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„Die neue Verfassung darf nicht aus Händen der Politiker kommen“

Protestierende feiern das Ergebnis des Referendums über eine neue Verfassung, Chile, 25.10.2020
Foto: Ivan Alvarado / Reuters

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Als am 18. Oktober 2019 die Fahrpreise in der Hauptstadt Santiago de Chile um 30 Pesos (etwa drei Eurocent) erhöht wurden, entbrannten im ganzen Land soziale Unruhen. Protestierende setzten Metro-Stationen, Busse und Geschäfte in Brand. Am Rande friedlicher Demonstrationen kam es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, die mit großer Brutalität vorgingen. Dutzende Menschen kamen bei den Unruhen ums Leben, Tausende wurden festgenommen und verletzt, einige von ihnen schwer. Die Vereinten Nationen dokumentierten in hunderten Fällen Menschenrechtsverletzungen.

Den vorwiegend jungen Protestierenden ging es um mehr als 30 Pesos. Chile wird 30 Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur immer noch unter einer Verfassung regiert, die unter den Bedingungen der Diktatur entworfen wurde. Eine Revolution gab es nie. Was daraus folgt, ist zwar rechtlich gesehen eine funktionierende Demokratie, eigentlich aber ein Land, durch das sich tiefe Gräben der sozialen Ungleichheit ziehen. Viele Chilenen sind sozial und wirtschaftlich benachteiligt. 

Das Land ist ein mustergültiger Fall des entfesselten Neoliberalismus: Die Wirtschaft ist fast vollständig privatisiert, dagegen ist der öffentliche Sektor auf das Minimum zurechtgestutzt: Öffentliche Güter wie Bildung, Alters- und Gesundheitsvorsorge werden nur im Mindesten staatlich garantiert. Wer kann, trifft private Vorsorge. Das alles soll sich jetzt grundlegend ändern. 

Denn am vergangenen Sonntag haben die Chilenen in einem Referendum über eine neue Verfassung abgestimmt. Mehr als zwei Drittel stimmten dafür, dass eine Versammlung von Delegierten eine neue Verfassung erarbeiten soll. Die verfassungsgebende Versammlung soll jeweils zur Hälfte aus Frauen und Männern bestehen. Wir haben mit jungen Chilenen gesprochen und sie gefragt, mit welchen Erwartungen und Hoffnungen sie auf den Umbau ihres Landes blicken.

„In den vergangenen Jahrzehnten wurde uns unsere Würde geraubt“

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Foto: privat

Juan Andrés Burgos Catalán, 32, lebt in der Hauptstadt Santiago de Chile und ist Sozialarbeiter.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Freude das Ergebnis des Referendums hier ausgelöst hat! Jetzt können wir endlich mit dieser alten Verfassung aus der Militärdiktatur unter Pinochet brechen. Dieser Prozess, der jetzt beginnt, hat eine erneuernde, transformatorische Kraft. Die neue Verfassung wird ein großer Schritt in eine bessere Zukunft sein. Auch für die kommenden Generationen, für meine kleine Tochter und unsere Familie ist das ein großer Erfolg.

Die Wahlbeteiligung am Referendum war außergewöhnlich hoch. Am Sonntag sind sehr viele Chilenen, vor allem junge Leute wählen gegangen – weil wir müde sind! Wir haben es satt! Die neue Verfassung muss an erster Stelle die soziale Absicherung verbessern und sozialen Ausgleich schaffen. Die Grundrechte auf Bildung und Gesundheitsversorgung müssen zukünftig staatlich garantiert werden. Auch das Recht auf würdigen, angemessenen Wohnraum muss Beachtung finden. In den letzten Jahrzehnten wurde uns unsere Würde geraubt. Wir müssen mit diesem verfassunggebenden Prozess auch zu einer neuen Lebensweise finden.

Der Prozess, der jetzt beginnt, ist einzigartig und historisch für unser Land. Zum ersten Mal werden die Bürger selbst sich ihre Verfassung geben. Meine Hoffnung ist, dass die etablierten politischen Parteien sich nicht an diesem Prozess beteiligen. Während der vergangenen Jahrzehnte hat ihre Ideologie die Bürger verkümmern lassen. Die Wahlbeteiligung war durchweg extrem niedrig und das Vertrauen in die politische Elite ist gleich null. Deshalb darf die neue Verfassung nicht aus Händen der Politiker kommen. Sie muss all den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht werden, die so lange missachtet wurden.

Deshalb ist Repräsentation im verfassungsgebenden Prozess essentiell. Zum einen müssen diejenigen beteiligt werden, die selbst von der sozialen Ungerechtigkeit betroffen sind. Gleichzeitig ist die wissenschaftliche Perspektive auf die bevorstehende sozioökonomische Transformation wichtig, damit in Chile zukünftig auch echte politische Beteiligung möglich wird. Damit meine ich zum Beispiel Soziologen, Politologen und andere Experten, die hier Vorschläge und wichtige Impulse geben können.“

„Die aktuelle Verfassung ist wie eine unsichtbare Mauer“

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Foto: Privat

Andres Ignacio Quezada Gutierrez, 24, kommt aus Chillán und studiert Agrarwissenschaften.

