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Brexit-Protokolle
Johannes Schaff, 34, arbeitet als Filmemacher in London, seit 15 Jahren. Für ihn war London damals die kulturelle Hauptstadt Europas.
"Seit gestern trage ich ein ganz blödes Gefühl mit mir rum. Und zwar, dass ein Großteil der Menschen in England mich nicht in ihrem Land haben will. Ich lebe seit 15 Jahren hier in London, ich hätte schon vor Jahren einen englischen Pass haben können. Aber ich dachte nie, dass ich den brauche. Ich habe mich als Europäer gefühlt. Alle sagen zwar jetzt, wer als Europäer gekommen ist, braucht sich keine Sorgen wegen Aufenthalt machen. Aber es war ja auch undenkbar, dass England die EU verlässt. Unsicherheit ist schon da bei mir. Man fühlt sich irgendwie ohnmächtig. Gestern war der Schock größer, aber wir sind alle immer noch baff. Bleibe ich eigentlich hier, gehe ich doch zurück nach Deutschland? Besorge ich mir jetzt doch einen englischen Pass? Das beschäftigt mich gerade.
Die Stimmung in meinem Freundeskreis ist krass am Boden. Ich kann’s nur vergleichen mit nach 9/11, plötzlich war alles scheiße, man wusste, die heile Welt, in der man aufgewachsen ist und gelebt hat, ist vorbei und es wird lange Jahre nicht besser werden.
Mir tun die ganz jungen Menschen echt leid, bei dem Referendum über die schottische Unabhängigkeit durften Jugendliche ab 16 Jahren wählen, für das Referendum über den Brexit nicht. Da fehlt einfach zwei Jahre an Gesellschaftsschicht, obwohl es die ja am meisten betrifft. Die Rentner haben die Zukunft von den Jungen verbaut, diese Sicht herrscht hier auf jeden Fall vor.
Was mir in all den Jahren hier generell immer aufgefallen ist, ist so ein anderes Verständnis für Europa. In Deutschland hat man so das Gefühl, dass alles nicht mehr so schlimm werden darf wie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. In England haben die Alten, und auch ein paar junge Menschen einen „imperial hangover“, wie es heißt, das Gefühl, ihr Imperium verloren zu haben und irgendwie zu den Verlierern zu gehören. Das und die finanzielle Ungleicheit im Land hat garantiert in das Ergebnis gestern mit reingespielt."
Sophie Albini, 24 Jahre alt, Grafik-Designerin
"Großbritannien steht jetzt alleine da. Wie der Loser, der bei der großen Party nicht mitfeiern darf. Nur, dass wir uns selbst ausgeladen haben. Ich bin wirklich geschockt darüber, dass die Mehrheit für den Brexit gestimmt hat. Jetzt stehen wir alleine da, keine EU mehr, die uns schützen wird.
Und schuld daran haben für mich die Politiker. Große Teile der Bevölkerung wussten doch gar nicht, was für Konsequenzen es haben wird, wenn wir wirklich nicht mehr Teil der EU sind. Die Politiker hätten das energischer klar machen müssen. Ach was, sie hätten dieses ganze Referendum gar nicht erst aufkommen lassen dürfen. Wir sind, oder wahrscheinlich muss man inzwischen schon sagen: waren doch ein gesundes Land, eines der wirtschaftlich stärksten der Welt. Warum muss man da etwas verändern?
Ich denke, wirtschaftliche Interessen spielten für die normalen Bürger sowieso eine untergeordnete Rolle. Das eine große Ding, was diesen Brexit entschieden hat, war die Frage der Immigration. Jeder hat darüber in den letzten Wochen geredet. Viele haben Angst, dass zu viele Menschen in unser Land strömen und nicht abzusehen ist, was sich dadurch verändern wird. Jetzt wissen wir aber doch umso weniger, wie es mit Großbritannien weitergeht. Mit Cameron haben wir einen guten Anführer verloren, ich kann immer noch nicht glauben, dass er seinen Rücktritt angekündigt hat. Alle sagen jetzt, Johnson würde sein Nachfolger werden. Bitte nicht! Der ist zwar ein lustiger Typ, aber man macht doch nicht den Klassenclown zum Premierminister.
