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Hört auf, Debatten als „Cancel Culture“ abzustempeln!

Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

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Viele von uns jungen Menschen haben das Gefühl, dass sich zurzeit viel in Bewegung setzt. Dass alte Gesellschaftsstrukturen infrage gestellt und aufgebrochen werden können. Dass wir uns an öffentlichen Debatten über Veränderung beteiligen dürfen. Aber es gibt da eine Rhetorik, die in solche progressive Debatten eingreift: die Rhetorik der sogenannten Cancel Culture – womit ein mediales Phänomen bezeichnet werden soll. Jemanden zu canceln, das bedeutet übersetzt: jemanden abzusagen, womit Cancel Culture eine Kultur des Absagens wäre. Laut Definition bedeutet das, Menschen öffentlich – meist in den sozialen Medien – für bestimmte Handlungen zu kritisieren und zu boykottieren. Wenn sich diese diskriminierend oder anderweitig problematisch verhalten, wenn sie beispielsweise sexistisch gehandelt oder sich rassistisch geäußert haben. Das Ziel: Die betreffende, meist prominente Person soll keine breite Unterstützung mehr erfahren.

Kritiker*innen der Cancel Culture behaupten, man wolle damit erreichen, unliebsame Menschen „mundtot“ zu machen. Hier zeigt sich bereits, warum der Vorwurf vermeintlicher Cancel Culture konstruktive Debatten im Keim erstickt: Cancel Culture ist zu einem Kampfbegriff geworden. Er verurteilt die Kritik, die zurzeit vor allem durch junge Bewegungen öffentlich geübt wird, bevor man sich erst richtig  mit ihrem Inhalt auseinandersetzen kann. Und bewirkt im Gegenzug, dass mächtige Menschen sich als Opfer inszenieren können. Ein paar Beispiele: 

Der „Black Lives Matter“-Bewegung und den Kritiker*innen von J.K. Rowling wurde etwa Cancel Culture vorgeworfen

Von Cancel Culture wurde im Zusammenhang mit der aktuellen Rassismus-Debatte gesprochen, als Black-Lives-Matter-Demonstrant*innen Statuen ehemaliger Sklavenhalter stürzten oder Kritik an der Südstaatenflagge übten. Ihr eigentliches Ziel aber ist, eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sklaverei voranzutreiben – und dabei auch eine Debatte über den gegenwärtigen Rassismus und Polizeigewalt. Auch im Zusammenhang mit der Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling war von Cancel Culture die Rede. Grund dafür waren transfeindliche Äußerungen, für die Rowling in den sozialen Medien stark kritisiert wurde. Rowling hatte beispielsweise angedeutet, dass trans Frauen keine Frauen seien. Als Reaktion schrieb sie zuletzt gemeinsam mit zig international bekannten Intellektuellen (darunter auch der deutsch-österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann) einen offenen Brief, in dem sie die gegenwärtige Debattenkultur beklagten und zu Toleranz mahnten. Der Brief wurde medial als Aufruf zum Ende von „Zensur“ und Cancel Culture interpretiert.

Cancel Culture zu betreiben wurde auch der Metoo-Bewegung vorgeworfen. Gecancelt worden sei da zum Beispiel der Schauspieler Kevin Spacey, weil seine Auftritte aus Filmen und Serien geschnitten wurden – nachdem mehr als 30 Fälle bekannt geworden waren, in denen Spacey sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde (gerichtliche Verfahren wurden eingestellt). Gecancelt worden sei auch Musiker R. Kelly, weil Spotify die Funktion einführte, den Künstler dort stummzuschalten. Er sitzt wegen mutmaßlichen Missbrauchs Minderjähriger seit mehreren Monaten in Haft.

Mundtot sieht nun wirklich anders aus

Oft werden die jungen, woken, vermeintlich politisch korrekten Kritiker*innen von sozialer Ungleichheit, Klimaaktivist*innen, Anti-Rassist*innen und Feminist*innen als Cancel-Culture-Generation präsentiert. Dabei entsteht der Eindruck: Das, was all diese  lauten, kritischen Menschen mit ihrer Kritik erreichen wollen, sei der Versuch von radikaler Auslöschung Andersdenkender, einer moralischen Hexenjagd. Und daraus leitet sich der Vorwurf an die angeblichen Vertreter*innen der Cancel Culture ab: Diese, lauten, kritischen Menschen betreiben mit ihrer Kritik – dem vermeintlichen Cancelling – Zensur. Immer wieder berufen sich Gegner*innen der Cancel Culture in „Das wird man ja wohl noch sagen können“-Manier dabei auf Meinungsfreiheit.

Aber: Daran offenbart sich vielleicht nicht immer, aber sicher häufig eine durchsichtige Doppelmoral. Und das sieht man am bestem am Beispiel von US-Präsident Donald Trump – seit jeher selbsternanntes Opfer der Cancel Culture. Er kritisierte die Cancel Culture schon oft, bezeichnete sie in einer Rede als „die Definition von Totalitarismus“ und schrieb dieses Verhalten den „Linken“ zu. Das Magazin Vice stellte daraufhin eine (wirklich lange) Liste mit all den Unternehmen und Menschen zusammen, die Trump selbst mal canceln wollte, zu deren Boykott oder Kündigung er öffentlich aufrief. Aber: Welche realen Konsequenzen hat Trump eigentlich für seine zahlreichen misogynen und rassistischen Handlungen zu spüren bekommen? Mundtot sieht nun wirklich anders aus.

