- • Startseite
- • Politik
-
•
Coronavirus: Viktor Orbán nutzt die Krise in Ungarn zum Machtausbau
An diesem Montagnachmittag wurde wegen der Corona-Krise in Ungarn ein Notstandsgesetz verabschiedet, das dem Ministerpräsident Viktor Orbán und seiner rechtspopulistischen Fidesz-Regierung noch mehr Macht gibt: Es sieht vor, dass der Notstand ohne Zustimmung des Parlaments verlängert werden und Orbán das Land per Dekret regieren kann, also quasi im Alleingang. Zudem soll das Verbreiten von „Falschnachrichten“ zum Corona-Virus mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden, was die letzten freien Medien in Ungarn unter Druck setzen könnte. Orbán, der regelmäßig gegen Geflüchtete und die Europäische Union hetzt, höhlt schon seit Jahren den ungarischen Rechtsstaat aus, unter anderem mit umstrittenen Reformen des Wahlrechts und des Justizsystems, mit einem restriktiven Hochschulgesetz und indem die Regierung die Opposition behindert und große Teile der Medienlandschaft kontrolliert. Die EU hat bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet.
Katalin Cseh, 31, ist seit Sommer 2019 Europaabgeordnete der jungen Oppositionspartei „Momentum“ und eine der lautesten ungarischen Stimmen gegen Orbán. Da das Parlament in Brüssel wegen der Corona-Krise geschlossen ist, ist die studierte Medizinerin aktuell in ihrer Heimat, wo sie sich als Freiwillige für den ungarischen Rettungsdienst gemeldet hat.
Die jetzt-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von x angereichert
Um deine Daten zu schützen, wurde er nicht ohne deine Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von x angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit findest du unter www.swmh-datenschutz.de/jetzt.
Dieser externe Inhalt wurde automatisch geladen, weil du dem zugestimmt hast.
In den kommenden Wochen wird sie also zwei Rollen innehaben: als Helferin im Gesundheitssystem und als Oppositionspolitikerin gegen Orbán. Im Skype-Interview spricht sie über die aktuelle Corona-Lage in Ungarn, das Notstandsgesetz und die Handlungsmöglichkeiten der EU.
jetzt: Katalin, wo bist du gerade?
Katalin Cseh: Ich arbeite von meinem Wohnzimmer in Budapest aus, gemeinsam mit meiner Lieblingskollegin: meiner Hündin Kira. Da ich jetzt nicht mehr reisen kann, sehe ich auch meinen Freund häufiger als sonst, das ist immerhin ein Vorteil. Ich versuche, positiv zu bleiben!
Du hast dich freiwillig gemeldet, beim ungarischen Rettungsdienst mitzuarbeiten. Wie kam es dazu?
Das Coronavirus belastet das ungarische Gesundheitssystem sehr, dabei war es sowieso schon geschwächt, weil es seit Ende des Sozialismus nie vernünftig reformiert wurde und viele junge Mediziner*innen das Land verlassen haben. Die Gesundheitsbehörden haben darum einen Aufruf gestartet, um Menschen mit medizinischem Abschluss als Freiwillige zu gewinnen. Ich habe als Ärztin gearbeitet, bevor ich ins Europaparlament gewählt wurde, und will der Gemeinschaft in dieser Notlage etwas zurückgeben.
„Ich kenne mehrere Pflegekräfte, die im Callcenter arbeiten, weil sie da einfach viel mehr verdienen“
Weißt du schon, wo du genau eingesetzt wirst?
Noch nicht, aber ich hoffe, dass ich bald mit der Arbeit anfangen kann – egal was, ich bin da nicht wählerisch. Jetzt ist glaube ich auch der Punkt gekommen, an dem wir alle einsehen müssen, warum wir überhaupt in dieser Situation sind: Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen, aber auch Dienstleister*innen wie etwa Taxifahrer*innen, das sind die Menschen, die das Land auf ihren Schultern tragen – und wenn wir diesen Berufsgruppen in guten Zeiten nicht genug Respekt entgegenbringen, haben wir in einer Krise ein Problem, weil es nicht genug Menschen gibt, die diese Jobs noch machen.
Weil sie nicht gut genug bezahlt werden?
Ja, vor allem die Gehälter im Gesundheitsbereich sind in Ungarn im Vergleich zum Durchschnitt sehr niedrig. Viele gehen darum nach ihrem Abschluss ins Ausland oder arbeiten in anderen Branchen. Ich kenne mehrere Pflegekräfte, die im Callcenter arbeiten, weil sie da einfach viel mehr verdienen.
Wie stark ist Ungarn aktuell von der Corona-Pandemie betroffen?
