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„Ich hätte nie gedacht, dass ich so viel Leid überhaupt ertragen kann“

Die Lage in Bosnien ist für Geflüchtete bedrohlich.
Foto: Armin Durgut/PIXSELL

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„Es kann einfach nicht sein, dass wir Menschen hier erfrieren und verhungern lassen. Und das direkt vor der Haustür der EU.“ So fasst Anja ihre Fassungslosigkeit über das zusammen, was derzeit in Bosnien an der Grenze zu Kroatien passiert. Die 25-jährige Schweizerin ist Pressesprecherin von „No Name Kitchen“ (NNK), einer spanischen NGO, die Geflüchtete mit Nahrung, Kleidung und Schlafsäcken versorgt und ihre Situation nach außen kommuniziert. Ihren vollen Namen möchte sie nicht nennen, da die NGO mit den bosnischen Behörden in Schwierigkeiten geraten könnte. Anja befindet sich mit ihrem Team in der Stadt Bihać, die im Nordwesten Bosniens direkt an der kroatischen Grenze und damit auch an der Grenze zur EU liegt. 

Tausende Migrant*innen sitzen derzeit in Bosnien-Herzegowina fest und hoffen, von dort aus über die nahegelegene Grenze Kroatiens in die EU zu gelangen. Die Lage in dem Land ist katastrophal für Frauen, Kinder und Männer, die vor allem aus Afghanistan, Pakistan, Marokko, dem Iran und Irak dorthin geflüchtet sind. Viele leben rund um die Stadt Bihać in provisorischen Notunterkünften im Wald oder in verlassenen Gebäuden, ohne Schutz vor der Kälte. „Du kannst nicht über die Straßen laufen, ohne dass du Menschen frierend in Decken sitzen siehst“, erzählt Anja. Die Temperaturen sinken dort derzeit nachts unter den Gefrierpunkt und erreichen tagsüber selten mehr als 10 Grad.

Die meisten der Geflüchteten befinden sich im Camp Lipa, das auf dem Gebiet der Gemeinde Bihać liegt und wo sich die Lage seit der Eröffnung im Frühjahr 2020 immer weiter verschlechtert hat. Das Lager ist für männliche Geflüchtete ausgerichtet. Hunderte hatten von Beginn an keinen Zugang zu Strom und fließendem Wasser.

Die Regierung weigerte sich, das Lager winterfest zu machen, weshalb es im Dezember 2020 von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geräumt werden sollte. Vor der Räumung des Camps wurde am 23. Dezember ein Brand ausgelöst. Die IOM vermutet, dass die Bewohner das Feuer gelegt haben, möglicherweise um in ihrer Verzweiflung gegen die Umstände zu protestieren. Die genaue Brandursache ist aber nicht klar. Seitdem ist das Camp unbewohnbar und die etwa 1000 Bewohner des ausgebrannten Lagers hatten vorerst gar keine Unterkunft mehr. 

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Faizan, 18 baute sich selbst ein Zelt aus Plastikplanen, nachdem das Lager in Lipa nichtmehr bewohnbar war.

Foto: privat

Alternative Unterbringungspläne scheiterten, etwa die Verlegung in eine ehemalige Armeekaserne in der Kleinstadt Konjic, 45 Kilometer entfernt von Sarajevo. Die Busse, die die Bewohner aus Lipa dorthin bringen sollten, blieben aufgrund von Protesten der dortigen Anwohner*innen und der lokalen Politik nahe des abgebrannten Lagers stehen, und fuhren nicht. Nach etwa 30 Stunden mussten alle wieder aussteigen. Auch eine von der EU-Kommission mitfinanzierte winterfeste Einrichtung für 1500 Menschen, nur wenige Kilometer vom Camp Lipa entfernt, steht aktuell leer. Die Behörden scheinen einen entsprechenden Beschluss, dort Geflüchtete unterzubringen, zu ignorieren.

