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„Die Verantwortlichen lassen diese Leute gezielt ersaufen“

Screenshot: Twitter/Claus-Peter Reisch

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Claus-Peter Reisch, 58, ist einer der bekanntesten Seenotretter Deutschlands. Vor drei Wochen rettete er mehr als 100 Menschen, die über das Mittelmeer von Libyen nach Europa fliehen wollten, vor dem Ertrinken. Italienische und maltesische Behörden verweigerten ihm die Hafeneinfahrt, weshalb Reisch acht Tage lang auf dem Mittelmeer ausharrte. Weil er schließlich trotzdem anlegte, drohen ihm nun bis zu 300 000 Euro Strafe und 20 Jahre Gefängnis. Hier erzählt er von der Rettung, der Situation an Bord und was er von den Ergebnissen der Innenministerkonferenz auf Malta hält.

jetzt: Claus-Peter Reisch, vor gut zwei Wochen haben Sie 104 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Nun drohen Ihnen bis zu 20 Jahre Haft. Können Sie die Situation auf dem Meer beschreiben?

Claus-Peter Reisch: Wir waren eigentlich gar nicht auf einer Rettungs-, sondern auf einer Aufklärungsmission, als eine Meldung über ein beschädigtes Schlauchboot kam, das Luft verliert. 64 Menschen seien an Bord, darunter 28 Frauen und vier Kinder. Wir waren mit unserem Schiff vier Stunden entfernt. Als wir nah genug waren, haben wir unser Rettungsschlauchboot vorgeschickt, um keine Zeit zu verlieren.

In welchem Zustand war das beschädigte Schlauchboot?

Der Einsatzleiter hat kein Schlauchboot mit 64 Menschen entdeckt, sondern eins, auf dem 104 Menschen waren. Eine der fünf Kammern des Bootes war defekt. Die Menschen darin haben die Schlauchboothaut nach oben gehalten, als Barriere gegen das Wasser. Diese Stelle hing durch und es konnte dadurch leicht passieren, dass die Menschen in das Wasser rutschen. Wenn das passiert, ist ganz, ganz schnell Feierabend.

Was ist aus dem Schlauchboot mit den 64 Menschen geworden?

Das wissen wir nicht. Es kann sein, dass es dasselbe Boot war und die genannte Zahl falsch war. Es kann aber auch sein, dass zwei Boote unterwegs waren. Falls das so ist, gibt es zwei Möglichkeiten: Dass die Libyer diese Menschen geborgen haben, oder dass die 64 Menschen mit dem Schlauchboot untergegangen sind. Das wissen wir einfach nicht.

104 Menschen auf 46 Quadratmetern: „Man kommt sich vor wie in einem vollen städtischen Bus“

Wo genau haben Sie die Menschen gefunden?

30 Kilometer vor der libyschen Küste, östlich von Tripolis.

Kritiker der privaten Seenotrettung beklagen immer wieder, dass die Geretteten nicht zurück nach Libyen gebracht werden, wo offiziell der nächste Hafen wäre.

Die Mensch dorthin zurückzubringen, wo sie gefoltert wurden, ist vollkommen ausgeschlossen. Das wäre gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und gegen die International Convention for the Safety of Life at Sea. Ich muss diese Menschen an einen sicheren Hafen (Anm. Der Red.: Laut Bundestag: „Ein Ort an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse [...] gedeckt werden können“) bringen. Diesen sicheren Hafen gibt es in Libyen nicht.

Wie kann man sich die Situation auf dem Schiff vorstellen?

Für 104 Menschen standen 46 Quadratmeter Fläche zur Verfügung. Weniger als ein halber Quadratmeter pro Mensch. Acht Tage und acht Nächte lang. Man kommt sich vor wie in einem vollen städtischen Bus, nur dass man nicht jederzeit aussteigen kann.

Wie viele Toiletten gab es für die Menschen?

Eine. Abgetrennt mit einer Plane. Weil es so eng war, mussten da nachts zwei Leute schlafen.

„Die wissen ja auch, dass ich nicht so lange auf und ab fahre, bis der Treibstoff leer ist und das Schiff untergeht“

Wie sah Ihre Kommunikation mit dem europäischen Festland aus?

