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Westen: Leben auf Abruf

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Tobias ist ein 18-jähriger Schlacks mit kurzen braunen Haaren, Jeans und weißen Tennisschuhen. Er geht schnell, um drei nach sieben fährt sein Bus und der nächste kommt erst in einer Stunde. Wenn er ihn verpasst, wird das Kino nicht nur für ihn ausfallen, sondern für alle. Er macht das Kino nämlich selbst. Tobias ist genervt, vom Hetzen nach den Bussen, vom Warten, wenn er sie verpasst, doch das ist nicht das Einzige. "Ein Jahr und einen Monat", rechnet er, "bleibe ich noch, bis zum Abi, und dann bin ich weg." Tobias will nach Paris, Berlin oder wenigstens nach Freiburg. Auf jeden Fall in einen Ort, der eine Bundesligamannschaft hat oder eine Oper. Tobias lebt auf Abruf. Lossburg ist ein Dorf im Schwarzwald mit 6800 Einwohnern. Der Fußballclub spielt in der Kreisliga B. Es gibt eine Schule, ein Freibad und keine Arbeitslosigkeit. Tobias sagt, ein Leben in Lossburg sei für ihn wie ein Leben in einem gut gepolsterten Sarg." Xhafer würde das nie so sagen. Als Kind hat er mit Tobias auf der Straße Fußball gespielt. Dann zog er ein paar Straßen weiter, und heute leben beide nicht mehr in derselben Welt. Am Samstagabend sitzt Xhafer im Schneidersitz im Gras neben dem kleinen Sportplatz. Er rupft Grashalme, seine Freunde rundum rauchen. Gerade haben sie Fußball gespielt wie fast jeden Nachmittag. Xhafer ist 16 - ein kleiner, drahtiger Bursche, der sehr schnell über das Spielfeld wuselt und dabei nie aufhört seinen Mitspielern Anweisungen zuzurufen. Wenn Xhafer sich selbst beschreibt, dann sagt er zuerst, dass er Fußballer ist, dann, dass er Lossburger ist und wenn man immer weiter fragt, erzählt er irgendwann noch, dass er Kosovo-Albaner ist. In Moped-Entfernung Seit er zwei Jahre alt ist, wohnt er hier. Alle seine Freunde sind Deutsche, außer seiner Familie wohnen hier kaum Ausländer. Wenn man zu ihm sagt, er sei ein echter Schwabe, dann freut er sich, denn Xhafer will dazugehören. Und deshalb will er am liebsten zu Arburg. "Wer da oben hinkommt, hat es geschafft", sagt er und wirft die Grashalme, die er gerade ausgerissen hat, in Richtung eines riesigen braunen Gebäudes, das auf einem Hügel über Lossburg thront. Die Arburg ist kein mittelalterliches Gemäuer, sondern eine moderne Fabrik. "Weltmarktführer in Sachen Spritzgießmaschinen", sagt Xhafer. Zwischen sanften Hügeln und blühenden Obstbäumen arbeiten dort 1600 Menschen. Ein riesiges Werk für so einen kleinen Ort. Im Sommer macht Xhafer seinen Hauptschulabschluss, gerade sucht er eine Lehrstelle. Wenn er den Test bei Arburg nicht besteht, will er wenigstens "in Moped-Entfernung" von Lossburg bleiben. Wegziehen kommt nicht in Frage. "Nie", sagt er.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Fotos: Benja Weller Wer im Einzugsgebiet einer Großstadt aufwächst kann Kompromisse machen zwischen Stadt- und Landleben. Dörfer wie Lossburg, die weitab von allem sind, verlangen einem eine Entscheidung ab: Anpassen oder Abgrenzen. Bleiben oder Gehen. Heimat oder Rest der Welt. Die einen träumen schon mit 16 davon, ihren Zivildienst in Ausland zu machen. Sie verabschieden sich innerlich lange bevor sie wirklich wegziehen. Sie versuchen nicht mehr Dialekt zu sprechen und sagen Sätze wie: "Ich komme aus der Stuttgarter Gegend". Die anderen machen Zivildienst im Kreiskrankenhaus. Sie verlieben sich in die Gabi aus der DLRG oder den Tennisclub-Klaus. Sie suchen sich eine Lehrstelle vor Ort und wenn sie ein Studium in der nächsten Stadt machen, kommen sie jedes Wochenende zurück. Später bauen sie das Dachgeschoss des Elternhauses aus und leben dort, bis sie ein eigenes Haus zusammengespart haben. So ein Leben ist Xhafers Traum und Tobias' Albtraum, obwohl Tobias das so nie sagen würde, weil er Angst hätte, dass man ihn für arrogant hält. Er sagt nur: "Mein Ding wäre das nicht" und "jedem das seine". Xhafer hält Leute wie Tobias trotzdem für arrogant. Tobias kriegt den Bus gerade noch. 25 Minuten dauert die Fahrt bis Freudenstadt, wo er aufs Gymnasium geht. Wo es eine Diskothek gibt, das Martinique, ein paar Kneipen und im stillgelegten Tanzcafé des Kurhauses ein Programmkino: das Subiaco, wo Tobias