- • Startseite
- • Politik
-
•
Abi und Corona: Wie die Zeit nach dem Abitur für Schülerinnen in Rheinland-Pfalz aussieht
Als ihre Mutter nach ihr ruft, „Post für dich“, weiß Lea es schon: Ihr Abizeugnis ist gekommen. Wie bei ihren Freundinnen auch schon. Also läuft sie in ihren Sportklamotten ins Wohnzimmer und macht den Brief auf: „Herzlichen Glückwunsch. Sie haben die allgemeine Hochschulreife erworben. Abschlussnote 1,6.“ Das Zeugnis schaut sich Lea kurz an, legt es zur Seite und geht wieder nach oben. Das war er also, der feierliche Akt? Der Abschluss, das erste große Kapitel im Leben, die Schulzeit, erfolgreich gemeistert zu haben?
Wie der 18-jährigen Lea aus Kaifenheim in der Eifel ging es vor einem Monat 15 000 Abiturient*innen in Rheinland-Pfalz. Sie zogen die Zeugnisse daheim aus dem Briefkasten, statt sie stolz auf einer Bühne in Anzug und Abendkleid überreicht zu bekommen. Abistreich, Abifeier, Abiparty – das alles ist ausgefallen und genauso wird es wohl für alle anderen Abiturient*innen in Deutschland auch kommen, denn Großveranstaltungen bleiben im Sommer wegen der Corona-Pandemie bis zum 31. August verboten.
Theresa in ihrem Abi-Kleid daheim im Garten: „Meine Eltern haben mir das extra gekauft. Ich glaube, es hat 300 Euro gekostet. Da wollte ich es unbedingt trotz allem anziehen.“
Fest steht aber deutschlandweit auch: Die Abiturprüfungen finden statt. Abi schreiben, das geht nur, wenn auch die Schulen offen sind – zumindest teilweise offen. Spätestens ab dem 4. Mai soll der deutsche Schulalltag schrittweise wieder losgehen, gaben die die Ministerpräsident*innen der jeweiligen deutschen Bundesländer Mitte April bekannt. Mit den Abschlussklassen beginnt es. Wie Unterricht mit Hygiene- und Schutzmaßnahmen funktionieren kann, wird gerade ausgearbeitet, stellenweise schon getestet.
Aber so ganz einig, wie es mit dem Schulunterricht weitergehen soll, sind sich die Bundesländer nicht. Es gibt Alleingänge: Nordrhein-Westfalen und Sachsen haben den Unterricht bereits aufgenommen, Bayern will es langsamer angehen. Die Regeln für Abiturprüfungen stellt jedes Bundesland selbst auf. Deshalb gab es bei vielen Schüler*innen die Hoffnung, auf ihre Landesregierungen Einfluss nehmen zu können. Es gab Petitionen für ein Durchschnittsabitur, aber am Ende hat alles nichts gebracht. Die Schüler*innen müssen zum Abi antreten.
Lea und ihre Mitschüler*innen vom Kurfürst-Balduin-Gymnasium in Münstermaifeld bei der Arbeit für den Abi-Wein.
Diese Diskussionen sind Lea erspart geblieben. Rheinland-Pfalz ist dem Abi-Chaos gerade noch so entkommen. Lea schrieb im Januar das schriftliche Abitur, Mitte März wurde sie mündlich in Erdkunde geprüft – zur Landwirtschaft in den USA und zur Atomkatastrophe in Fukushima musste sie Fragen beantworten. Das alles unter Corona-Bedingungen: zwei Meter Abstand halten, Tische desinfizieren, aufs Schulgelände durfte nur eine handvoll Prüflinge. Wer fertig war, musste das Gelände sofort wieder verlassen, erzählt Lea. „Das war ganz komisch, ich hab noch ein, zwei Leuten Tschüss gesagt, bin wieder heim gefahren und dachte, ja das war’s dann jetzt?“
Die Abizeitungen sind gedruckt, verstauben bei Lea daheim
Rheinland-Pfalz ist mit dem Abi immer so früh dran, so soll Abiturient*innen ermöglicht werden, schon im Sommersemester ein Studium zu beginnen. Aus Leas Stufe machen das nur die Wenigsten, man müsse sich schon während der Abiturphase bewerben, viele Studiengänge begännen sowieso erst im Herbst. Und, was bringt es Lea und den anderen dann, so früh fertig zu sein? Sie bekommen gerade nicht zu spüren, was man nach dem Abi eigentlich spüren sollte: Das erste mal im Leben selbst entscheiden, wie es weitergehen soll. Die erste große Freiheit. Erwachsenwerden. Das Ende der Schulzeit feiern.