Sobald wir die Leute alle aus dem Wasser gerettet hatten, haben wir alle Behörden informiert: die italienischen, die maltesischen, die deutschen, das UNHCR, die Europäische Kommission. Von der haben wir einen salbungsvollen Brief bekommen, mit dem wir aber nichts anfangen konnten. Malta hat gedroht: Wenn wir einlaufen, wird das Schiff beschlagnahmt und der Kapitän, also ich, verhaftet. Italien hat uns diese Salvini-Dekrete personalisiert für unser Schiff geschickt.

Und dann warteten Sie acht Tage lang darauf, anlegen zu können?

Gut, was soll ich anderes machen? Wir haben auf eine Lösung durch die Politik gewartet. Das ging nur so lange gut, weil wir Glück mit dem Wetter hatten. Bei hohem Seegang wäre ziemlich schnell Schluss gewesen. Wenn die Leute nass werden, muss ich die Reißleine ziehen. Die haben keine trockene Kleidung und werden sonst massenweise krank.

Und genau das ist dann passiert?

Wir sind in eine Unwetter-Zelle geraten. Um uns herum hat es geblitzt und gedonnert, das war wirklich atemberaubend. Irgendwann gab es dann einen Wolkenbruch. Das war wie, wenn jemand eine Badewanne über uns ausgeschüttet hätte. Mit Hagel, allem drum und dran. Die Leute waren innerhalb von Sekunden bis auf den letzten Faden nass. Wir haben sie dann ins Innere des Schiffes geholt. Wir hatten in der Küche sechs, sieben Flüchtlinge. Im Aufenthaltsraum, der eigentlich für fünf Leute schon zu eng ist, waren 20 Menschen. In unserer Toilette, im Flur, im Krankenhaus – überall stand jemand. Alleine in meiner Koje waren vier Menschen. Tropfnass. Das war ganz klar eine Notlage. Ich habe den State of Emergency erklärt, habe somit das Recht auf einen sicheren Hafen reklamiert. Gleichzeitig habe ich mitgeteilt, dass ich das sizilianische Pozzallo anlaufen werde. Das war der nächste Hafen, der auch einen Hotspot (Anm. d. Red.: Registrierungszentrum) für Flüchtlinge hat.

Was war die Antwort?

Die italienische Küstenwache hat mir geantwortet, dass das verboten ist. Dass mir bis zu einer Millionen Euro Strafe drohen. Aber wir befanden uns in einem übergesetzlichen Notstand, in den die mich manövriert haben, indem sie mir keinen Hafen zugewiesen haben. Die wissen ja auch, dass ich nicht so lange auf und ab fahre, bis der Treibstoff leer ist und das Schiff untergeht. Als wir näher kamen, haben sie uns angeschrien, dass wir umkehren sollen. Sechs Meilen vor dem Festland kamen die Küstenwache und die Guardia di Finanza an Bord, haben mir gesagt, dass sie jetzt das Schiff übernehmen.

„Ich habe vor diesen 300 000 Euro nicht die Hosen voll“

Wie ging es für Sie am Festland weiter?

Der Einsatzleiter und ich wurden erkennungsdienstlich behandelt. Es wurden Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen. Dann ist uns die Rechnung präsentiert worden: der Strafbefehl über 300 000 Euro. Da ich dem Herrn Salvini alles zutraue, habe ich mit nichts anderem gerechnet, aber ich musste diese Leute an Land bringen

Wie sehen Sie die Strafe?

Ich habe vor diesen 300 000 Euro nicht die Hosen voll. Die Strafe ist in meinen Augen widerrechtlich und wir werden bis zur letzten Instanz gegen sie vorgehen. Ich musste diese Notlage beenden. Da ist es auch egal, was der Herr Salvini in sein Dekret kritzelt. Dieses Dekret verstößt nach Auffassung mehrerer italienischer Rechtsprofessoren gegen grundlegende Paragraphen der italienischen Verfassung.

Am Montag kamen die Innenminister in Malta zusammen, um über einen Verteilmechanismus zu beraten. Es ist noch nicht viel bekannt, nur dass es einen Notfallmechanismus geben soll, der die Verteilung von auf dem Mittelmeer geretteten Flüchtlingen temporär lösen soll. Was halten Sie davon?