„Es gab keine Möglichkeit, mich warm zu halten“

Anja ist aufgebracht darüber, wie lange man die Menschen ohne Erklärung warten ließ: „Das Schlimmste ist, dass die Menschen behandelt werden, als wären sie weniger oder gar nichts wert.“

Die bosnische Armee hat inzwischen beheizte Zelte aufgebaut, in die die ersten einziehen konnten. So zum Beispiel Faizan. Er ist 18 Jahre alt und aus Afghanistan geflüchtet. Im Nachrichtenaustausch über Whatsapp mit jetzt erzählt er, dass er nach dem Brand keinen festen Platz zum Schlafen mehr hatte: „Ich habe mir ein Zelt aus Plastikplanen gebaut, um mich vor Regen und Schnee schützen zu können. Doch es gab keine Möglichkeit, mich warm zu halten.“ Faizan konnte inzwischen in eines der Armee-Zelte ziehen, doch das gilt nicht für alle. Hunderte Menschen müssen noch außerhalb der Zelte ausharren.

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Das Armee-Zelt, in dem Faizan schließlich mit mehreren anderen Geflüchteten untergebracht wurde.

Foto: privat

Wali etwa wohnt mit ungefähr 70 anderen Menschen seit drei Monaten in einem alten Gebäude in der Stadt Bihać. Er ist 24 Jahre alt und kommt aus Pakistan. Im Interview mit jetzt erzählt er über Whatsapp: „Unsere Situation ist sehr schlecht. Ich habe gehört, dass es ein anderes Camp in der Stadt gibt. Doch es hat geschlossen, ich weiß nicht warum. Deshalb müssen wir hier bleiben.“ Wali erzählt, dass sie in dem Gebäude kein Licht, kein Wasser, keine Elektrizität und keine Toiletten hätten. Sie seien sehr abhängig von Unterstützung von außen. Ein paar Menschen bringen ab und zu beispielsweise Essen, Decken, Jacken und Schuhe.

Zu diesen Menschen zählen unter anderem Helfer*innen des Roten Kreuzes, von SOS Bihać sowie Anja und die anderen Mitarbeiter*innen von No Name Kitchen. „In Bosnien bestehen wir zurzeit aus zwei Teams zu je fünf Personen. Einmal in Bihać und einmal in Velika Kladuša“, erklärt Anja. Jedes Mitglied hat eine Aufgabe, etwa im Logistik-, Gesundheits- oder Kommunikationsbereich. „Diese Arbeit ist ein Full Time Job, den wir gerade als Freiwillige über Spenden finanzieren.“ 2017 startete NNK in der serbischen Hauptstadt Belgrad; 2018 machte die NGO Velika Kladuša in Bosnien-Herzegowina zum nächsten Standort, eine Kleinstadt, die etwa 60 Kilometer nördlich von Bihać liegt. Die NGO hat weitere Standorte in Patras, Griechenland, in Šid, Serbien, und im spanischen Mérida. 

Nicht nur die Kälte, auch die Pandemie erschwert die Situation

Anja ist seit Dezember 2020 bei NNK. Sie ist Mitglied der kleinen aktivistischen Organisation Migrant Solidarity Network und über Kontakte zu NNK gekommen. „Ich wollte an einen Ort auf der Balkanroute reisen, um viel Kontakt mit den Menschen zu haben und ihre Situation wirklich verstehen zu können.“ Die Schweizerin wollte herausfinden, wie sie am effektivsten helfen kann. Dabei habe sie gemerkt, dass die politische Kommunikation von NNK ein entscheidender Hebel sei, um den geflüchteten Menschen zu helfen. 

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Foto: Privat
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In diesem alten Gebäude muss Wali mit anderen Geflüchteten außerhalb von Bihać Schutz suchen.

Foto: privat
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Hilfsorganisationen bringen Wali und den anderen Bewohnern des Gebäudes Decken und Kleidung.

Foto: privat
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Die Nächte werden derzeit allerdings immer kälter.

Foto: Privat
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Die einzige Heiz-Möglichkeit ist selbst Feuer zu machen.

