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Wenn Papa tot ist: eine Sommer-Geschichte

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Anna legt ihren Arm um Papas Schulter. Er sieht abgemagert aus, ein Häufchen Elend, das regungslos am Bettrand sitzt und nur einen kleinen Kittel trägt. "Du bist so schön warm", sagt er. Anna kullert eine kleine Träne die Wange hinunter.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Fast jeden Tag ist sie miterweile hier. Fast jeden Tag seit März, seitdem Anna weiß, dass ihr Vater krank ist, schwerkrank. Das Wort 'unheilbar' hört sich nicht so gerne. Sie sagt es auch nie. Wegen einem Nierenversagen kam ihr Vater im Frühling ins Krankenhaus. "Er ging von sich aus nie zum Arzt!" erzählt sie und man merkt, wie die Wut ihre Stimme zittern lässt. Die Ärzte stellten Prostatakrebs fest, Metastasen in der Lunge. Für eine Chemotherapie ist es zu spät, sagen sie. Anna ist wütend. Auf die Ärzte, auf ihren Papa und auf sich. Ihr Vater weigert sich, lebensverlängernde Medikamente zu nehmen. Er nimmt keine Tabletten, sagt nichts, liegt nur da, in seinem weißen frischbezogenen Krankenhausbett. Manchmal steht er auf, um eine Zigarette zu rauchen. Anna bringt ihm ab und an eine Tafel Schokolade mit. Die Besuche sind bedrückend. Vor allem, wenn Papa nichts sagt. "Ich fahre nach der Arbeit noch den langen Weg hierher und dann sagt er einfach nichts." Einmal hat er sich sogar beschwert, als sie keine Schokolade mitgebracht hatte. Dann ist Anna in Tränen ausgebrochen. Ihr Blick wendet sich ab, sie sieht zu Boden, während sie erzählt. Der Sommer damals. Die Geschichte von Anna und ihrem Vater beginnt im Sommer 1988. Sie beginnt mit Annas Geburt. Anna wächst behütet auf, in einem kleinen Dorf nahe der Stadt. Ihre Mama arbeitet ganztags, dafür passt Papa immer auf sie auf. Er holt sie vom Kindergarten ab, sie essen Backfisch zusammen. Er bringt ihr im Sommer Fahrradfahren bei. Seine Geldschulden häufen sich, als er einen Fahrradladen kauft. "Mein Papa war ein richtiger Lebemann, er wollte immer mehr. Ein richtig bunter Hund, der viele Freunde hatte und überall bekannt war", erzählt Anna. Irgendwann fängt er an, immer mehr zu trinken und eines Tages ist er weg. Anna begreift damals nichts. Ein paar Jahre darauf macht er eine Entziehungskur, zieht in ein Wohnheim für Menschen mit Suchtproblemen. Er scheint sich wieder gefangen zu haben, doch Anna merkt schnell, dass er ein völlig anderer Mensch ist. Er vegetiert vor sich hin, läuft den ganzen Tag durch die Innenstadt, redet kaum noch ein Wort und zeigt keinerlei Gefühlsregung. Anna trifft ihn trotzdem regelmäßig, sie gehen essen und kaufen neue Kleidung für ihn. Er ist noch immer ein sehr wichtiger Teil ihres Lebens. Irgendwann ist Frühling. Anna ist mit ihrer Ausbildung fertig. Sie hat Verwandte in England, dort möchte sie hin. Um ihr Englisch zu verbessern, sagt sie. Sie träumt von Berlin, dort an einem Theater zu arbeiten. Von einer Altbauwohnung und lauen Spätsommernächten in der Hauptstadt. "Im Herbst bin ich weg!" sagt sie immer wieder und wirkt dabei sehr entschlossen. Doch dann ein Anruf von Mama: "Papa ist krank." Ein Satz, der alles umkrempeln wird. Ihre Pläne, ihr Leben, ihre Art von Leichtigkeit, die sie immer mit sich trug. Anna verbringt nun jeden Abend nach der Arbeit im Krankenhaus. Sitzt neben dem Bett ihres Vaters. Sie sieht fast so als, als würde sie warten. Warten, dass dieser Tag zu Ende geht. Sie endlich schlafen kann. Warten darauf, dass alles besser wird. Sie muss dorthin, jeden Tag. Manchmal möchte sie auch, aber vor allem muss sie. Anna muss ihren Vater besuchen, ihn sehen, ihn fragen, wie es ihm geht. Auch wenn die Antwort doch oft die selbe bleibt. Unzählige Diagnosen und der Geruch von Krankenhaus. Sie geht durch die Gänge, bemerkt, dass sie rennt. Sie fühlt sich alleine gelassen, wie noch nie ihrem Leben. Kein Arzt kann ihr wirklich Auskunft darüber geben, was mit ihrem Papa passieren wird. Anna schwimmt in einem Informationsüberfluss, in dem nichts wirklich relevant scheint. Dazu hat sie das Gefühl, dass die Arbeit ihr über den Kopf wächst. Am Wochenende geht sie auf Partys und trinkt das eine oder andere Bier mehr als sonst. Bloß nicht zu Hause sein, alleine zu Hause in der Küche sitzen. "Das einzige Geräusch ist das Summen des Kühlschranks und du denkst, dein Kopf explodiert." Am Montag beginnt die Woche von Neuem. Doch irgendwann sagt Anna "Stopp!". Sie nimmt sich fast zehn Tage Zeit. Kein einziger Besuch, kein Anruf, nur sie. Dieser Sommer Annas Vater wurde verlegt, in eine Klinik außerhalb der Stadt, die aussieht wie ein kleines Schloss. Er winkt von der Terrasse aus, im Innenhof erstreckt sich ein riesiger Rosengarten. Annas Blick streift über unzählige Felder, sie atmet tief ein und aus. "Mein erster Gedanke war: Hier kann die Seele wirklich zur Ruhe kommen, Papa vielleicht auch.", erzählt sie und zündet sich eine Zigarette an. Anna versucht jedes Wochenende hinzufahren, sie freut sich mittlerweile sogar auf die Besuche, sie sind nicht mehr so bedrückend, wie noch vor ein paar Wochen. Sie fährt mit einem guten Gefühl nach Hause, weil sie weiß, dass es ihm dort besser geht. Anna weiß auch, dass es sie auf Dauer kaputt gemacht hätte, ihr ganzen Leben nach ihrem kranken Vater zu richten: "Ich musste mir klar machen, dass ich das Kind bin und nicht umgekehrt." An manchen Tagen hofft sie, dass dieser Sommer schnell vorübergehen wird. Dass diese Sache mit ihrem Vater schnell vorübergehen wird. Im nächsten Moment hasst sie sich dafür und weiß doch eigentlich, dass sie noch gerne so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen will. "Berlin läuft nicht davon.", sagt sie tapfer. Wann geht es los? Das weiß sie nicht. Dann, wenn Papa tot ist.

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