Wir sind in der Entwicklung einige Wochen hinter anderen Ländern, haben also den Vorteil, dass wir sowohl von den Fehlern als auch von den guten Maßnahmen anderer Länder lernen können. Im Moment gibt es in Ungarn 260 bestätigte Infektions- und neun Todesfälle (Stand 26.03.20, 10 Uhr; Anm. d. Red.). Die Todesrate ist also im Verhältnis sehr hoch. Das Problem ist allerdings, dass hier kaum getestet wird, soweit ich weiß, so wenig wie in keinem anderen EU-Land, und es darum wahrscheinlich viele nicht diagnostizierte Fälle gibt. Wir müssten insgesamt viel mehr testen! Wenn ein Arzt Kontakt mit Infizierten hat, wird er nicht getestet, sondern muss zwei Wochen in Quarantäne und kann in dieser Zeit nicht arbeiten. Der Innenminister konnte allerdings innerhalb eines Tages getestet werden – da frage ich mich schon, warum das bei medizinischem Personal nicht geht ...
Gibt es Ausgangsbeschränkungen in Ungarn?
Keine sehr strengen. Viele glauben, dass wir einen größeren Lockdown bräuchten.
Wie sieht es mit Hilfen für die Wirtschaft aus?
Darlehen müssen nicht zurückgezahlt werden und es wird vorübergehende Steuerbefreiungen geben. Aber viele Ungar*innen haben überhaupt keine Ersparnisse und es gibt bisher noch keine Maßnahmen, um Lohnausfälle auszugleichen. Dafür brauchen wir dringend eine Lösung, sonst werden sich viele Menschen in ein paar Monaten nicht mal mehr etwas zu Essen leisten können.
„Die oppositionelle Presse hat oft das Gefühl, dass sie nicht genug Infos bekommt“
Wie reagiert die Gesellschaft auf die Pandemie?
Ich sehe, dass es eine große Solidarität in der Bevölkerung gibt, das ganze Land ist mobilisiert. Meine Partei ist auf kommunaler Ebene stark vertreten und hat Aufrufe gestartet, sich freiwillig zu engagieren: Einkäufe für ältere Menschen machen, den Hund spazieren führen, im Gesundheitssystem aushelfen – und viele wollen mitmachen, das ist ein gutes Zeichen! Normalerweise haben wir hier mit viel Hass und Spaltung zu kämpfen und es ist schön zu sehen, dass wir in einer Krise in der Lage sind, zusammenzuarbeiten.
Die ungarische Regierung kontrolliert viele Medien im Land. Hat die Bevölkerung genug Zugang zu neutralen und verlässlichen Informationen über die Pandemie?
Es gibt tägliche Presse-Briefings der sogenannten „Coronavirus Task Force“, die hauptsächlich aus medizinischen Fachleuten und Vertreter*innen des Militärs besteht. Das Militär ist überhaupt in dem ganzen Prozess sehr involviert, das wirkt auf mich ziemlich überzogen. An den Briefings nehmen regelmäßig Regierungsmitglieder teil, manchmal auch Orbán selbst. Seit ein paar Tagen findet das Ganze in einem Studio ohne Pressevertreter*innen statt. Sie können zwar vorab Fragen einreichen, aber dann sucht die Task Force sich die raus, die sie beantworten will. Die oppositionelle Presse hat darum oft das Gefühl, dass sie nicht genug Infos bekommt.
Welche Infos kommen durch?
Es werden zwar Fallzahlen genannt, aber keine ausreichenden Informationen über die geografische Verteilung der Corona-Fälle, also in welchen Städten in Ungarn und in welchen Ländern wie viele Menschen erkrankt sind. Das verunsichert die Bevölkerung extrem und wir versuchen darum, die Regierung dazu zu bringen, uns genauer zu informieren. Zudem sind Beschäftigte in medizinischen und sozialen Berufen sehr besorgt, was den Nachschub an Schutzkleidung angeht. Die Regierung versucht, das herunterzuspielen, und sagt: „Wir sind gut ausgestattet und mehr ist auf dem Weg“, gibt aber nie konkrete Antworten.
„Die Regierung sieht die Situation anscheinend als Chance, das Land noch stärker zu spalten“
In Ungarn gab es vor allem 2018 und 2019 große Proteste gegen die Regierung. Glaubst du, die Krise wird Orbán helfen, die Bevölkerung auf seine Seite zu bringen, oder wird sie eher die Opposition stärken?