Im Guardian schrieb der britische Singer-Songwriter Billy Bragg – der mit 62 Jahren selbst übrigens nicht mehr zur besagten „jungen Generation“ gehört – etwas sehr Kluges über den Diskurs rund um Cancel Culture: „Straflosigkeit, also mit wirklich allem davon zu kommen, ist zu einem Zeichen der Stärke geworden.“ Das sehe man vor allem an Trump. Für Bragg ist es daher eher eine positive Entwicklung, dass sich junge Menschen mithilfe der sozialen Medien stärker in öffentliche Debatten einmischen können: „Die Möglichkeit von GatekeeperInnen mittleren Alters, die Tagesordnung zu bestimmen, wurde von einer neuen Generation von Aktivist*innen usurpiert, die Informationen über ihre eigenen Netzwerke verbreiten und die vom Status quo geförderten Narrative in Frage stellen können.“ Der Text von Billy Bragg ist mit einer simplen, aber wichtigen Frage betitelt, die leider oft vergessen wird, wenn von Cancel Culture die Rede ist: „Wer macht hier wen mundtot?“

Kritik ist nun mal selten bequem für diejenigen, die kritisiert werden

Trump und andere Gegner*innen verteidigen nach ihrer eigenen Logik Meinungsfreiheit und individuelle Freiheit gegen die sogenannte Cancel Culture. Doch tatsächlich soll ihre Argumentation verhindern, dass Menschen, die nicht mit ihrer Meinung übereinstimmen oder angebliche Fakten hinterfragen, sich zum Beispiel durch Online-Plattformen stärker in Debatten einmischen können. Dass ihre Stimmen gehört und ihre Kritik ernst genommen wird. Aber genau das ist essentiell für die Meinungsfreiheit, die die Cancelling-Kritiker*innen vorgeben zu verteidigen. Dazu gehört auch, dass Menschen in Machtpositionen durch Online-Kritik zur Verantwortung gezogen werden dürfen – auch wenn es dabei unbequem für sie wird. Produktive Kritik ist nun mal selten bequem für diejenigen, die kritisiert werden. Statt bestimmte Debatten von vornherein abzuurteilen und als Cancel Culture zu framen hilft es, sich bestimmte Fragen immer wieder zu stellen: Welche Meinungsäußerung ist in Anbetracht gesellschaftlicher Grundwerte legitim? Wer beklagt sich worüber? Wer spricht dabei aus welcher Machtposition heraus? Werden andere Stimmen gehört? Wie wird darauf reagiert? Und: Wer bekommt eigentlich reale Konsequenzen zu spüren?

Gerade erst entbrannte in Deutschland wieder eine besonders seltsame Cancel-Culture-Debatte. Zu deren Opfer wurde die Kabarettistin Lisa Eckhart erklärt, weil man eine Veranstaltung mit ihr aus Furcht vor dem Wirken besagter Cancel Culture vorsichtshalber abgesagt hatte. Denn Eckhart war in der Vergangenheit für die Inhalte ihrer Witze kritisiert worden – sie bediene sich rassistischer und antisemitischer Klischees. Wohlgemerkt hat es konkrete Drohungen gegenüber der Veranstaltung aber nicht gegeben. Während sich die einen trotzdem wieder einmal über die Cancel Culture beklagten, behielten die anderen zum Glück den Durchblick. Dirk Peitz schrieb in der Zeit: Die Cancel Culture sei ein „Gespenst“, das in den Köpfen spuke. Und Margarete Stokowski gab im Spiegel zu bedenken, das sei gefährlich, „weil ein gewaltbereiter, mächtiger Mob fantasiert wird.“

Produktive Debatten – angestoßen oft durch junge, kritische Menschen – werden damit abgeblockt

Schon im vergangenen Jahr schrieb die Publizistin Carolin Emcke in der SZ, ‚politisch korrekt‘ sei zum „Morsezeichen der Denkfaulen“ geworden, „mit dem sich reflexhaft alles abwehren lässt, was eingeübte Überzeugungen oder Habitus infrage stellen könnte“. Das ist auch mit der Bezeichnung Cancel Culture passiert: Produktive Debatten – angestoßen oft durch junge, kritische Menschen – werden damit abgeblockt. Das heißt nicht, dass man sich die Frage danach, wie Debatten geführt werden, gar nicht stellen sollte. Doch genau diese Frage wird häufig in den Vordergrund gestellt – persönliche Kränkungen und ein verletztes Ego inklusive – und das versperrt die Auseinandersetzung mit Inhalten. Dabei fühlen sich vor allem diejenigen ungerecht behandelt, die kaum etwas zu befürchten haben: Menschen mit Macht. Namhafte Politiker*innen, Redakteur*innen und Schriftsteller*innen. Doch ausgerechnet diese Menschen sollten besonders kritikfähig sein – damit aus Macht nicht Willkür wird. Wenn sie hart kritisiert werden, ist es kein besonders ehrenhafter Reflex, sofort „Cancel Culture!“ zu rufen – sondern zeugt von dem Unwillen, sich mit möglichen Fehlern auseinanderzusetzen.

Wer sich also fragt, wann aus Kritik Cancelling wird, sollte sich auch fragen: Muss die betroffene Person wirklich Angst davor haben, öffentlich die eigene Meinung kundzutun? Und: Hat sie dabei tatsächlich etwas zu befürchten? Denn das betrifft in Wirklichkeit leider eher die Menschen, die ohnehin schon kaum Gehör finden.

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