Foto: Privat

Die Pandemie schränkt die Arbeit der NGO immer wieder ein. „Zur Zeit ist das ganze Team beispielsweise in Quarantäne, nachdem eine Person Symptome hatte“, erzählt Anja. Das Team ließ sich testen, gleich mehrere Mitglieder waren Corona-positiv. Die Arbeit auszusetzen, sei nicht einfach: „Es ist ein Spagat mit der Verantwortung, denn viele Geflüchtete sagen uns: ‚Kommt doch trotzdem, wir brauchen euch, wir sind jung und stark, Corona macht uns nichts.‘“ Die Menschen in den Lagern haben allerdings keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung und können nötige Hygienemaßnahmen kaum einhalten. Steckt sich eine Person an, kann sich das Virus rasend schnell verbreiten.

Anja und ihre Kolleg*innen versuchen, so viel Nähe zu den Geflüchteten herzustellen, wie es die Corona-Maßnahmen erlauben. „Auch wenn wir eine Maske tragen und aufpassen, ist es ein persönlicher Kontakt. Sie spüren: Da sind Menschen, die uns unterstützen.“ Oft erzählten Geflüchtete ihnen, sie hätten sich auf der Flucht schon daran gewöhnt, dass man sie gar nicht wirklich wahrnehme. Gerade am Anfang habe Anja das sehr traurig gemacht. Auch wenn es wichtig sei, darüber zu sprechen, wie das Team die Situation aushält, seien es am Ende aber nicht die Helfenden, die sich in der schlimmsten Situation befinden.

Die Hilfsaktionen müssen zum Teil im Geheimen ablaufen

„Durch die Kriminalisierung dieser Menschen wird auch unsere Arbeit als kriminell angesehen und deshalb erschwert“, sagt Anja. Zwar scheint keine gesetzliche Grundlage zu existieren, die es dem Kanton Una-Sana, in dem die Stadt Bihać liegt, erlaubt, Hilfe für Geflüchtete zu kriminalisieren. Doch immer mehr Medienberichte und Erzählungen von Helfer*innen zeigen, dass illegale Verbote durchgesetzt werden und die freiwillige Arbeit somit kriminalisiert wird. Auch drei Helfer*innen von NNK mussten bereits jeweils 50 Euro Strafe zahlen und für zwei Tage das Land verlassen, weil die Polizei sie beim Verteilen von Decken an Geflüchtete gesehen hatte. Damit das nicht wieder passiert, bleiben Anja und ihr Team so unauffällig wie möglich. „Wenn wir Essen und Kleidung verteilen, schicken wir den Geflüchteten vorher die Location und die Uhrzeit, das muss wirklich schnell gehen.“ Die Übergabe findet dann im Dunkeln statt. 

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Wali und andere Bewohner des verlassenen Gebäudes versuchen selbst Tee und Brot zuzubereiten.

Foto: privat
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In dem Gebäude, in dem Wali lebt gibt es keinen Strom, kein fließendes Wasser und keine richtigen Toiletten.

Foto: privat

Die Lage für die Geflüchteten in Bosnien scheint aussichtslos und es stellt sich die Frage, weshalb keine Hilfe von außerhalb kommt. Dabei existiert diese sogar. Bosnien hat seit 2018 von der EU mehr als 85 Millionen Euro erhalten, um die Flüchtlingskrise zu bewältigen. Laut Medienberichten hat die EU weitere Unterstützung zugesagt und bis April soll die bosnische Regierung ein neues Lager in Lipa errichten.

Die bisherigen Hilfszahlungen verschwanden nach Medienberichten allerdings teilweise einfach. Die EU-Flüchtlingspolitik sorgt seit Jahren für Konflikte, nur in einem Punkt scheinen sich die 27 Mitgliedsstaaten einig zu sein: Die Außengrenzen sollen unüberwindbar sein und abschrecken. Durch diese Methode wird das Problem allerdings auf die Nicht-EU-Staaten wie etwa Bosnien geschoben, die an der Außengrenze liegen. Anja erklärt, dass die bosnische Regierung die Verantwortung wiederum auf die zuständigen Behörden schiebe, die sich mit der Situation allein gelassen fühlten.