Das kommt darauf an, wie das Ganze ausgeht. Ich finde vor allem, dass es in der Krise erstmal nicht um Parteilichkeit gehen sollte – aber die Regierung sieht die Situation gerade anscheinend als Chance, das Land noch stärker zu spalten. Sie sagt zum Beispiel, dass die Opposition sich nicht zu dem Thema äußern soll, weil sie nur Chaos verursache, und behauptet, dass Journalist*innen Panikmache betreiben, wenn sie kritische Stimmen zum Mangel an medizinischer Ausrüstung zitieren. Und natürlich beschuldigt Orbán auch die EU. Warum müssen wir jetzt dieses dumme Spiel spielen und fragen: „Wer ist schuld am Coronavirus?“ Niemand ist schuld am Coronavirus!
Am Montag wurde ein Notstandsgesetz verabschiedet, mit dem Orbán per Dekret regieren kann. Was sagst du dazu?
Natürlich verlangen besondere Zeiten besondere Maßnahmen und aktuell ist es gerechtfertigt, dass Regierungen extra Befugnisse bekommen, um die Situation in den Griff zu kriegen. Aber solche Befugnisse sollten nie bedingungslos sein und niemals für einen unbegrenzten Zeitraum gelten, denn der Rechtsstaat geht während einer Pandemie nicht in Quarantäne! Alle Oppositionsparteien haben gesagt, dass sie für den Entwurf stimmen würden, wenn die Maßnahmen auf 30 oder 40 Tage begrenzt wären. Aber die Regierung war nicht bereit, zu verhandeln. Da denke ich mir doch: Wenn es euch mit dem Gesetz wirklich darum ginge, die Krise in den Griff zu kriegen, dann wärt ihr kompromissbereit.
Bei der ersten Abstimmung ist der Entwurf im Parlament durchgefallen.
Bei der ersten Abstimmung hätte das Gesetz eine größere Mehrheit gebraucht, aber bei der kommenden reicht die Zweidrittelmehrheit, die die Fidesz-Partei im Parlament ja innehat. Und was macht die Regierung diese Woche? Die Presse-Briefings und sämtliche Beiträge der regierungstreuen Medien sind voller Hass! Es heißt, die Opposition würde die Krise nicht ernst nehmen und dass sie verantwortlich sei für die Ausbreitung des Virus.
Orbán beschuldigt auch „Ausländer“, das Virus im Land verbreitet zu haben. Er setzt schon länger auf Abschottung und ist auch in der Corona-Krise gegen europäische Kooperation.
Ich denke, wir befinden uns in ganz Europa gerade an einem Scheideweg: Entweder arbeiten wir zusammen und helfen uns gegenseitig – oder wir kehren zurück zur protektionistischen „Hass auf die Nachbarn“-Politik, die vor Gründung der EU die Norm war. Dass Deutschland Patient*innen aus Italien aufgenommen hat, war zum Beispiel eine Form der Zusammenarbeit, wie wir sie jetzt brauchen. Genauso sollten wir zusammenarbeiten, wenn es um den Erwerb von medizinischem Equipment geht. Und wenn die Gesundheitskrise vorbei ist und die Phase der Wirtschaftskrise beginnt, müssen wir bedenken, dass wir als europäische Gemeinschaft stärker sind als als einzelne Staaten. Ich weiß, dass das in Deutschland ein sensibles Thema ist, aber einige Länder werden dann dringend finanzielle Unterstützung brauchen.
„Gesundheit ist bisher nationale Kompetenz, aber Pandemien machen nicht an den Grenzen halt“
In der aktuellen Situation kann die EU aber kaum etwas machen, oder? Alle Kompetenzen liegen bei den Mitgliedstaaten.
Ja, Gesundheit ist bisher nationale Kompetenz – und jetzt sehen wir, dass das womöglich die falsche Herangehensweise ist, denn Pandemien machen nicht an den Grenzen halt. Wir sollten also darüber nachdenken, wie wir ein Gesundheitssystem auf europäischer Ebene organisieren könnten.
Dafür ist aber gerade keine Zeit. Was kann die EU akut tun?
Es passiert ja schon was, die EU-Kommission hat zum Beispiel Geld bereitgestellt, um dabei zu helfen, medizinisches Equipment zu kaufen, und beschlossen, mit Expert*innen und Fachwissen zu helfen. Die EU ist nur immer sehr schlecht darin, zu zeigen, was sie macht, und arbeitet so ein bisschen Batman-Style: Wir kämpfen im Dunkeln gegen das Böse und bewerben uns selbst nicht als die Guten. Die Medien sind darum voll von „Hilfe von China“ und „Hilfe von Kuba“, was ja auch gut ist, aber niemand spricht über „Hilfe von der EU“. Wir müssen also noch mehr tun – und die Menschen dann wissen lassen, was wir tun.