Ich hatte immer davon geträumt, mal nach Amsterdam zu gehen und dort zu arbeiten. Aber jetzt? So wie es schwieriger wird, in unser Land zu kommen, wird es für uns schwieriger, rauszukommen. Wir haben uns wirklich von Europa ausgeladen. "
Katie Ward, 29 Jahre alt, Digital-Marketing-Managerin
"Viele Menschen hier hatten auch vor dem Referendum Angst. Angst, dass zu viele Zuwanderer ihnen die Jobs wegnehmen würden oder unsere englische Identität zerstören würden. Dabei scheinen sie zwei wichtige Aspekte vergessen zu haben: Die vielen Flüchtlinge, vor denen sie sich so fürchten, kommen aus Nicht-EU-Ländern. Und die Tatsache, dass andere Kulturen auch bereichernd sind. Ich liebe London, ich liebe die kulturelle Vielfalt und die Energie dieser Stadt. Trotzdem kann ich doch stolze Britin sein.
Meine Mutter ist Schottin, ich habe meine Jugend in Schottland verbracht. Mein Vater ist Diplomat, mit ihm bin ich viel durchs Ausland gereist. Und mein Großvater hat im zweiten Weltkrieg dafür gekämpft, dass wir in einem freien Europa leben können. Jetzt gehe ich davon aus, dass Schottland seine Unabhängigkeit forcieren wird. So spaltet der Brexit nicht nur Großbritannien von der EU ab sondern auch Großbritannien in sich.
In ein paar Wochen fahre ich in den Urlaub, nach Italien und Slowenien. Ich wünschte, ich hätte gestern noch Pfund gegen Euros eingetauscht."
Alexander, 25 Jahre alt, arbeitet als Berater in London.
"Ich habe 'leave' gewählt und dazu stehe ich. Ich glaube an die Demokratie und vor allem die parlamentarische Demokratie in Großbritannien. Die funktioniert aber nun mal am besten, wenn sie nicht ständig Rücksicht auf die EU nehmen muss. EU-Richtlinien und -Gesetze bremsen einzelne Nationen doch nur. Hinzu kommt die Migrations-Politik. Ich finde es einfach nur unfair, dass Nicht-EU-Ausländer diskriminiert werden. Warum soll ein qualifizierter Arbeiter aus Indien nicht hierher kommen und arbeiten dürfen, während jeder Pole, Tscheche oder Spanier ohne Visum einwandern kann?
Jeder in London redet heute über den Brexit, auch die Leute, die sich noch nie für Politik interessiert haben. Einige meiner Freunde, die auch “leave” gestimmt haben, haben mir inzwischen erzählt, sie würden ihre Entscheidung bereuen. Viele machen sich Sorgen um ihre Jobs, um unsere Währung und um die Zukunft Großbritanniens. Aber ich denke, so schnell passiert da erst mal nichts Gravierendes.
Man merkt auch die Diskrepanz zwischen dem Süden Englands und dem Norden, zwischen London und den ländlicheren Gebieten, zwischen gebildeten und weniger gebildeten Menschen. Die gebildeteren, wohlhabenderen Leute haben in der Mehrheit “remain” gestimmt. Und die jungen Leute beschweren sich jetzt, dass so viele alte Menschen für den Austritt gestimmt haben. Dass die Alten doch eh nicht mehr lange mit ihrer Entscheidung leben müssten. Aber die Alten haben doch auch Kinder, Enkel und Urenkel, die wollen doch für ihre Nachkommen und deren Zukunft nur das Beste. Man darf den Alten deswegen keine Vorwürfe machen.
Der Brexit in Kombination mit dem Rücktritt von David Cameron ist gut für Großbritannien. Ziemlich sicher wird Boris Johnson unser neuer Premierminister. Ein bißchen Sorgen mache ich mir aber natürlich auch. Es besteht die Gefahr, dass Schottland jetzt mit einem neuerlichen Referendum aus unserem Königreich austreten will."