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Osten: Jeden Tag ein Abschied
Über Monate hinweg war das all-inclusive-Begräbnis Lieblingsthema der Clique: Doro, die schon damals Floristin werden wollte, würde den Blumenschmuck machen, Denise, immer sehr auf ihr Äußeres bedacht, könnte sich in Leichenkosmetik einarbeiten, Nici würde sich um das Catering auf den Trauerfeiern kümmern und die beiden Jungs, Marco und David, wären die Totengräber. "Ist doch wahnsinnig praktisch für all die Verwandten, die im Westen arbeiten und nichts selbst organisieren können", findet David noch heute, aber der Plan ist längst gestorben.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Fotos: Benja Weller "War 'ne Spinnerei", sagt Doro und stochert mit einem Stock im Lagerfeuer, bis Funken in den Nachthimmel fliegen. Es ist ein warmer Abend im Frühsommer, die fünf sitzen auf Plastikstühlen im Garten von Marcos Eltern ums Feuer. Im Gartenteich schwimmt ein fetter Goldfisch, neben dem Teich steht eine Gips-Nixe und neben der Nixe ein Kasten Bier. Die Clique feiert heute Abend Abschied, zum vierten Mal in diesem Jahr. Zuerst ging der lange, dünne Marco weg - in die Krankenpflegerschule nach Greifswald. Später will er weiter nach Norwegen, da soll es Jobs geben. Denise lernt Friseurin in Stralsund und Nici macht eine Ausbildung zur Hotelfachfrau an der Küste. Übers Wochenende sind alle heimgekommen, um Abschied von David zu feiern. Der geht noch weiter weg als die anderen: In Willingen bei Kassel hat er eine Lehrstelle bei einem Bäcker bekommen - endlich, der Realschulabschluss liegt ein Jahr zurück. Er hatte 82 Bewerbungen geschrieben. Stern-Hagel-Voll Doro wirft den Stock ins Feuer und setzt sich auf Davids Schoß. "Wird einsam hier", sagt sie. Seit zweieinhalb Jahren sind sie ein Paar und jeden Tag zusammen. Doro hat lange, dunkelblonde Haare, ist zierlich und schüchtern, wenn sie mit Fremden spricht. Aber in dieser Runde redet sie pausenlos - sie kennen sich schon seit der Kinderkrippe. Bisher, sagt Doro, sei ihr in Ducherow nie langweilig gewesen. Jeden Nachmittag kam jemand vorbei und holte sie ab: um Volleyball zu spielen, am Moped rumzuschrauben oder einfach um gemeinsam abzuhängen, auf dem Parkplatz vor dem Plus. Jetzt ist nur noch sie übrig, weil sie die zehnte Klasse wiederholen musste. In ein paar Monaten wird Doro wahrscheinlich auch weggehen, zu einer Lehrstelle, vielleicht irgendwo im Westen, hoffentlich näher bei David. Vorstellen kann sie sich dieses Leben aber nicht: Doro war noch nie alleine von Zuhause weg und mit ihren Eltern nicht weiter als Berlin. Das sind zwei Zugstunden, aber hin und zurück 49,20 Euro - seit ihr Vater arbeitslos ist eine Menge Geld. "Und nach Kassel ist es noch teurer", sagt Doro dicht an Davids Ohr.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Der mag die trübe Stimmung nicht. Natürlich ist ihm mulmig zumute, aber er will sich auch freuen, auf seine Lehrstelle und darauf, endlich auf eigenen Beinen zu stehen. Er schiebt Doro vom Schoß, verteilt eine Rund Bier und startet seinen Lieblingstrinkspruch: "Wie kommen wir zusammen?", ruft er. "Sternförmig", antworten die anderen im Chor. "Wie gehen wir auseinander?" "Sternhagelvoll!" Sie trinken und dann reden sie lieber davon, wie David letztes Jahr "total dicht" in den Gartenteich gefallen ist. Am nächsten Morgen scheint die Sonne. Ducherow sieht nicht aus, wie man sich einen sterbenden Ort vorstellt. Die meisten Einfamilienhäuser sind in Pastelltönen getüncht und die Rasen in den Gärten wirken, als ob sie zweimal pro Woche gemäht würden. Um halb zwölf duftet das Dorf nach Sonntagsbraten. 