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So gehen Geflüchtete und Ehrenamtliche mit der Corona-Krise um

Für Geflüchtete in Unterkünften ist in diesen Tagen beides gefährlich: zu viel und zu wenig Kontakt.
Illustration: FDE

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Ab und zu telefoniert Blessing mit ihrer Therapeutin, das hilft ein wenig. „Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man sich gegenübersitzen kann“, sagt sie leise am Telefon. Sie klingt müde, denn sie schläft nicht gut im Moment.

Blessing ist Mitte Zwanzig und seit Ende 2018 in Deutschland. In ihrer Heimat Uganda wurde sie als LGBTQ-Aktivistin politisch verfolgt, ihr Leben war in Gefahr. Aktuell ist sie in einer Unterkunft für Geflüchtete in München. „Mein Leben hier war okay“, sagt sie. „Ich habe bei einer Theaterproduktion mitgemacht, an Integrationskursen teilgenommen, war regelmäßig in der Bibliothek. Aber jetzt ist alles gestoppt. Die Situation ist sehr beängstigend.“ Sie versuche, Distanz zu halten, aber das sei schwer. In ihrer Unterkunft teilen sich hunderte Menschen die Zimmer, die Küche, das Bad. Gleichzeitig ist ihre Tagesstruktur verloren gegangen: Die Ehrenamtlichen, deren Deutschkurse sie regelmäßig besucht hat, dürfen nicht mehr in die Unterkunft, und mittlerweile ist auch das Büro der Sozialarbeiter*innen geschlossen. „Wir haben niemanden mehr, an den wir uns wenden können“, sagt Blessing.

Den Geflüchteten fehlt, was gerade so wichtig ist: ein Zuhause. Sicherheit im Privaten. Ein festes Umfeld. Routine

Die Corona-Pandemie trifft alle, doch die Schwächsten einer Gesellschaft trifft sie am schlimmsten, zum Beispiel Menschen, die auf der Suche nach Schutz oder Chancen aus ihrer Heimat geflohen sind und aktuell in Sammelunterkünften leben. Ihnen fehlt, was für viele gerade so wichtig ist, um durchzuhalten: ein Zuhause. Sicherheit im Privaten. Ein festes Umfeld. Routine. Der Mediendienst Integration meldet, dass in Deutschland aktuell mehr als 40 000 Geflüchtete in Erstaufnahmeeinrichtungen leben und noch einmal wesentlich mehr in den Gemeinschaftsunterkünften, in die sie anschließend verlegt werden. Wie viele genau, wird nicht zentral erfasst, weil dafür Landkreise und Kommunen zuständig sind. Allein in Bayern sind es aber mehr als 58 000 Personen.

In solchen Unterkünften können sich Infektionen schnell und unkontrolliert ausbreiten. Aktuell sind laut Bundesinnenministerium 77 Geflüchtete in zwölf Bundesländern und 20 Heimen mit SARS-CoV-2 infiziert (Stand 06.04.2020, Anm. d. Red.). Im thüringischen Suhl wurde nach einem Infektionsfall kürzlich eine komplette Unterkunft unter Quarantäne gestellt, Bewohner*innen gerieten in Panik und es kam zum Polizeieinsatz. Aber auch ohne Quarantäne werden die Lebensumstände für die Geflüchteten und die Arbeitsbedingungen für Haupt- und Ehrenamtliche in den Unterkünften durch die Krise extrem erschwert. Wie gehen die Beteiligten damit um?

„Die Freiwilligen dürfen schon seit dem 18. März nicht mehr in die Unterkünfte und wir wurden gebeten, auch ansonsten den Kontakt zu Geflüchteten zu unterlassen, damit wir sie und uns nicht anstecken“, sagt Serena Widmann vom Verein Flüchtlingshilfe München e.V., die ehrenamtlich in mehreren Münchner Unterkünften aktiv ist. Seit drei Wochen finden dort nun weder Deutschkurse, noch Spielenachmittage oder gemeinsame Ausflüge statt. „Einerseits verstehe ich, dass wir das Risiko nicht eingehen dürfen. Andererseits finde ich es schlimm, dass die Menschen in einer Situation, in der sowieso schon so viele Ängste da sind, mehr oder weniger allein sind”, sagt Widmann.