„Ich weiß nicht, was sich mit der neuen Verfassung ändern wird. Aber da ist dieses kollektive Gefühl, dass sich in jedem Fall etwas verbessern wird. Ich habe das Gefühl, dass sich ganz Chile in der Bürgerbewegung vereint. Die Frauen spielen bei der Bürgerbewegung auch eine große Rolle. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich  den Eindruck, dass vorwiegend Männer die wichtigsten Akteure wären. Die Einzigen, die sich uns nicht angeschlossen haben, sind die Unternehmer, die ökonomische und soziale Elite.

Wir brauchen die neue Verfassung, damit echte, grundlegende Veränderung in Chile ermöglicht wird. In der Vergangenheit gab es immer wieder Reformversuche, die letztlich daran gescheitert sind, dass sie gegen das Verfassungsrecht verstießen. Die aktuelle Verfassung ist wie eine unsichtbare Mauer, an der jegliche Reform des Wirtschaftssystems oder Rentensystems scheitert. Im Grunde gibt sie den Unternehmen der Privatwirtschaft zu viele Rechte. Deshalb muss sie durch eine neue ersetzt werden. Zukünftige Reformen dürfen nicht mehr gegen die Verfassung verstoßen, sondern müssen durch sie ermöglicht werden. 

Ich hoffe, dass die Delegierten, die die neue Verfassung entwerfen, nicht von den bisherigen Machthabern manipuliert werden. Die verfassungsgebende Versammlung muss eine echte Alternative zum bestehenden System vorschlagen. Ohne Hintertürchen und Schlupfwinkel für private Interessen. Und dann werden wir ja sehen, ob der Vorschlag angenommen wird. Was ich mir wünsche ist, dass die neue Verfassung allen ein gutes Leben in der Gesellschaft ermöglicht. Dass niemand ohne Rechte arbeiten und leben muss.“ 

„Ich hoffe, dass Chile in der Zukunft zur Ruhe kommt“ 

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Foto: privat

Alexander Maximilian Vallejos Gajardo, 23, kommt ebenfalls aus Chillán und arbeitet als Wirtschaftsprüfer.

„Ich habe am Sonntag für die neue Verfassung gestimmt. Im Vergleich zu den vergangenen Präsidentschaftswahlen war die Wahlbeteiligung außergewöhnlich hoch. Ich glaube, dass Chile in jeder Hinsicht Veränderung braucht. Nach dem Referendum wird sich die Situation nicht von jetzt auf gleich verändern. Aber es ist ein Anfang. Und zwar der Anfang von dem, wofür seit Oktober so hart gekämpft wurde. 

Ich habe auch an den Demonstrationen teilgenommen. Das war der Punkt, an dem wir uns alle einbringen und bemerkbar machen mussten. Durch die Entscheidung, die jetzt getroffen wurde, werden wir uns die Produktionsmittel zumindest teilweise zurückholen. Chiles Rohstoffe, Infrastruktur und im Grunde das gesamte Wirtschaftssystem sind seit der Diktatur privatisiert. Im lateinamerikanischen Vergleich ist der Mindestlohn hier zwar hoch, aber er reicht längst nicht aus. Das Leben in Chile ist sehr teuer. Der Kuchen ist schlecht unter der Bevölkerung aufgeteilt. Das hat sich auch in der Abstimmung bemerkbar gemacht.

Ich glaube, dass die soziale Bewegung in Chile erfolgreich ist, weil die Bevölkerung schon lange unzufrieden ist. Alle wissen, dass die Erhöhung der Fahrpreise nur der eine Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die Massenproteste haben dann extremen Druck auf die politische Elite ausgeübt. Die Politiker haben sich schlicht bedroht gefühlt. Dieselben Akteure, die sonst jeder Reform im Weg standen, haben sich plötzlich beeilt, den Leuten Versprechen zu machen. Auf einmal ging alles viel schneller, weil die Politik auf den Boden Tatsachen geholt wurde.

Chile hat viele Probleme. Für die Zukunft hoffe ich, dass sich das bessert. Wir haben eine hohe Kriminalitätsrate, Drogen sind ein Problem, genauso wie Gewalt gegen Frauen. Inzwischen ist sogar die Wasserversorgung problematisch, die auch in privater Hand ist. Deshalb gibt es mit Peru auch Streitigkeiten um Flüsse in der Grenzregion. Ich hoffe, dass Chile in der Zukunft zur Ruhe kommt und dass es zu einem gerechten Land wird, in dem man gut leben kann.“ 

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