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Das Leben afghanischer Heimkehrer

Foto: Tahmina Saleem

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Oh, nein. Es klopft an der Tür. Am Sonntag um sieben Uhr morgens? Ich habe jeden Tag gebetet und gehofft, dieser Augenblick würde niemals kommen. Aber sie sind da. Ich sehe sie durch mein Schlafzimmerfenster. In Uniform und zu fünft. Mein österreichischer Stiefvater Christoph hat ihnen die Türe geöffnet. Soll ich weglaufen? Vielleicht wollen sie mich gar nicht nach Kabul abschieben? Eine Polizistin hat Tränen in den Augen und tröstet Christoph. Er schleicht daraufhin nach oben in mein Zimmer. Er nimmt mich in seine Arme und sagt schluchzend: „Sie sind da.“ 

Meine ganze Welt bricht in sich zusammen. Der Tag ist gekommen. Ich werde „nach Hause“ abgeschoben, ein Zuhause, das ich niemals gesehen habe. Ich packe meinen kleinen Rucksack mit zwei T-Shirts und Zahnbürste. Ob ich die Schultasche mitnehmen soll? Lieber nicht, ich komme ja bald zurück. Sie können mich nicht abschieben, die Polizei irrt sich bestimmt. 

Vor dem Haus steige ich schnell in den Kombi, die Blicke der Polizisten bohren sich in meinen Rücken. Ich kenne sie alle von Feuerwehrfesten und Kirtagen. Ich kann Christoph nicht in die Augen schauen, sonst muss ich in Tränen ausbrechen. Ich verschränke die Arme über meinen Kopf und heule erst recht wie ein Baby. Letzter Blick zurück und ich bin weg.

Ibrahim Adeli wurde im April 2018 aus Österreich abgeschoben. Das Schicksal des jungen Afghanen ist kein Einzelfall. Alleine im Jahr 2017 wurden 703 afghanische Staatsbürger aus Österreich in die Hauptstadt Kabul abgeschoben. Damit rangieren die Afghanen nach Nigeria, Serbien und dem Irak auf Platz 4. In kein anderes Land sind die „Außerlandesbringungen“, wie es im Beamtenjargon heißt, so umstritten wie nach Afghanistan. Seit 40 Jahren herrschen dort bürgerkriegsähnliche Zustände. Taliban, verfeindete Klans, Privat-Milizen und neuerdings der „IS“ kämpfen um ihren Machteinfluss. Alleine letztes Jahr starben in bewaffneten Auseinandersetzungen 3.438 Zivilisten.

Piep, piep. Das Anschnallzeichen leuchtet auf. Ibrahims Sondermaschine beginnt den Sinkflug nach Kabul. So schnell geht das, denkt sich der 20-Jährige. Er riskiert sein Leben, um nach Österreich zu kommen,  sieht Leichen von seinesgleichen am Straßenrand, die ihren Wunsch nach Frieden mit dem Tod bezahlen mussten. Er überquert die Ägäis in einem Schlauchboot. Macht tagelang kein Auge zu. Die ganze Flucht dauert drei Monate und dann soll alles nach sieben Stunden Flugzeit nach Kabul wie weggeblasen sein? Abgeschoben in eine Heimat, deren Boden er niemals betreten hat. In eine Stadt, die er nur aus den Nachrichten kannte.

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Imbrahims Flucht dauert drei Monate – und dann soll nach sieben Stunden Flugzeit nach Kabul alles wie weggeblasen sein?

Foto: Tahmina Saleem

Ibrahims Familie flüchtete vor seiner Geburt in den Iran, wie so viele Hazara. Das aus der Mongolei stammende Volk mit schiitischem Glauben wird in Afghanistan verfolgt. Rund eine Million Hazara leben alleine im Iran. Die Familie erfährt nach der Flucht keine Erlösung, im Gegenteil. Afghanen werden als Bürger zweiter Klasse im Iran behandelt, sie dürfen in bestimmte Provinzen gar nicht einreisen und müssen als Tagelöhner überleben. Ibrahims Vater will, dass sein Sohn als Kind arbeiten geht. Der junge Mann mit rotgefärbten Haaren, Hornbrille und „Babyface“ möchte lieber in die Schule gehen. Ibrahim geht von zu Hause weg und spart sich das Geld für die Schlepper zusammen, die ihn im Alter von 16 Jahren nach Europa schmuggeln. Als ich mit Ibrahim über Whatsapp spreche, bezeichnet er Christoph Bösch als seinen Vater. Kein Wort zum leiblichen Vater im Iran.

In Kabul streift Wahid Nazari mit seinem Blick entlang der „Blast-Walls“, die das Stadtbild auf unrühmliche Art prägen. Obwohl die lokalen Behörden kürzlich eine Initiative starteten, die Schutzwände vor Botschaften, Hotels oder Universitäten niederzureißen, regt sich Widerstand. Zu groß ist momentan die Gefahr, Opfer eines Bombenanschlags in Kabul zu werden. Da nimmt man die Tunneloptik gerne in Kauf. „Safety first“ ist die Devise hier und „stay safe“ wird zu meiner Abschiedsfloskel, nachdem ich mit Ibrahim und Wahid gechattet habe.

