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Mauerfall: Immer mehr junge Menschen fragen Akten bei der Stasi-Unterlagenbehörde an
„Die Enkelgeneration stellt die Fragen, die sich die Älteren nicht zu stellen trauen“
Acht Jahre ist es her, da brach Paula den Kontakt zu ihrem Vater ab. Es wurde ihr zu viel, das Jammern über das Heute, das Schwärmen vom Früher in der DDR, in der alles angeblich besser war als jetzt. Ihr Vater war bei der Stasi gewesen, da ist sie sich sicher, und ihre Großmutter arbeitete als Aufseherin im Gefängnis für Oppositionelle. Paula sagt: „Meine ganze Familie war tiefrot.“ Wirklich miteinander darüber geredet haben sie nie. Heute ist Paula 32 Jahre alt, sie wohnt in Dresden, etwa hundert Kilometer weg von der alten Heimat in Brandenburg, in die sie nur noch wegen ihrer Mutter fährt. Heute sagt sie, die nur in diesem Text Paula heißen möchte: „Ich schäme mich dafür, dass ich den Kontakt zu meinem Vater damals abgebrochen habe.“ Ihr Vater, das habe sie über Ecken erfahren, sei mittlerweile dement und schwer krank, er könne kaum reden. 60 Jahre alt ist er erst, aber es sieht nicht gut aus für ihn.
Ausgerechnet mit dem nahenden Ende seines Lebens könnte eine neue Phase davon beginnen, sich mit ihrem Vater zu beschäftigen. Denn wenn Paula erfahren sollte, dass er verstorben ist, will sie einen sogenannten „Antrag zu nahen Angehörigen“ bei der Stasi-Unterlagenbehörde stellen. Sie sagt: „Ich will ihn durch die Akten noch einmal neu kennenlernen.“
Paula ist mit diesem Wunsch, aus den Stasi-Akten der Eltern mehr zu erfahren, nicht allein. Laut der Behörde haben 4400 Menschen im Jahr 2017 die Stasiakten von nahen Angehörigen angefordert. 2018 waren es 4500. Und wenn man die Zahlen, die für dieses Jahr bisher bekannt sind, hochrechnet, könnten bis Ende 2019 mehr als 5000 dieser Anträge bei der Stasi-Unterlagenbehörde eingegangen sein. Es wären so viele wie noch nie.
Anders als für die Bespitzelten geht es für die Enkel nicht mehr nur das eigene Leben
Erst seit 2012 ist es durch eine Gesetzesänderung ohne enormen Aufwand möglich, die Akten naher Angehöriger einzusehen. Das Sichten und Sortieren dauert Monate, manchmal bis zu anderthalb Jahre. Dafür ist das Online-Formular, mit dem man den Antrag stellt, schnell ausgefüllt.
Aber warum interessieren sich die Jüngeren ausgerechnet für das, was sie nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen?
„Die Enkelgeneration stellt jetzt die Fragen, die sich die Älteren nicht zu stellen trauen“, sagt Roland Jahn, der seit 2011 Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen ist. Zwar erfasst die Stasi-Unterlagenbehörde nicht explizit, ob die Antragsteller Söhne, Enkelinnen oder Ehepartner sind. Auch das Alter wird nicht ermittelt. Dennoch merkt Jahn, dass sich etwas verändert hat. Von seinen Mitarbeitern höre er immer wieder, dass es zunehmend Jüngere sind, die das Recht in Anspruch nehmen.