Lea macht es traurig, dass das Kapitel Schule mit dem Zeugnis im Briefkasten geendet hat. Für die Abifeier hat ihre Stufe etwa 10 000 Euro gesammelt, einen eigenen Wein verkauft, den sie gemeinsam mit Schuleltern angebaut haben. Statt der Feier hat sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder Pizza bestellt und den Wein im Wohnzimmer getrunken. Zum jetzigen Zeitpunkt würde sie normalerweise mit 30 Freund*innen in den Niederlanden Party machen, danach im Sommer nach Mallorca reisen. Sie hat Angst, dass sich die Freundschaften verlieren und der Zusammenhalt der Stufe verblasst, jetzt, wo die gemeinschaftliche Freude bei jedem Zuhause einzeln verebbt.
An ihre Mitschüler*innen verteilt Lea die Abizeitung, 250 Stück. Weitere 250 Stück verstauben bei ihr daheim. Der große Schulverkauf ist ausgefallen. Aber auch Leas Plan für die finanzielle Unabhängigkeit hat sich geändert: Eigentlich wollte sie in einem Restaurant kellern. Das hat aber zu und ihre Chefin will, für den Fall, dass sie wieder öffnen darf, erst mal feste arbeiten lassen. Jetzt sucht Lea einen Job im Supermarkt oder in der Drogerie, da werden Leute gebraucht, sagt sie. Es ist eine Notlösungen, eine Alternativen, um die Zeit zu überbrücken, bis sie weiß: Was wird aus meiner Zukunft?
Geht Studieren gerade überhaupt?
Ähnlich wie Lea geht es Theresa, 18, aus Ulmen in der Eifel. In Tunesien wollte sie vier Monate als Kinderanimateurin in einem Club-Hotel arbeiten. „Jetzt animiere ich meine kleine Schwester“, meint sie. Mit ihr erledigt sie Hausaufgaben, fährt Inliner oder kocht für ihre Eltern, die abends aus ihrer Arztpraxis nach Hause kommen. Das ist okay für Theresa, trotzdem ist sie genervt und gelangweilt. „Ich saß erst mal eine Woche da und wusste nicht, was ich machen sollte.“ Um ein bisschen Geld zu verdienen, hilft sie jetzt im Altenheim aus. „Klar, ich hätte lieber Bestellungen für ein Restaurant oder die Apotheke ausgeliefert, aber ich weiß, dass das Altenheim Leute bracht, damit da eben noch alles funktioniert. Dann mach ich das eben.“ Angst vor Corona hat sie nicht, irgendwie ginge das schon mit den Abstandsregeln. Essen anreichen, aufräumen, Senior*innen beim Anziehen helfen, das ist Theresas 450-Euro-Job.
Gedanken machen sich beide junge Frauen ums Studium. Lea will Marketing oder Publizistik studieren, Theresa Sport und Englisch auf Lehramt. Geht das überhaupt? Spätestens im Juli, wenn es an die Uni-Bewerbungen für das Wintersemester geht, sind sie alle – ob aus Rheinland-Pfalz, Thüringen oder Schleswig-Holstein – in der gleichen Situation.
Im Winter soll die Abiparty vielleicht nachgeholt werden
Abgesagt ist das Wintersemester noch nicht. Den Beginn hat die Kultusministerkonferenz auf den 1. November verschoben. Bewerbungsfristen werden folglich nach hinten verlegt.
Matthias Jarosch vom deutschen Hochschulverband meint, Einführungsveranstaltungen könnten online gestaltet werden. Die Hochschule seien gerade dabei, alles so gut es geht online umzusetzen. So hat die technische Universität Dortmund 200 Versuche digitalisiert, die sich Physik-Studierende anschauen können. Trotzdem: „Vieles wird nach dem Prinzip trial-and-error laufen“, sagt Jarosch.
20 Studierendenvertretungen fordern nun wegen der ungewissen Lage ein „Kann-Semester“. Die Idee der Petition von Studierenden der Hochschule München: Uni auf Basis von Freiwilligkeit. Studierende sollen so viel studieren, wie sie können, Lehrende so viele Kurse anbieten wie möglich. Student*innen sollen dann selbst entscheiden können, ob sie Ergebnisse annehmen oder im nächsten Semester neu geprüft werden wollen.
Das beruhigt Lea und Theresa nur kaum. Lea fragt sich, wie sie in Mainz, wo sie gerne hin möchte, überhaupt WGs besichtigen könnte. Theresa muss für ihr Sportstudium einen Eignungstest machen, für den sie kaum trainieren kann. Denn die Sporthallen sind ja zu. Erstmal aber werden die beiden weiter warten, im Altenheim arbeiten oder im Supermarkt, von einem Ungewissen ins Nächste schlittern und hoffen, dass etwas passiert. Dass sie vielleicht irgendwann ganz normal studieren und vielleicht sogar im Winter die Abiparty nachholen können.