Zunächst einmal ist es gut, dass man sich jetzt an einen Tisch setzt und Lösungen sucht. Es kann nicht sein, dass man bei jedem Schiff, das  Flüchtlinge an Bord nimmt, erneut anfängt zu schachern, wo die Menschen hingehen. Das ist eine Bankrotterklärung Europas. Die Konferenz ist zumindest ein Anfang. Doch solange wir die Fluchtursachen nicht angehen, wird auch die Fluchtbewegung nicht aufhören

Haben Sie die Hoffnung, dass Ihres eines der letzten Schiffe war, das auf dem Mittelmeer ausharren musste?

Ja, das hoffe ich natürlich sehr.

Gehen Sie davon aus, dass sich die Situation für Sie persönlich nun auch verbessert?

Ich hoffe, dass mit dem Wechsel in der italienischen Regierung auch diese Salvini-Dekrete zurückgezogen werden. Es kann ja nicht sein, dass ich jetzt noch weiter gegen die 300 000 Euro, die Beschlagnahmung des Schiffes und darüber hinaus die 20 Jahre Haftstrafe vorgehen muss. Aber da ist bislang kein Signal erkennbar. Ich bin leider gezwungen, weiterhin dagegen vorzugehen und das kostet einen Haufen Geld und einen Haufen Zeit.

Wie geht es für Sie weiter?  Werden Sie wieder auf eine Rettungsmission gehen?

Unser Schiff ist von den Italienern beschlagnahmt worden, das müssen wir da irgendwie wieder rausbekommen. Aber wenn ich gebraucht werde, werde ich nicht nein sagen. So wie bei dieser Mission. Da war eine Rettung eigentlich auch nicht das Ziel unserer Mission.

Sondern?

Forschen, überwachen, aufklären.

Was oder wen wollten Sie genau aufklären?

Ich wollte zeigen, dass die europäische Politik genau weiß, was auf dem Mittelmeer passiert. Eigentlich ist die Seenotrettung eine Aufgabe der europäischen Staaten. Aber sie tun es nicht.

Was haben Sie genau herausgefunden?

Wir haben in einer Nacht den Funkverkehr eines Flugzeugs mitgeschnitten, das sich lediglich als „European Navy Aircraft“ identifiziert hat. Keine Kennung. Das hat mit einer „Libyan Navy Vessel“ (Anm. d. Red: Libysches Marineschiff") gefunkt. Das bedeutet, dass Europäer mit diesen ekligen sogenannten Küstenwächtern kommunizieren und denen Positionen von Flüchtlingen in Seenot durchgeben. Da heißt es: „Fahr einen Kurs von 104 Grad, dann bist du nach 20,5 Meilen am Ziel.“ Wir können, weil wir den Ausgangspunkt nicht wissen, nie da hinfahren und nachgucken, was da los ist.

Sie glauben, dass das absichtlich so gemacht wird, damit sonst niemand da hinkommt?

Das ist Absicht. Klar. Die Koordinaten wären für die sogenannte libysche Küstenwache viel einfacher. Gleichzeitig verhindert man Aufklärungsflüge der NGOs. Das Flugzeug auf Malta darf nicht nach Süden starten, sondern nur nach Norden, das Flugzeug auf Lampedusa bekommt kein Benzin. Alleine aus diesen Gründen sage ich: Die Europäische Politik weiß, was passiert, und handelt nicht. Die Verantwortlichen lassen diese Leute gezielt ersaufen.

Was wollen Sie mit dem gesammelten Material nun machen?

Wir werden die Beweise auf jeden Fall auswerten. Die zu bekommen, war der Grund unserer Mission. Und diese Belege können wir auch veröffentlichen.

War das Boot mit den 104 Menschen an Bord das einzige, dem sie während des Einsatzes begegnet sind?

Nein. Am ersten Tag unserer Mission haben wir ein Schlauchboot gefunden, an dem noch eine Kammer intakt war. Der Rest des Schlauchboots war untergegangen. Das Schlauchboot war nicht markiert, es gab keinen Notruf. Wir gehen davon aus, dass dort über 100 Menschen gestorben sind. Die tauchen auch in keiner Statistik auf, weil sie nicht einzeln dokumentierbar sind. In der Nacht darauf wurden wir über das Alarmphone über ein Schlauchboot in Not informiert, das wir dann gesucht haben. Es war eine mondlose Nacht. Stockdunkel. Kein Licht. Nichts. Wir haben das Boot einfach nicht gefunden. Auch bei diesen Menschen müssen wir davon ausgehen, dass sie gestorben sind.

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