Es scheint so, als werde nun das Interesse einer Generation von Nachgeborenen geweckt, die ganz neue Motivationen hat. Anders als für die Bespitzelten, geht es für die Enkel nicht mehr nur um das eigene Leben, sondern um die Geschichte der Angehörigen. „Die Enkelgeneration ist unbefangener“, sagt Roland Jahn. Und das hat mitunter auch eine indirekte Wirkung: „Die Ermunterung der Enkelgeneration animiert auch die Eltern und Großeltern zur Ansicht“, sagt Jahn. „Ältere Menschen kommen zu uns, weil sie im Dialog mit den Enkeln dazu motiviert wurden.“
Im neuen System fand er sich einfach nicht zurecht
Paula war gerade zwei Jahre alt, als im Jahr 1990 die Stasi-Behörden von den Bürgerrechtlern gestürmt wurden und die 40 Jahre währende Überwachung zu Ende ging. Eigentlich könnte die Stasi Nachwendekindern wie ihr einigermaßen egal sein – waren sie doch weder Opfer noch Täter, weder Spitzel noch Bespitzelte. Und dennoch ist die Stasi auch heute nicht egal.
Nach der Wende wurde Paulas Vater arbeitslos, er trat in die PDS ein, die Nachfolgepartei der SED. Die Partei wurde zu so etwas wie seiner einzigen Konstante, die er aus der DDR kannte. Im neuen System fand er sich einfach nicht zurecht. Rund um die Nuller-Jahre, erzählt Paula, sei ihr Vater sogar obdachlos gewesen. Sie selbst zog als junge Erwachsene nach Berlin und später nach Dresden. Vater und Tochter verloren den Zugang zueinander. „Ich habe wenig von ihm mitbekommen“, sagt sie. „Und das, was ich wissen will, das kann man nicht googeln.“ Die Stasi-Unterlagen, sie sind eine bisher häufig nicht angezapfte Wissensquelle.
Roland Jahn ist Journalist und Bürgerrechtler. Seit 2011 wacht er über die Stasi-Unterlagen.
Noch immer machen den überwiegenden Teil der Anträge die persönlichen Anträge aus, von Menschen, die in der DDR gelebt haben, und von der Stasi betroffen waren – als Spitzel oder als Bespitzelte. 1992, im Jahr der Gründung der Stasiunterlagen-Behörde, stellten mehr als eine halbe Million Menschen einen Antrag auf Einsicht, ein Rekordwert, der sich nicht mehr wiederholte. Im Jahr 2011 gingen noch 80 000 Anträge bei der Behörde ein, 2018 waren es nur noch 45 000. Die Zahlen werden weiter zurückgehen, so viel ist sicher. Vermutlich weil die einen ihre Anträge schon gestellt haben. Und weil sich die anderen längst dazu entschieden haben, es in diesem Leben niemals zu tun. Aus Angst vor Enttäuschung über Menschen, die ihnen nahestanden. Oder weil sie sich versöhnt haben mit der Vergangenheit.
Für manche, die rund um 1990 geboren sind, fängt die Auseinandersetzung jetzt erst an. Nun, da die Großeltern und Eltern nicht mehr leben und nicht mehr selbst suchen wollen oder können, nehmen die Jüngeren die Sache selbst in die Hand. Ihre Gründe sind so vielfältig, wie die Rollen ihrer Eltern und Großeltern in der DDR waren.
Zu ihnen gehört auch Martin, 37, er wohnt in einer Kleinstadt in Thüringen. Sein Vater ist vor zehn Jahren gestorben, nach kurzer, schwerer Krankheit. „Er hat sich nie aufgerafft, seine Akte zu holen, der Behördenkram war ihm zu viel“, sagt er. „Aber ich wollte wissen, wer ihn bespitzelt hat und wer ihm gegenüber illoyal war.“ Schon als er selbst noch Jugendlicher war, habe sein Vater ihm davon erzählt, wer im Dorf alles für die Stasi gearbeitet haben soll. Also beantragte Martin die Akte seines Vaters. Monate später erhielt er die Antwort: In dem Schreiben hieß es, man habe keine Unterlagen über ihn gefunden. Dennoch ermutigte man ihn bei der Behörde, es in ein paar Jahren wieder zu versuchen. Noch immer würden Unterlagen rekonstruiert, vielleicht finde man eines Tages etwas über ihn. „Ich werde es wieder versuchen“, sagt Martin heute.