Viele der Bewohner*innen haben in ihren Heimatländern oder auf der Flucht Schlimmes durchgemacht, die zusätzliche Unsicherheit durch die Pandemie ist für sie eine extreme Belastung. Über eine Whatsapp-Gruppe hält Widmann Kontakt zu etwa 40 Geflüchteten und versucht, Ängste zu nehmen. Unter anderem postet sie dort seriöse Informationen, um gegen die Fake News vorzugehen, die in den Sozialen Netzwerken rumgehen und dann unter den Bewohner*innen verbreitet werden – zum Beispiel, dass es bald nicht mehr genug Essen in Deutschland gäbe oder alle Geflüchteten abgeschoben würden.

Andrea Raibold vermittelt ebenfalls telefonischen Kontakt zwischen Geflüchteten und Ehrenamtlichen, damit eine Verbindung bestehen bleibt  – und damit ihr die freiwilligen Helfer*innen über die Krise nicht verloren gehen. Raibold ist Ehrenamtskoordinatorin der Inneren Mission München. In den drei Erstaufnahmeeinrichtungen, die sie betreut, und dem „Lighthouse Welcome Center“, einem Treffpunkt vor der Bayernkaserne im Münchner Norden, sind normalerweise mehr als hundert Freiwillige im Einsatz. Sie geben Sprachkurse, betreuen Kinder, helfen bei den Hausaufgaben, organisieren Sportevents oder Museumsbesuche oder plaudern einfach mit den Bewohner*innen. Sie bringen etwas Alltag und Abwechslung in den Ausnahmezustand, in dem die Geflüchteten leben müssen. „Dass das jetzt alles wegfällt, bedeutet einen Einschnitt“, sagt Raibold. Die Menschen würden zurückgeworfen, beim Spracherwerb und der Integration. „Weil die Leute vor Ort aber trotzdem Unterstützung brauchen, müssen wir Alternativen finden.”

„Der Kontakt zu den Geflüchteten ist das Allerwichtigste. Den digital zu ersetzen, ist schwierig“, sagt Andrea Raibold

Eine dieser Alternativen ist die Gesprächsvermittlung per Telefon, für die Flyer in den Unterkünften verteilt wurden. Wer Gesprächsbedarf hat, kann eine zentrale Nummer anrufen, und wird von dort aus mit einem*r Ehrenamtlichen zusammengebracht. Das funktioniere schon sehr gut, sagt Andrea Raibold. Die Verwaltung der Unterkünfte, die nach wie vor vor Ort ist, sorge außerdem dafür, dass Hausaufgaben für die Kinder ausgedruckt würden. Und gerade gestalten Freiwillige „Frühlingsgrüße“  in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Ehrenamt. „Die Ehrenamtlichen sind nicht zu stoppen“, sagt Raibold. „Aber der Kontakt zu den Geflüchteten ist das Allerwichtigste. Den digital zu ersetzen, ist schwierig.“

Das gilt natürlich auch für die Hauptamtlichen, die in den Unterkünften normalerweise die Sozialberatung machen. In Bayern gilt derzeit ein Zugangsverbot für Sozialarbeiter*innen, die lokalen Behörden können aber Ausnahmen beschließen. Darum dürfen in München in den städtischen Unterkünften die Berater*innen weiterarbeiten, aber in denen, die von der Regierung von Oberbayern verwaltet werden, gelten strenge Einschränkungen: maximal drei Stunden in der Woche Beratung in den Gemeinschaftsunterkünften und drei Stunden am Tag in den Ankerzentren, also der Erstaufnahme.

Die Caritas, die die Sozialberatung im Ankerzentrum Fürstenfeldbruck macht, hat aus Sicherheitsgründen entschieden, auch auf diese Ausnahmen zu verzichten. „Wir wollen verhindern, dass das Beratungsbüro ein Glied in der Infektionskette wird“, sagt Andrea Gummert, die stellvertretende Fachdienstleitung in Fürstenfeldbruck. Nach Anlaufschwierigkeiten funktioniere die telefonische Beratung aber mittlerweile ganz gut, fügt ihre Kollegin Marion Henne, die Teamleiterin im Ankerzentrum, in der Telefonschalte hinzu. „Wir halten auch Kontakt zu verschiedenen Menschen in der Unterkunft, die wiederum andere über das neue Angebot informieren. Da bilden sich kleine Communities, in denen sich die Leute gegenseitig unterstützen.“ 

