- • Startseite
- • Politik
-
•
Brexit: Briten beantragen irische Pässe, um EU-Bürger bleiben zu können
Seit ein paar Monaten hat Eileen zwei Pässe. Der irische ist dunkelrot, in goldenen Buchstaben steht „An tAontas Eorpach“ drauf, Gälisch für „Europäische Union“. Der britische sieht fast genauso aus, aber bald wird er wahrscheinlich ausgetauscht. Gegen einen blauen, auf dem nicht mehr „European Union“ stehen soll. „Ein bisschen aufregend war es schon, als ich den irischen Pass bekommen habe“, sagt Eileen. „Und ich finde es beruhigend, weiterhin die Rechte einer EU-Bürgerin zu haben – egal, was passiert.“ Denn ob, wann und wie der Brexit vollzogen wird, das steht immer noch nicht fest. Vorerst ist er auf den 31. Oktober verschoben worden. Falls ihr Heimatland die EU dann wirklich verlässt, wird Eileen bleiben. So wie Hunderttausende weitere Briten, die wegen des drohenden Brexits irische Pässe beantragt haben.
Eileen ist 28 Jahre alt und heißt eigentlich anders. Aber da sie britische Beamtin ist, wird von ihr erwartet, dass sie sich neutral verhält und nicht öffentlich über ihre politische Meinung spricht. Sie selbst hat für den Verbleib in der EU gestimmt und mit Freunden darüber gesprochen, dass es knapp werden könnte – trotzdem war sie sich sicher, dass „Remain“ gewinnen würde. Stattdessen stimmten am 23. Juni 2016 fast 52 Prozent der Briten dafür, die Europäische Union zu verlassen. Am 24. Juni schrieb Eileen in ihr Tagebuch: „Wow. Habe um fünf Uhr morgens auf mein Handy geschaut, wie das Referendum ausgegangen ist, und konnte danach nicht mehr einschlafen.“
Nachdem sie den ersten Schock verarbeitet hatte, kamen die Fragen: Was würde der Brexit für Großbritannien bedeuten? Und was für sie persönlich? Eileen wurde in England geboren, ihre Mutter kommt aus Nordirland, ihr Vater ist Engländer. Sie hat zehn Jahre lang in Nordirland gelebt, nach der Schule ist sie nach London gezogen. Sie sagt, sie habe sich immer eher als Britin denn als Europäerin verstanden. „Aber durch das Referendum habe ich sehr viel mehr darüber nachgedacht, welche Vorteile es hat, in der EU zu sein“, sagt sie. Sie denkt zum Beispiel an ihre beste Freundin, die in Dänemark lebt. An ihren Freund, der Deutscher ist. Würde es in Zukunft schwieriger werden, in diese Länder zu reisen? Oder in einem anderen Land zu leben und zu arbeiten?
Die Regierung hat die Mitarbeiter in den Pass-Stellen aufgestockt, weil sie mit der Arbeit nicht mehr hinterher kamen
Eileen wusste schon länger, dass sie neben ihrem britischen auch einen irischen Pass hätte haben können. Alle Briten, die in Nordirland geboren wurden oder ein Eltern- oder Großelternteil haben, das dort zur Welt gekommen ist, haben automatisch ein Anrecht darauf. Das trifft auf etwa zehn Prozent der 66 Millionen Briten zu und ist im Karfreitagsabkommen festgeschrieben, mit dem am 10. April 1998 der Nordirlandkonflikt beendet wurde. Bisher hatte Eileen allerdings keinen Grund gesehen, dieses Recht in Anspruch zu nehmen. Nach dem Referendum war es plötzlich Thema, auch viele von Eileens Bekannten und Freunden sprachen darüber. Im vergangenen Jahr fragte sie beim irischen Außen- und Handelsministerium schließlich die nötigen Formulare an, besorgte die Geburtsurkunde ihrer Mutter und stellte einen Antrag.
Damit ist sie eine von mehr als 183 000 Briten, die das im Jahr 2018 gemacht haben. Knapp die Hälfte davon lebt in Nordirland. Das sind viele Anträge, wenn man bedenkt, dass Nordirland insgesamt nur 1,8 Millionen Einwohner hat. Oder dass 2015, also im Jahr vor dem Referendum, nur rund 46 000 Briten einen irischen Pass beantragt haben. Seitdem sind die Zahlen kontinuierlich gestiegen und erreichten Anfang 2019, als der für den 29. März geplante „Brexit Day“ näherrückte, einen neuen Höhepunkt: Von Januar bis März beantragten mehr als 87 000 Briten einen irischen Pass.