2200 Menschen leben hier, vor 10 Jahren waren es noch 2500. Vor allem die Jungen ziehen weg. Als Doro und ihre Freunde in die Schule kamen, waren sie 80 Erstklässler, in diesem Jahr haben sie kaum eine Klasse voll gekriegt. Bald, da ist Doro sicher, "machen die die Schule dicht." Sie will sich bei Efe mit den anderen treffen. Aber "Efe's Döner Pizza Grill" ist geschlossen. Die Scheiben des Ladens sind eingeschlagen, im Inneren sieht man umgeworfene Tische und eine zertrümmerte Sonnenbank. Doro glaubt, dass es Faschos waren. Schließlich sei Efe fast der einzige Ausländer in Ducherow. Denise kommt dazu. Sie weiß schon mehr: Der Laden sei nicht von Nazis demoliert worden, "sondern von einem Typ, der glaubt, dass der Döner-Efe seine Freundin angegraben hat." Erst vor einem Jahr hat Efe seinen Laden eröffnet. Kaffee gibt es hier für einen Euro, was zu essen ab zwei und im Herbst hat Efe dann noch im Hinterzimmer eine Sonnenbank aufgestellt. Seither steht auf der Tür "Döner Pizza Grill Solarium". Das machen die meisten Läden in Ducherow so, denn von einer Sache kann man nicht leben. Der Blumenladen nebenan ist zugleich Postamt. Treffpunkt Supermarkt Doro ärgert sich: Darüber, dass Leute einfach etwas kaputt schlagen, darüber, dass es in Ducherow wieder keine Kneipe gibt, in der man abhängen kann und über die Jungs, die immer noch nicht da sind. David ist nur noch zwei Tage in Ducherow und geht nicht mal ans Handy. Sie schreibt eine SMS: "Wo bleibt ihr? Bei Efe alles kaputt, sind am Plus." Auf dem Parkplatz vor dem einzigen Supermarkt im Ort sitzen ein paar Jungs auf dem Boden. Sie sind jünger als Doro und Denise, deshalb grüßen die Mädels nur kurz und setzen sich abseits. Einer von ihnen trägt ein Lonsdale-Shirt, Erkennungszeichen der Rechten, ein anderer hat einen Irokesen-Schnitt. Sie trinken Cola und reden über die Schule. "Hier hängen Nazis und Punks oft zusammen ab", erklärt Doro. "Man kann sich doch nicht das halbe Dorf zum Feind machen. Wir sind so wenige." Hannes, der Typ mit dem Iro, kann das bestätigen. Wenn man ihn fragt, was der Unterschied zwischen Faschos und Punks sei, sagt er zuerst "die Haare", dann "die Musik". Und Politik? Die sei ihm egal, sagt Hannes. Er sei zwar "eher für Ausländer", aber wenn einer einem Deutschen den Arbeitsplatz wegnähme, dann fände er das auch doof. Aber das sei in Ducherow nicht wichtig: "Gibt ja eh keine Ausländer und keine Arbeitsplätze", sagt er. Doros Handy spielt einen Techno-Sound. Es ist Nici. Am Morgen nach der Feier musste sie zurück an die Küste, zu ihrer Lehrstelle. Jetzt sitzt sie alleine im Zimmer und sehnt sich nach dem Plusparkplatz. Unter der Woche, wenn alle über das Land verteilt sind, hängen sie an ihren Handys wie an Rettungsleinen: per SMS verschicken sie kleine Portionen Vertrautheit. Sie telefonieren, um einander zu versichern, dass es ein Leben gibt außerhalb von Lehrbetrieb und Bafög-finanzierter Ein-Raum-Wohnung. Doro erzählt Nici von Efe und beginnt dann auf "die Jungs" zu schimpfen, da biegt ein schwarzer Polo mit quietschenden Reifen auf den sonntäglich leeren Parkplatz. David sitzt auf dem Beifahrersitz, Marco am Steuer, er trägt eine grüne Jäger-Jacke und kommt wirklich von der Jagd. Einen Rehbock hat Marco geschossen. Seit er 18 ist, hat er einen Jagdschein, genau wie sein Vater und sein Großvater. Ein großes Durcheinandergerede beginnt: David erklärt Doro, dass er nur so spät sei, weil er Marco helfen musste, den Rehbock zum Wildhändler zu schaffen und wie soll man da bitte ans Telefon gehen, wenn man gerade so ein Vieh schleppt? Marco verkündet, dass er sich das Geweih als Trophäe präparieren lassen will. Denise nörgelt, dass sie endlich wo hinfahren will, wo es was zu essen gibt. David sagt zu Marco, dass er sich das Geweih nicht im Pflegerwohnheim an die Wand hängen könne, da würde doch jeder denken, er sei ein Brutalo. Marco meint, die Städter hätten keine Ahnung. Es sei wichtig für den Wildbestand, ab und zu einen Bock zu schießen. Doro sagt gar nichts. Sie sieht traurig aus. Heute Abend fährt Marco weg, morgen früh Denise, übermorgen David und irgendwann sie selbst. Sternförmig, jeder in eine andere Richtung.