Trotzdem seien die Bewohner*innen natürlich sehr verunsichert. Viele hätten Vorerkrankungen, sorgen sich um Angehörige, die in anderen Unterkünften oder in den überfüllten griechischen Lagern sind, oder haben Angst, im Krankheitsfall keine ausreichende medizinische Behandlung zu bekommen – die aber gesichert sei, betont Andrea Gummert. Zu den Sorgen kommt, wie in allen Unterkünften, die Enge und Nähe hinzu.

Im Ankerzentrum Fürstenfeldbruck leben aktuell 600 Menschen, Fathi (Name geändert), 39, aus Uganda ist einer von ihnen. „Wenn das Virus hier ausbricht, werden wir alle krank“, sagt er am Telefon. Viele würden sich nicht an die Hygienevorschriften halten, die auf Aushängen in mehreren Sprachen erklärt würden. Und fürs Essen stünden immer noch alle viel zu dicht beieinander an. Später schickt er per Whatsapp ein Foto aus der Essensschlange, auf dem Boden sind Kreidestriche zu sehen. „Es hat sich was geändert: Es gibt es jetzt einen Meter Abstand zwischen den Menschen“, schreibt er dazu.

Sollte es zu einer Quarantäne der gesamten Unterkunft kommen, könnte die Stimmung kippen

Fathi sagt, er versuche, nicht zu viel über die Situation nachzudenken. Und er bleibe viel in seinem Zimmer, obwohl alle das Gebäude verlassen und sich frei bewegen können – noch. Im ersten Stock wurde ein Bereich für Corona-Verdachtsfälle abgetrennt. Sollte es zu einer Gesamt-Quarantäne wie in Suhl kommen, könnte die Stimmung kippen. „Da hängen ja tausend kleine Sachen dran, die man oft nicht bedenkt“, sagt Marion Henne von der Caritas, und nennt ein nur scheinbar banales Beispiel: Wenn die Raucher nicht mehr rausgehen und sich Zigaretten kaufen können und dann auf Entzug sind, können kleine Konflikte schnell eskalieren.

Auch in Fürstenfeldbruck liegen die ehrenamtliche Angebote, die die Situation normalerweise etwas auflockern, zur Zeit brach. Der Sportraum hat geschlossen, die Klassenräume auch. Einige Helfer*innen halten telefonisch Kontakt mit Geflüchteten und auch Wlan gibt es noch, das ebenfalls von Ehrenamtlichen bereitgestellt wird – in Unterkünften für Geflüchtete keine Selbstverständlichkeit. Aber ein weiterer, für viele wichtiger Kontakt geht zur Zeit verloren: „In der Unterkunft leben viele sehr gläubige Menschen, deren Halt es ist, am Wochenende zu einer Kirchengemeinde zu fahren, dort mit anderen zusammenkommen und Aufgaben zu übernehmen“, sagt Marion Henne. An Ostern werden sie besonders schmerzhaft spüren, dass das zur Zeit nicht möglich ist.

Blessing, die Aktivistin aus Uganda, ist gläubige Christin, auch ihr wird die Osterfeier fehlen. Sie wird alleine beten und das Fasten brechen und online Gottesdienste verfolgen. Ansonsten, sagt sie, seien alle ihre Hoffnungen gerade ähnlich „on hold“ wie das ganze Leben um sie herum. „Ich hatte viele Ziele für dieses Jahr, Langzeit- und Tagesziele. Aber jetzt kann ich nur versuchen, gesund zu bleiben.“ Ihre Interviews beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat sie schon alle geführt, das Ergebnis ihres Asylantrags steht noch aus. Negative Bescheide werden zur Zeit nicht verschickt. „Ich habe noch Hoffnung“, sagt Blessing. Wie alle hofft sie, dass die Pandemie bald überstanden ist. Für sich selbst hofft sie, dass sie ihr neues Leben in Deutschland dann bald wieder aufnehmen kann, einen positiven Asylbescheid bekommt – und ihren sechsjährigen Sohn zu sich holen kann, den sie in Uganda zurücklassen musste.

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