Gepanzerte Fahrzeuge von Warlords mit Maschinengewehren auf der Ladefläche rasen vorbei

Wahid konnte sich heute ein Taxi leisten, um in die Arbeit zu fahren. Der Fahrer seines Mini-Vans kämpft sich fluchend durch das chaotische Straßengewühl Kabuls. Er muss die ganze Zeit auf der Hut sein, keine Straßenkinder unter seinen Rädern zu begraben. Immer wieder strecken sie ihre winzigen, von Ruß verschmutzten Hände durch das Autofenster und bieten gekochte Eier für ein paar „Afghanis“ an – die offizielle Währung in Afghanistan. Viele von ihnen sind Waisen, haben keine Verwandten und leben verwahrlost in Papphäusern am Straßenrand. Manche von ihnen putzen Schuhe. Manche harren in Schubkarren aus und warten auf jemanden, der ihnen für ein paar Stunden Arbeit anbietet. Dazwischen rasen gepanzerte Fahrzeuge von Warlords mit Maschinengewehren auf der Ladefläche an Wahids Taxi vorbei. Die grimmigen Gesichter der Bodyguards in den Luxuskarren sprechen eine deutliche Sprache: „Wenn du überleben willst, dann komm uns nicht in die Quere.“

Wahid wurde im Oktober 2017 aus Österreich nach Afghanistan abgeschoben. Eigentlich ging er freiwillig, was hätte er auch tun sollen? Ibrahims Abschiedsdrama wollte er sich ersparen. Der 22-Jährige flüchtete zwei Jahre zuvor nach Österreich, weil er sich als konvertierter Christ nicht mehr sicher in seiner Heimat fühlte. Er denkt gerne an die Zeit im Alpenland zurück. Das Chillen mit seinen österreichischen Freunden im Schwimmbad. Oder das Flanieren auf der Mariahilferstraße, in der Nähe besuchte er die Schule. Er sehnt sich nach dieser Leichtigkeit des Lebens, wenn er wie jetzt an einem Ort vorbeifährt, wo sich tags zuvor ein IS-Attentäter in die Luft gesprengt hat. 

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„Wenn ich heute aus dem Haus gehe, weiß ich nie, ob ich lebend zurückkommen werde“, sagt Wahid.

Foto: Tahmina Saleem

Wahid ist IT-Techniker. Er arbeitet für einen der größten Mobilfunkanbieter des Landes und richtet in den Shops den Internetzugang ein. Man möchte meinen, es gehe ihm gut, er lebt mit seinen Eltern und seiner Frau unter einem Dach. „Erst letzten Monat habe ich geheiratet“, sagt er mir am Telefon. Obwohl Wahid gut verdient, klingt seine Stimme nicht nach Euphorie. Sie ist bedrückt, wenn er über die Lebenszustände in der afghanischen Hauptstadt berichtet: „Wenn ich heute aus dem Haus gehe, weiß ich nie, ob ich lebend zurückkommen werde“, spricht er aus der Seele viele Kabuler. „Ich habe Angst, dass Taliban oder Daesh (arabische Bezeichnung für „Islamischer Staat“, Anm. d. Red.) eine Bombe zünden und mich töten“, so Wahid. Er erzählt von einem ehemaligen Schulfreund, der ihn per Facebook Morddrohungen geschickt hat. Die Konversion zum Christentum war dem glühenden IS-Anhänger wohl ein Dorn im Auge. 

Taliban sehen in den Rückkehrern Verräter

Das ist ein Problem vieler Rückkehrer, die während ihres Aufenthalts in Österreich dem westlichen Lebensstil frönten. Da kann schon mal ein Foto mit Bier in der Hand auf dem Donauinselfest zum Ausschluss aus dem Familienverbund führen. Das ist gleichbedeutend mit einem sozialen Abstieg, da in Afghanistan die Familie eine übergeordnete Rolle im Alltag des Einzelnen einnimmt. Das geht so weit, dass ein Mädchen, welches von ihrem Vater zum Taekwondo-Training geschickt wird, dort plötzlich nicht mehr erscheint. Grund: Ein Großonkel sieht seine Nichte im Haushalt und nicht in Sporthallen, wo sie möglicherweise fremden Blicken ausgesetzt ist. Ein Rollenverständnis, dass in Afghanistan als völlig normal betrachtet wird. 

Zu spezifischen Gefahren, denen Rückkehrer ausgesetzt sind, stellt die NGO „Pro Asyl“ unmissverständlich klar: „Rückkehrer sind für die Einheimischen besonders gut erkennbar an anderer Kleidung, einem Dialekt oder einer anderen Sprache etc. Vor allem fallen Rückkehrer schon auf, wenn sie nicht zu Familien und Klans vor Ort gehören und damit per se einen Fremdkörper am neuen Ort bilden“, so der im August 2017 veröffentlichte Bericht der NGO zur Lagebeurteilung in Afghanistan. Taliban sehen in den „Returnees“ Verräter, die „entweder ihre religiöse Pflichten verletzen oder sich den Taliban entzogen zu haben“, heißt es weiter im Bericht.