ehrenamtlich Filme vorführt. Auf einem Holzpodest steht ein riesiger altertümlicher Projektor, an den Wänden hängen Filmplakate. Im Tanzsaal stehen ausrangierte Sofas, die die Subiaco-Macher im ganzen Landkreis zusammengesammelt haben. Subiaco ist eine Art Außenposten. "Die Leute, die hier mitmachen, haben fast alle irgendwann mal in der Stadt gewohnt," sagt Tobias. "Oder sie sind unter 19. Dann gehen sie nach dem Abi weg." Am liebsten zeigt Tobias Filme, in denen es um große Themen geht, Politthriller wie "Syriana" gefallen ihm oder Dokumentarfilme über Straßenkinder. Zu solchen Filmen kommt in Freudenstadt manchmal nur ein Gast. Heute sind es 15. Als Xhafer mit seinem Freund Felix am Abend das Vereinsheim betritt, wird dort gerade gesungen. Die erste Mannschaft der SpVgg Lossburg hat gerade 1:0 gegen Betzweiler-Wälde gewonnen. Jetzt sitzen die Spieler mit ihren Freundinnen im neugebauten Vereinsheim und grölen "Oh, wie ist das schön". Die Vorhänge sind aus lachsfarbenem Tüll, die Möbel aus Holz, das Licht aus Neonröhren. An der Bar sitzt Heiko. Unter seinem SpVgg-Trainingsanzug trägt er ein rosarotes Polohemd mit Krokodil, seine Haare sind sorgfältig gegelt. Er ist 25, Xhafers Jugendtrainer und nicht mehr nüchtern. Er erklärt, dass man als Trainer "Leitfigur" sein müsse, auch außerhalb des Spielfelds. Nach dem Abi hat Heiko ein Berufsakademie-Studium begonnen, bei Arburg, wo auch sonst. Sechs Monate im Jahr pendelt er mit seinem neuen Kleinwagen in die übernächste Stadt zur Fachhochschule, die restliche Zeit arbeitet er "im Betrieb". "Die zahlen schon während der Ausbildung gut", sagt Heiko, "und übernehmen einen garantiert." Treffpunkt Bushaltestelle Tobias' Kinovorstellung ist um halb zwölf aus. In Freudenstadt noch in eine Kneipe zu gehen, ist heute nicht mehr drin. Der letzte Bus fährt um zwölf. Er sei sowieso nicht der Ausgehtyp, sagt Tobias: "Noch nicht. Vielleicht kommt das, wenn ich studiere." Viel Zeit verbringt er im Internet. Er liest überregionale Zeitungen, das Feuilleton und alles über Fußball. Er unterhält sich aber lieber über die "Kommerzialisierung der WM" als über den Sieg der SpVgg Lossburg. Tobias fährt gerne Rennrad - am liebsten die Berge hoch. "Von da oben", sagt er bevor er in den Nachtbus steigt, "sieht Lossburg schon sehr hübsch aus." Als Xhafer und Felix gegen elf das Vereinsheim verlassen, sind die Straßen Lossburgs wie ausgestorben. Die Nacht ist klar und kalt. Sie schauen an der Bushaltestelle vorbei, wo man manchmal, wenn es warm ist, Leute treffen kann. Aber es ist niemand da. Wohin jetzt? Es gibt in Lossburg zwar einen Jugendtreff, aber der hat seit neuestem am Wochenende zu. Trotz der Arburg-Steuern muss die Gemeinde sparen. Zumindest seit das neue Rathaus fertig ist, ein schicker Bau mit beheizter Tiefgaragen-Auffahrt, direkt gegenüber der Bushaltestelle, wo die Gemeindeverwaltung ein Schild anbringen ließ: "Das Verweilen zum Zwecke des Alkoholgenusses ist verboten." "Geh' ma in d'Sonne", sagt Xhafer. Der Stammtisch der Sonne ist voll besetzt mit Männern jenseits der 40, die aussehen, als seien sie da festgewachsen. Die Lampen hängen tief und beleuchten den Zigarettenqualm. In einer Ecke sitzt die Dorfjugend. Xhafer begrüßt jeden mit Handschlag. "In die Sonne kann man einfach gehen", sagt Xhafer, "man trifft immer jemanden, den man kennt." Er mag das. Es läuft Volksmusik, Xhafer und seine Kumpels hören zwar eigentlich Hiphop, aber das Cola-Weizen kostet hier 30 Cent weniger als in den beiden anderen Kneipen Lossburgs, in denen ja auch keine andere Musik gespielt wird. Es gebe nur einen, der dafür sorgen könne, dass der Wirt was anderes auflegt, sagt Felix. Dieser eine sei "der kleine Prinz", der 15-jährige Enkelsohn des Arburgbesitzers. In die Sonne bringe der seine eigene Musik mit, auf dem Firmenparkplatz der Arburg flitze er mit dem Ferrari seines Vaters rum und im Martinique in Freudenstadt, der einzigen Disko weit und breit, kriege der immer die tollsten Frauen. "Und der posaunt doch tatsächlich überall rum, dass er von hier weggeht, sobald der mit der Schule fertig ist", sagt Felix. Xhafer hält das für Märchen. "Warum", fragt Xhafer, "sollte irgendjemand von hier wegwollen?"

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