Besonders der Kanton Una-Sana ist mit der Situation überfordert. Hier hoffen viele Geflüchtete darauf, über die Grenze nach Kroatien zu gelangen. Diejenigen, die es versuchen, werden oftmals gewaltsam von der kroatischen Polizei zurückgewiesen. Auch Faizan und Wali haben diese sogenannten Pushbacks erlebt und berichten, dass die Menschen, welche die Grenze überqueren wollten, von der Polizei geschlagen wurden. „Wenn sie einen erwischen, nehmen sie einem alles weg. Handys, Geld, Jacken, Taschen und Schuhe“, sagt Wali. Faizan erzählt, dass die Polizei zur Abschreckung auch Hunde dabei hat.

Aus Anjas Sicht bringt die Abschottungspolitik der EU überhaupt nichts. „Es ist nicht so, dass diese Menschen zu Hause sitzen und sich denken: ‚Okay, jetzt hab ich Bock, da mal rauszugehen aus meinem Land und nach Europa zu gehen.‘“ Vielmehr lasse ihnen die Not in ihren Heimatländern keine andere Wahl. „Diese Menschen entscheiden sich häufig dazu, ihre Familie zurückzulassen und eine jahrelange Flucht auf sich zu nehmen. Und selbst wenn sie diese Entscheidung nicht aus Not treffen würden, wäre das kein Grund, die Menschen so leiden zu lassen.“

„Ich kann nur sagen, wie schwer es ist, hier in diesem alten Gebäude zu leben“

Auch die Bevölkerung in Orten wie Bihać fühlt sich im Stich gelassen. Anfangs hätten die Anwohner*innen noch mehr Energie gehabt, die Geflüchteten zu unterstützen, sagt Anja. „Die bosnische Bevölkerung ist mittlerweile einfach müde.“ Die Ausgrenzung der Geflüchteten sei zum Teil aber auch rassistisch motiviert. „Es haben auch schon Einwohner versucht, uns Schmuggel zu unterstellen. Auch wenn eine Person schwer verletzt ist und ins Krankenhaus muss, gilt es als Schmuggel, sie im Auto mitzunehmen“, so Anja. Da sie und ihr Team aber vor allem nachts arbeiten und Einwohner*innen somit kaum etwas von ihrer Arbeit mitbekommen, erleben sie abgesehen von diesem Vorwurf kaum Behinderungen von Seiten der Anwohner*innen. Anders sieht es bei ihrem Standort im serbischen Šid aus, wo laut der NGO beispielsweise Trucks der Hilfsorganisation demoliert werden.

„Zu sehen, dass nichts gemacht wird, dass die Verantwortung der politischen Akteure zu anderen geschoben wird und letztendlich die Personen darunter leiden, die eh schon am verletzlichsten sind, ist schwierig auszuhalten“, sagt Anja. Sie betont, dass ihre Hilfe immer nur Symptombekämpfung sein könne und es dringend langfristige Lösungen brauche. Auch Wali betont, dass seine jetzige Situation auf Dauer nicht auszuhalten sei: „Ich kann nur sagen, wie schwer es ist, hier in diesem alten Gebäude zu leben. Zuletzt kam Schneefall hinzu und uns ist sehr kalt.“ Um selbst Lebensmittel zu kaufen, fehle ihm wie vielen anderen Geflüchteten das Geld. Wali schreibt, dass er gerne irgendwo arbeiten würde, doch dass er dafür keine Möglichkeit finden konnte.

Trotz dieser menschenunwürdigen Situation geben viele die Hoffnung nicht auf. Anja sagt, sie habe von keiner geflüchteten Person gehört, dass sie die Flucht bereue. „Aber letztens meinte jemand: ‚Ich hätte nie gedacht, dass ich so viel Leid überhaupt ertragen kann.‘ Würden die Menschen nicht so sehr nach vorne schauen, würden sie das gar nicht überleben, glaube ich.“

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