Das irische Außenministerium begründet den Anstieg damit, dass immer mehr Iren international reisten und es außerdem einen Trend zur „frühzeitigen Erneuerung“ des Reisepasses gebe. Von einem „Brexit-Sprung“ spricht offiziell niemand, obwohl er offensichtlich ist. Die irische Regierung hat vor einigen Monaten die Mitarbeiter in den für Pässe zuständigen Stellen aufgestockt, weil sie mit der Arbeit nicht mehr hinterher kamen. In einigen nordirischen Postfilialen gingen Ende Januar die Dokumente für den Pass-Antrag aus, die dort sonst immer vorrätig sind. Ein Post-Mitarbeiter sagte einem BBC-Reporter, die aktuelle Nachfrage sei „verrückt“.
Auch wenn die britisch-irischen Beziehungen nach wie vor gut sind: Das Referendum hat sie belastet
Es ist eine tragische Ironie, dass es für so viele Briten so leicht ist, einen irischen Pass zu beantragen. Es zeigt, wie eng die beiden Staaten miteinander verbunden sind – und trotzdem soll sie bald eine EU-Außengrenze trennen. Etain Tannam, Professorin für International Peace Studies am Trinity College in Dublin, betont ebenfalls, dass die Gemeinsamkeiten von Iren und Briten überwögen, in der Kultur, der Sprache, der Wirtschaft. Die Verbindungen seien auch nach wie vor gut und eng. „Das britische Referendum hatte keine großen Auswirkungen auf das Verhältnis der irischen Bevölkerung zu Großbritannien“, sagt sie. Tannam glaubt, dass das auch ein Verdienst der irischen Regierung ist, die die Situation gut gemanagt und sich weiterhin um positive Beziehungen bemüht habe. Nur die Medien bedienten teils das gegenteilige Narrativ: „Nicht nur in der Boulevard-, sondern auch in der seriösen Presse wurden und werden zum Teil Stereotype verbreitet. Da geht es dann um die Briten, die zurück zum Empire wollen, oder um die ,britische Identitätskrise’.“
Aber auch, wenn die britisch-irischen Beziehungen nach wie vor gut sind, belastet hat das Referendum sie doch. Das hat auch mit der sehr speziellen Situation auf der irischen Insel zu tun, wo der Frieden noch jung ist. Wenn es durch den Brexit eine „harte“ Grenze zwischen Nordirland und der Republik im Süden geben sollte, befürchten viele ein Wiederaufflammen des Nordirlandkonflikts. „Die Beziehungen sind nicht so schlecht wie während der Hungerstreiks in den Siebzigerjahren, aber so schlecht wie heute waren sie seit den Achtzigern nicht mehr“, sagt Etain Tannam. Ab den Neunzigern ging es durch den Friedensprozess deutlich aufwärts, ein Höhepunkt war dann der Besuch der Queen im Jahr 2011 – der erste Besuch der britischen Krone in Irland seit 100 Jahren.
Eileen hat lange in Nordirland gelebt. Die irische Grenzfrage ist ihr besonders wichtig
Tannam sagt aber auch, dass kürzlich wieder ein positives Zeichen gesetzt wurde: Am 8. Mai haben die britische und die irische Regierung ein Memorandum unterschrieben, mit dem sie sich verpflichten, die schon 1923 – also lange, bevor es die EU gab – beschlossene „Common Travel Area“ (CTA) zwischen Irland und Nordirland aufrecht zu erhalten. Die CTA ist eine nicht-bindende Vereinbarung, die ermöglicht, dass sich Briten und Iren auf den britischen Inseln ohne Grenzkontrollen bewegen und niederlassen können. Wenn die CTA formalisiert würde, dann könnte das auch nach dem Brexit so bleiben, hofft Tannam. „Aber am Ende werden die Auswirkungen auf die Grenze und den Friedensprozess davon abhängen, welchen Brexit-Deal wir bekommen.“
Auch Eileen, die lange in Nordirland gelebt hat, ist die irische Grenzfrage besonders wichtig. „54 Prozent der Nordiren haben für ,Remain’ gestimmt, und werden jetzt trotzdem aus der EU gezerrt“, sagt sie. „Das wird das Leben vieler Menschen verschlechtern, die regelmäßig die Grenze überqueren müssen. Aber es macht mir auch Sorgen, weil es zu Aufständen und Terror führen könnte.“
Eileens Kinder hätten ebenfalls ein Anrecht auf einen irischen Pass, ihre Enkelkinder allerdings nicht mehr. Vielleicht werden die nur noch einen britischen Pass haben, blau, ohne EU-Schriftzug. „Diesen britischen Pass von früher zurückzubekommen, war eine große Sache im Referendum“, sat Eileen und dass das „just silly“ gewesen sei. Für die „Leaver“ steht der blaue Pass symbolisch für den Brexit, für die zurückgewonnene Souveränität Großbritanniens, für das laute „Wir machen unser eigenes Ding, EU!“. Eileen kann das nicht verstehen. „Ich halte Zusammenarbeit ganz generell für die bessere Lösung“, sagt sie. „Es unbedingt alleine versuchen zu wollen, das finde ich einfach albern.“