„Der Staat schiebt einen perfekt integrierten Mann ab“, sagt Ibrahims Stiefvater 

Zurück zu Ibrahim. Mittlerweile sind zwei Monate seit seiner Rückkehr in die „Hölle“, wie er seine neue Heimat nennt, vergangen. Er starrt stundenlang Löcher in die kahle Wand seines Hotelzimmers und verlässt fast nie die Unterkunft. Er hat keine Freunde, keine Bekannten, er kennt niemanden, wie er betont. Auf die Frage, welche Musik er am liebsten höre, antwortet er mir mit „traurige Musik“. Wenn ich wissen will, wie es ihm geht, schreibt er: „Wenn ich aus dem Fenster hinaussehe, frage ich mich, was ich in diesem Land verloren habe?“

Dabei hatte Ibrahim Glück im Unglück. Durch die Unterstützung seines Stiefvaters und Tankstellenunternehmers Christoph Bösch kann er die Rechnung der Zahnbehandlung bezahlen. Im Wartezimmer sitzend zappelt er mit seinen Füßen und wünscht sich, möglichst schnell in sein Hotelzimmer zurückzukehren, das er nur dann verlässt, wenn er wirklich muss. Er streicht über den Bildschirm seines Smartphones und schwelgt in Erinnerungen. Ein Foto zeigt ihn blödelnd bei einem Optiker in Wien. Auf dem nächsten Foto ist der junge Hazara mit weichen Gesichtszügen zusammen mit seinem Adoptivbruder zu sehen. Auf einem anderen Foto sieht man die ganze Familie lachend vor einem Spanferkel.

Christoph Bösch erinnert sich: „Ibrahim hat sofort mit den westlichen Werten kokettiert. Ich bin oft mit ihm zusammengesessen und wir haben über Gott und die Welt philosophiert.“ Der gebürtige Vorarlberger betont immer wieder, wie viel er von dem jungen Ibrahim lernen konnte und erhebt schwere Vorwürfe gegen die österreichischen Behörden: „Der österreichische Staat schiebt einen perfekt integrierten Mann ab, wohlwissend, dass ihm als Hazara möglicherweise Tod oder Versklavung blühen“, sagt Bösch. „Ich habe dem Staat angeboten, Ibrahim anzustellen, seine Ausbildung zu zahlen und ein Sparbuch mit 12.000 Euro für ihn angelegt. Er wäre niemandem auf der Tasche gelegen“, hadert Bösch noch heute mit der Abschiebung.

„Unser Land kennt keinen Frieden, nur Krieg“

Laut UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) starben in Afghanistan 2017 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 3438 Zivilisten, weitere 7015 wurden verwundet. Auch der Global Peace Index 2018 stellt Afghanistan ein vernichtendes Zeugnis aus. Unter den 163 aufgezeichneten Ländern ist nur Syrien schlechter positioniert als Afghanistan. Davor rangieren z.B. Palästina auf Rang 141 oder Myanmar auf 122, wahrlich keine Horte des Friedens. Österreich belegt den dritten Platz und muss sich nur Neuseeland und Island geschlagen geben.

Wahid plant trotzdem keinen neuerlichen Fluchtversuch, weil ihn die Toten aus der Berichterstattung sowie die rigorose EU-Politik abschrecken. Er sagt mir immer wieder am Telefon, als würde er darauf bestehen, dass es abgedruckt wird: „Unser Land kennt keinen Frieden, nur Krieg.“ Dann bricht die Verbindung ab, in meinem Kopf spielen sich Szenen ab, die ich sofort verdrängen möchte. Es wird ihm schon nichts passiert sein, denke ich mir, und rufe Ibrahim an.

Ibrahim erzählt mir von den wenigen schönen Momenten, in denen er das Grauen auf der Straße für kurze Zeit vergisst. Dann, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet und der Muezzin zum Abendgebet ruft, die Vögel um die Wette zwitschern und für kurze Zeit die Menschen Kabuls von Frieden träumen. Bis dann plötzlich eine Autobombe detoniert. Ibrahim schreckt auf. Immerhin konnte er kurz in der Illusion leben, Kabul sei eine sichere Stadt und kein Vorhof zur Hölle. Er tröstet sich mit einem weit verbreiteten afghanischen Sprichwort: „It‘s good till it’s not.“

*Dieser Text erschien zuerst bei biber.at. Der Autor Amar Rajković schreibt  häufig über österreichische Innenpolitik und Islam in Europa. Die Fotografin  Tahmina Salim lehrt Fotografie an der Kabul Universität. Ihre Arbeit beschäftigt sich vorwiegend mit Frauen und deren Kampf um Anerkennung und Normalität in Afghanistan.

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