Die nächste Phase der Entwicklung, wie man mit der Arbeit der Stasi umgeht
Erst die Unbefangenheit des jungen Alters wie bei Martin und Paula ermöglicht es offenbar, sich ohne Zurückhaltung für die Überwacher der DDR zu interessieren, von denen man selbst nie überwacht wurde. Die Taten der Stasi mögen aufgearbeitet sein, von Politikern und Historikern, in Plenarsälen, in Gerichten und auf Podiumsdiskussionen. Im engsten Kreis der Familie aber tänzelte man oftmals lieber um das Thema herum, vielleicht auch weil die Eltern und Großeltern dachten: Als ob sich die Jüngeren dafür noch interessieren.
Die Stasi-Unterlagenbehörde als Quelle der eigenen Familienforschung – das mag auch befremdlich klingen. Nach Übergriffigkeit. Nach Missbrauch sensibler Akten, die einst für einen üblen Zweck bestimmt waren. Aber vielleicht ist es 30 Jahre nach dem Ende der DDR gewissermaßen die nächste Phase der Entwicklung, wie man mit der Arbeit der Stasi umgeht. Nach dem Fall der Mauer war es der Ort, zu dem Hunderttausende DDR-Bürger gingen, um zu erfahren, von wem sie verraten wurden, warum sie ihren Studienplatz nicht bekamen, warum sich die Nachbarin immer so komisch verhielt. Nun geht es weiter.
„Es ist eine Gratwanderung“, sagt Roland Jahn dazu. „Wir sind eher restriktiv und schauen, ob die Anfrage tatsächlich der Aufarbeitung der Familiengeschichte dient. Wir wahren die Rechte Dritter und anonymisierten deren Informationen, wie es das Stasi-Unterlagen-Gesetz vorschreibt.“ Außerdem gibt es weitere Schutzmechanismen: Möglich sei zum Beispiel, dass die betroffene Person zu Lebzeiten einen „Sperr-Vermerk“ in ihrer Akte eintragen lässt – jedenfalls dann, wenn sie nicht für die Stasi gearbeitet hat. Ehepartner, Enkelinnen und Söhne hätten dann vorerst kein Anrecht auf einen Einblick in die Akte. Eine weitere Besonderheit ist, dass nur Informationen an Dritte, als Nachfahren der Person, weitergegeben werden, die der Aufklärung der Familiengeschichte im Kontext der DDR dienen. „Es sollen damit keine Erbschaftstreitereien geklärt werden“, sagt Jahn.
Eine, die keine Erbschaftsstreitigkeiten klären, sondern einfach nur mehr wissen will, ist Samantha, 30 Jahre alt. Sie wohnt in Erfurt und sagt: „Als wir die DDR im Geschichtsunterricht behandelten, fand ich es krass, dass die Menschen damals zwei Gesichter hatten.“ Das Gesicht des normalen Bürgers und das Gesicht des Spitzels. Sie, die damals 14 oder 15 Jahre alt war, habe daraufhin ihren Vater gefragt. Ob er denn seine Akte nicht sehen will. Immerhin kannte sie die Geschichte von ihm und ihrem Onkel; beide hatten zu DDR-Zeiten vorübergehend als Köche in Bulgarien gearbeitet – und dort auch mit Westdeutschen Zeit verbracht. Deshalb, so die Vermutung, habe man sie bespitzelt. Aber als Samantha ihn fragte, sagte ihr Vater: Nein. Er wisse ja eh, was drin steht in der Akte. Ihr Vater schien sich damit abgefunden zu haben, keine präzisen Antworten mehr zu erhalten. Samantha tat es nicht. Nun, rund zehn Jahre später, denkt sie wieder viel über die DDR nach. Wie sie selbst von einem Staat beeinflusst wurde, in dem sie nie gelebt hat. Sie will ihren Vater erneut darum bitten, es zu tun.
Dieser Text wurde zum ersten Mal am 8. November 2019 veröffentlicht und am 9. November 2020 noch einmal aktualisiert.