noch nicht denkbar schien.
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals am 18. August 2020 und wurde anlässlich der Oscars-Nominierung am 16. März 2021 nochmals veröffentlicht.